| Theo Dingermann |
| 30.09.2021 09:00 Uhr |
Acht von zehn Betroffenen mit einer seltenen Erkrankung erhalten die Diagnose erst, wenn sie erwachsen sind – dabei sind 80 Prozent der Erkrankungen genetisch determiniert und verursachen bereits vor dem 18. Geburtstag Probleme. / Foto: Getty Images/LeManna
Spricht man von seltenen Erkrankungen, bedeutet dies nicht zwingend, dass man es mit kleinen Zahlen zu tun hat. Zwar wird eine Krankheit dann als selten eingestuft, wenn weniger als fünf Patienten pro 10.000 Einwohner von der Krankheit betroffen sind. Aber unter dem Aspekt, dass bisher von bis zu 8000 seltenen Erkrankungen ausgegangen wird, ergeben sich große Zahlen an Patienten. Alleine in Deutschland sind vier Millionen Menschen betroffen.
Unter dem Motto »Seltene Erkrankungen im Spannungsfeld zwischen Rahmenbedingungen und therapeutischen Herausforderungen« diskutierte ein Expertengremium aus Marktforschern, Vertreter von Pharmaunternehmen und Industrieverbänden, Grundlagenforschern, Klinikern und Patientenvertretern auf Einladung der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG) und des House of Pharma and Healthcare in Frankfurt am Main über die Herausforderungen einer Erfolgsstory, die an Grenzen zu drohen stößt.
Basierend auf den Vorgaben der Orphan-Drug-Verordnungen aller großen Industrieregionen, die zwischen 1983 und 2000 verabschiedet wurden, ist es gelungen, Arzneimittel für sehr kleine Patientenpopulationen so effektiv zu entwickeln, dass unter den derzeit pro Jahr neu zugelassenen Arzneimitteln etwa 40 Prozent als Orphan Drugs eingestuft werden. Diese Arzneimittel sind nicht nur außergewöhnlich teuer. Bemerkenswert ist auch, dass etwa zwei Drittel der Firmen, die Orphan Drugs in den Markt bringen, nur dieses eine Arzneimittel in ihrem Portfolio ausweisen.
Dies alles sind Gründe anzunehmen, dass es nach Meinung von Bertram Häussler, Leiter der IGES-Gruppe, mit der Förderung der Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen wohl nicht so weitergehen wird. Dass dies Konsequenzen nach sich ziehen wird, war unter den Experten Konsens. Denn die Herausforderungen bei der Entwicklung von Therapeutika für seltene Erkrankungen sind weiterhin enorm. Es fehlen »Blaupausen«, die verfügbare Literatur ist sehr überschaubar, meist kennt man nicht die Zielstrukturen, die für eine medikamentöse Therapie genutzt werden könnten, und es fehlt an relevanten Gewebeproben, mit deren Hilfe sich Hypothesen genieren oder verwerfen lassen könnten. Dies sind nur einige Aspekte, die das Problem verdeutlichen.
Freiräume für eine Verschlankung der Förderinstrumente für seltene Erkrankungen gibt es daher nach übereinstimmender Überzeugung unter den Experten nicht. Trotz der großen Fortschritte müssen 30 Prozent der Betroffenen nach wie vor mehr als fünf Jahre auf eine Diagnose warten. 40 Prozent der Fälle werden initial fehldiagnostiziert und mehr als 80 Prozent der Diagnosen erhalten die Patienten erst in einem Alter von über 18 Jahren, obwohl 80 Prozent der Erkrankungen genetisch determiniert sind.
Dabei profitieren heute die Spezialisten auf dem Gebiet bildgebender und molekulardiagnostischer Verfahren, von einer immer besseren Anbindung an IT-Strukturen und auch von der gesundheitspolitischen Unterstützung, wie Medizinprofessor Jürgen Schäfer, der Leiter des Zentrums für unerkannte & seltene Erkrankungen des Universitätsklinikums Marburg, ausführte. Allerdings beklagte er auf der anderen Seite die Probleme, die Fallpauschalen und das DRG-System verursachen, und die aus der enormen Arbeitsverdichtung und der wachsenden Spezialisierung der Fächer resultieren.
Besonders angewiesen auf Erfolge durch Forschung und Therapie sind Kinder, wie der Pädiatrieprofessor Christoph Klein, der Direktor des Dr. von Haunerschen Kinderspitals in München, ausführte. Dabei können sich seiner Ansicht nach die Patientinnen und Patienten in Deutschland glücklich schätzen, dass praktisch alle zugelassenen Orphan Drugs tatsächlich auch zugänglich sind. Dies sei in anderen Ländern ganz anders, wie mehrere Experten bestätigten.
Mit welchen Problemen vor allem Eltern von Kindern mit seltenen Erkrankungen konfrontiert sind, erläuterte Joachim Sproß, der Bundesgeschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke. Oft müssen diese extrem schnell eine Entscheidung über Maßnahmen treffen, die sie meist gar nicht in allen Details bewerten können. Kritik übte Sproß an den Medien, die die Interventionsmöglichkeiten meist sehr verkürzt und in ihrer Aussage unpräzise darstellen, wodurch Betroffene noch mehr verunsichert würden.
Die beiden Moderatoren der Runde, Sabine Sydow vom vfa bio und Manfred Schubert-Zsilavecz vom House of Pharma kündigten an, dass im Nachgang zu diesem Expertentreffen ein Bericht erstellt werden wird, der die vielen unterschiedlich Aspekte dieses Expertengesprächs zusammenfasst, auch um Entscheidungsträger im Gesundheitssystem dafür zu sensibilisieren, nicht »ohne Not« ein Erfolgsmodell mit nach wie vor großen Herausforderungen zu gefährden.