Zwischen Schmerz und Sucht |
11.08.2003 00:00 Uhr |
Wie behandelt man chronische Schmerzen bei abhängigen Patienten? Noch existieren dafür keine wissenschaftlich fundierten Konzepte, sondern nur individuelle Erfahrungen, die auf dem Interdisziplinären Kongress für Suchtmedizin in München diskutiert wurden.
„Unbehandelter Schmerz hat mehr Nebenwirkungen als ein definiertes Medikament mit definierten Nebenwirkungen“, warnte Dr. Dominik Irnich von der Interdisziplinären Schmerzambulanz der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Nicht behandelte Schmerzen rufen katabole Stoffwechselvorgängen und Wundheilungsstörungen hervor, so dass sie fatale Folgen für die Genesung haben können. Irnich plädierte für eine postoperative On-demand-Analgetikatherapie, wobei Durchbruchschmerzen auf jeden Fall vermieden werden müssen.
Der Anästhesist kritisierte, dass Schmerztherapien bisher kaum evaluiert sind und selbst für Medikamente keine Langzeitstudien vorliegen. Dabei schwanke das interindividuelle Ansprechen auf Analgetika um den Faktor 30. „Wenn man jedem Patienten dreimal täglich eine Schmerztablette gibt, liegt man bei 80 Prozent falsch,“ erklärte Irnich.
Schmerz interdisziplinär behandeln
Schmerz ist laut Irnich eine Erkrankung des ganzen Menschen, wird subjektiv erlebt und darf vom Therapeuten nicht infrage gestellt werden. Es sei ein Bewusstseinszustand, der biologische, psychologische und soziale Aspekte umfasse. Dabei unterscheidet sich chronischer Schmerz deutlich von akutem Schmerz, der vor allem eine Warnfunktion ausübt und überlebensnotwendig ist.
Jede Schmerztherapie stützt sich auf die regelmäßige Applikation der Analgetika, begleitet von einer konsequenten Schmerzmessung und deren Dokumentation. Neben peripher wirksamen Analgetika werden entsprechend dem WHO-Schema Opioide eingesetzt. Bei Patienten mit chronischen Schmerzen rät Irnich zu retardierten Formen, flüssige Formulierungen wie Tramadol- oder Tilidin-Tropfen empfiehlt er höchstens zur Add-on-Therapie. Ergänzend können Antidepressiva wie Amitryptilin sowie Antiepileptika wie Gabapentin verordnet werden.
Darüber hinaus sollte die medikamentöse Behandlung chronischer Schmerzen in eine Physio- sowie Psychotherapie eingebettet sein. Allerdings fehlt es überall in Deutschland an Schmerzpsychologen, so dass Patienten lange Wartezeiten in Kauf nehmen müssen.
Schmerz und Sucht
Mindestens 10 Prozent aller Schmerzpatienten leiden zusätzlich an einer Suchterkrankung; davon sind drei Viertel von Benzodiazepinen abhängig. Der behandelnde Arzt muss daher einen Weg finden, den chronischen Schmerz in den Griff zu bekommen und gleichzeitig die Abhängigkeit zu behandeln.
Allerdings kann das Symptom „Schmerz“ einem Suchtkranken auch den Zugang zu Opioiden bieten. Wird die Medikation nicht fachgerecht angewandt oder das Opioid durch verschiedene Ärzte verordnet, kann die Sucht weiter aufrecht erhalten werden. Bisher gibt es keine Daten zum Opioideinsatz bei chronischen Schmerzpatienten mit einer Suchterkrankung.
Entscheidend ist, ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten aufzubauen. Zusätzlich könne ein Vertrag zwischen beiden den Stellenwert der Behandlung unterstreichen, berichtete der Anästhesist aus seiner Erfahrung in der Münchner Schmerzambulanz. Der jeweilige Arzt erklärt schriftlich, dass er sich um den Patienten kümmern und alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen wird, der Patient dokumentiert seine Bereitschaft zur Mitarbeit. Ein regelmäßiges Drogen-Screening sei manchmal sinnvoll, müsse jedoch besprochen werden.
Ist ein Patient von einem Opioid abhängig geworden, werde zunächst die Substanz gewechselt. Jedes Opioid hat ein unterschiedliches Wirkprofil, so dass der Kreislauf der Abhängigkeit erst mal durchbrochen wird. Ist die Umstellung geglückt, müsse als nächstes die Dosis reduziert und andere Maßnahmen wie eine Nervenblockade erwogen werden.
Relativ häufig sind Schmerzpatienten zusätzlich von Alkohol abhängig. Ein solcher Patient muss nach Meinung der Schmerzexperten als erstes entgiftet werden. Chronischer Schmerz wird bei Alkoholkranken meist mit Antidepressiva behandelt, ergänzt durch nicht-medikamentöse Maßnahmen wie einer Verhaltenstherapie.
Akupunktur in der Suchtbehandlung
Einen neuen Ansatz bei der schwierigen Behandlung suchtkranker Schmerzpatienten bietet das Münchener naturheilkundliche Schmerzintensivprogramm, das vor zwei Jahren entwickelt wurde und klassische westliche Naturheilverfahren ebenso anwendet wie traditionelle chinesische Medizin (TCM).
Sehr gute Erfahrungen liegen dabei mit der Akupunktur vor, die meist
gut analgetisch wirke. Akupunktur setzt endogene Opiate frei und aktiviert
Schmerzhemmsysteme, erläuterte Irnich. Allerdings lasse die Wirkung mit
der Zeit nach. Da der Patient regelmäßig zu seinem Arzt kommt, biete eine
Akupunktur-Behandlung zusätzlich die Chance für eingehende Gespräche. Der
Münchner Anästhesist stellte während des Kongresses einen Patienten mit
schweren Schmerzzuständen vor, der ehemals suchtkrank war. Bei ihm hatte
sich eine tägliche Akupunktur bewährt, die im Wechsel von zwei
verschiedenen Konzepten angewandt wurde. Zusätzlich erhielt der Patient
eine 1-prozentige Opiumtinktur, die er als „Escape-Maßnahme“ bei Bedarf
selbst einsetzen konnte.
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