| Theo Dingermann |
| 05.12.2025 10:30 Uhr |
Gesundheits-Influencer erreichen mitunter ein Millionen-Publikum. Verlässlich und evidenzbasiert sind ihre Tipps häufig nicht. / © Getty Images/shurkin_son
Erste kürzlich berichtete die Pharmazeutische Zeitung über die Bedeutung sozialer Medien als Informationsquellen zu Gesundheit und Ernährung, die auch Firmen nutzen, die Nahrungsergänzungsmittel anbieten. Jetzt veröffentlichte das Wissenschaftsjournal »BMJ« eine Arbeit einer Gruppe um Professor Dr. Raffael Heiss vom Center for Social and Health Innovation am MCI Management Center in Innsbruck, Österreich, in der die Forschenden die wachsende Bedeutung von Social-Media-Influencern in gesundheitsbezogenen Informationsräumen untersucht haben.
Diese Analyse unterstreicht, wie Influencer mit und ohne medizinische Qualifikation zunehmend zu Meinungsführern für Gesundheitsthemen werden und dabei ein hochgradig kommerzialisiertes und algorithmengetriebenes Informationsökosystem prägen. Die Beiträge erreichen Millionen von Nutzern, insbesondere junge Erwachsene, und variieren stark hinsichtlich fachlicher Qualität und Evidenzbasis.
Die Forschenden identifizieren vier zentrale Bias-Quellen, durch die Fehlinformationen begünstigt werden:
Diese Verzerrungen werden verstärkt durch parasoziale Bindungen und wahrgenommene Authentizität, was die Empfehlungen der Influencer besonders wirkmächtig macht. Gleichzeitig werden systemische Risiken sichtbar, angefangen bei Überdiagnosen und Selbstmedikation über finanzielle Schäden bis zu beeinträchtigter Inanspruchnahme evidenzbasierter Behandlungsangebote.
Regulierungslücken, internationale Plattformstrukturen sowie mangelnde Transparenz der Algorithmen erschweren jede Form der Aufsicht erheblich. Die Forschenden plädieren daher für ein abgestuftes Maßnahmenbündel: striktere staatliche Regulierung, klarere Werberichtlinien, faktengestützte Gegenkommunikation und die Förderung digitaler sowie gesundheitlicher Literalität. Keine Einzelmaßnahme könne den Herausforderungen gerecht werden; notwendig sei ein koordiniertes Vorgehen aller beteiligten Akteure, so die Forschenden.
In einem zu dem wissenschaftlichen Beitrag erschienenen »Feature« erweitert Stephanie Santos Paulo, Redakteurin beim BMJ, den Blick auf das Problem, indem sie die Perspektive sogenannter Patienten-Influencer einbezieht, die nicht primär Expertise, sondern ihre Krankenerfahrungen teilen.
Die Communitys dieser Influencer entstehen vor dem Hintergrund systemischer Unterversorgung, medizinischer Wartezeiten und erlebter »Medical Gaslighting«-Erfahrungen, in denen Ärzte oder anderes medizinisches Personal Beschwerden von Patienten herunterspielen, falsch deuten oder gar als übertrieben beziehungsweise eingebildet charakterisieren. Viele Betroffene berichten, dass Peer-Communities sie im Rahmen der Verteidigung ihrer Ansichten stärken, dass sich Symptome besser dokumentieren lassen und sogar zu Diagnosen geführt haben, die im Gesundheitssystem zuvor übersehen wurden.
Gleichzeitig zeigt das Feature die ambivalente Natur dieser Entwicklungen. Nicht selten profitieren die Patienten von kollektiver Erfahrung. Sie geraten andererseits aber auch in Kontakt mit unbewiesenen Behandlungsversprechen, vermeintlichen »Heilmitteln«, pseudowissenschaftlichen Erklärungen oder kommerziellen Produktplatzierungen.
Besonders problematisch werden bezahlte Partnerschaften zwischen Patienten-Influencern und Unternehmen gesehen, die rezeptpflichtige Medikamente oder fragwürdige Diagnostikprodukte bewerben. Während einige Influencer hohe Transparenzstandards praktizieren, ist der Markt insgesamt unübersichtlich, und regulatorische Eingriffe wie die Entscheidung der ASA (Advertising Standards Authority, UK) gegen das Unternehmen Saffpro, das sich nach eigener Darstellung der Herstellung »gesunder und funktioneller Produkte auf der Grundlage klinischer Studien und Untersuchungen« verschrieben hat, zeigen nur begrenzte Wirkung. Saffpro wurde von der ASA im Juni 2025 wegen irreführender und verantwortungsloser Gesundheitswerbung für seine Safran-haltigen Nahrungsergänzungsmittel gerügt.
Die Autorin beschreibt zudem ein wachsendes Spannungsfeld zwischen Ärzteschaft und Patienten-Communities: Kliniker stehen der Social-Media-Welt skeptisch gegenüber, während viele Patienten ihre Erfahrungen mit mangelnder Empathie oder Anerkennung im Gesundheitswesen verbinden. Einige Influencer versuchen aktiv, diese Lücke zu überbrücken, etwa durch Bildungsarbeit mit Medizinstudierenden.
Schließlich reflektieren Dr. Tina D. Purnat von der Harvard TH Chan School of Public Health in Boston und Professor Dr. David Scales von der Weill Cornell Medicine in New York in einem Editorial zu der Reihe aus gesundheits- und informationssoziologischer Perspektive, dass das Problem weit über einzelne Influencer hinausreiche.
Die Editorialisten stellen heraus, dass Gesundheitskommunikation heute in komplexen Informationsökosystemen stattfindet, die von Plattformarchitekturen, Algorithmik, kommerziellen Anreizen und digitalen Gemeinschaftspraktiken geprägt sind. Diese Umgebungen prägen Wahrnehmung, Vertrauensbildung und Entscheidungsverhalten ebenso wie die klinische Begegnung selbst.
Die Autoren des Editorials kritisieren, dass Fact-Checking oder regulatorische Maßnahmen allein kaum nachhaltige Wirkung entfalten, solange die zugrunde liegenden Logiken der Plattformen unverändert bleiben. Patienten und Ärzte begegnen sich daher häufig in voneinander getrennten Wissenswelten, was die gemeinsame Entscheidungsfindung erschwert.
Das Editorial fordert ein erweitertes Konzept von »Influence Literacy«, das sowohl digitale als auch soziale Kontextkompetenzen einschließt. Zudem werden klinische Handlungsempfehlungen formuliert. Danach sollen Ärzte aktiv nach Online-Informationsquellen ihrer Patientinnen fragen, gemeinsame Bewertung digitaler Inhalte anbieten und die psychologische Dynamik von Communities berücksichtigen.
Abschließend plädieren die Editorialisten für innovative Ansätze wie geprüfte digitale Peer-Foren, digitale Community-Health-Worker sowie eine stärkere Anerkennung des Informationsumfeldes als »soziale Determinante von Gesundheit«.