Noch schlechter als sein Ruf |
Laura Rudolph |
13.08.2024 18:00 Uhr |
Im weltweiten Durchschnitt trinkt jeder Mensch 5,5 Liter Reinalkohol pro Jahr. Die Menschen in Deutschland konsumieren durchschnittlich jedoch mehr als das Doppelte. / Foto: Getty Images/Fabio Principe
In Europa wird mehr Alkohol konsumiert als irgendwo sonst auf der Welt. Deutschland zählt mit einem Durchschnitt von 12,2 Litern Reinalkohol pro Kopf und Jahr zu den Top-Ten-Konsumländern. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt regelmäßig vor den Folgen eines solchen Konsums.
Dass Alkohol Sucht, Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und viele weitere Krankheiten auslösen kann, ist hinlänglich bekannt. Jedes Jahr sterben schätzungsweise 2,6 Millionen Menschen an den Folgen problematischen Konsums. Während die gesundheitlichen Risiken mit zunehmender Alkoholmenge steigen, gibt es zudem keine Menge, die als unbedenklich gilt. Die Vorstellung vom gesunden Gläschen Wein ist ein Mythos, wie eine aktuelle Metaanalyse zeigt (siehe Kasten).
Frühere Studien haben darauf hingedeutet, dass moderater Alkoholkonsum im Vergleich zur Abstinenz gesundheitliche Vorteile bieten könnte. Das ist jedoch ein Trugschluss, der auf methodischen Mängeln der Studien beruht. Ein Team um Dr. Tim Stockwell von der University of Victoria in British Columbia, Kanada, hat 107 Studien zum Thema analysiert und festgestellt, dass in den Abstinenzgruppen überdurchschnittlich viele kranke und alte Personen waren. Es sei daher wenig überraschend, dass diese Gruppen nicht besser abgeschnitten hätten als die moderat Trinkenden, so die Forschenden. Sie schließen daraus, dass es tatsächlich keine »sichere« Menge Alkohol gibt (»Journal of Studies on Alcohol and Drugs« 2024, DOI: 10.15288/jsad.23-00283).
Alkohol und seine Abbauprodukte schädigen Zellen auf vielfältige Weise. In der Leber wird Ethanol zu Acetaldehyd oxidiert – ein hochreaktiver und toxischer Stoff. Normalerweise wird Acetaldehyd direkt zu Essigsäure umgewandelt, bei hohen Alkoholmengen kann es sich jedoch im Körper ansammeln.
Acetaldehyd reagiert mit zellulären Proteinen, Lipiden und DNA. Es bildet Protein-Aldehyd-Addukte, die zu Fehlfunktionen der Proteine und immunologischen Reaktionen führen können. Die Addukte können außerdem Kollagen produzierende Sternzellen aktivieren, was das Risiko für eine Leberfibrose erhöht, bei der sich verstärkt Bindegewebe in der Leber einlagert (»Toxicology Reports« 2021, DOI: 10.1016/j.toxrep.2021.02.010). Aus einer Leberfibrose kann sich bei chronischem Alkoholkonsum mit der Zeit eine Zirrhose und schließlich Krebs entwickeln.
Ethanol wirkt direkt toxisch auf Leberzellen und stimuliert etwa die Produktion entzündungsfördernder Zytokine wie TNF-α, IL-1 und IL-6. Chronischer Alkoholkonsum aktiviert zudem das mikrosomale Ethanol-oxidierende System (MEOS), das zur Bildung reaktiver Sauerstoffspezies (ROS) führt. ROS wiederum können beispielsweise Lipide in den Zellmembranen oxidieren und zu Entzündungen führen. Die häufigste Folge eines übermäßigen Konsums ist jedoch eine Fettleber, die mehr als 90 Prozent der Menschen mit starkem Alkoholkonsum entwickeln.
Auch das Herz leidet unter Alkohol, wobei die Auswirkungen von der Menge und der Dauer des Konsums abhängen. Ethanol und Acetaldehyd verursachen auf zellulärer Ebene mehrere schädliche Prozesse (»Nutrients« 2020, DOI: 10.3390/nu12020572). Sie können beispielsweise zum Zerfall der Muskelzellen (Myocytolyse), zu Apoptose (kontrollierter Zelltod) und Nekrose (unkontrollierter Zelltod) führen. Außerdem beeinflussen sie die Zusammensetzung der Membranlipide – und damit die Integrität der Zellen –, und stören Rezeptoren und Ionenkanäle, was das Risiko für Arrhythmien erhöhen kann.
Alkohol kann auch die Synthese von Strukturproteinen verringern, was die Kontraktilität der Herzmuskelzellen beeinträchtigt. Als Reaktion kann sich das Herz anpassen, indem es die Muskelzellen verdickt, was jedoch zulasten der Herzelastizität geht und langfristig zu Herzinsuffizienz führen kann.
Studien zeigen, dass chronischer Alkoholkonsum auch Mikrostrukturen im Gehirn verändern kann (»Science Advances« 2020, DOI: 10.1126/sciadv.aba0154). Forschende aus Spanien entdeckten, dass sich die Geometrie des extrazellulären Raums verändern kann, wodurch sich Neurotransmitter wie Dopamin leichter darin bewegen können. Dies kann das Abhängigkeitspotenzial von Alkohol zusätzlich erhöhen. Die Forschenden beobachteten zudem, dass Alkohol die Anzahl und Komplexität der Mikroglia (Immunzellen im Gehirn) reduzieren kann, was ebenfalls die Diffusion diverser Substanzen in der grauen Substanz erleichtert.
Ethanol interagiert auch mit einigen anderen Neurotransmittersystemen, darunter das opioiderge, serotonerge, gabaerge und glutamaterge System. Dadurch wird das Gleichgewicht zwischen Erregungs- und Entspannungszuständen im Gehirn gestört, sodass es bei Entzug zu Übererregungszuständen, Angst und Krampfanfällen kommt (»Behavioral Neurobiology of Alcohol Addiction« 2011; DOI: 10.1007/978-3-642-28720-6_143).
Trotz der gesundheitlichen Risiken, die damit einhergehen, ist Alkoholkonsum in Europa kulturell fest verankert. Dabei sind auch die sozialen Folgen ebenfalls nicht zu unterschätzen – auch für Dritte. »Leider sehen wir den Konsum von Alkohol immer noch als völlig normal an. Dieser wird zu selten kritisch hinterfragt. Alkohol ist in unserer Gesellschaft omnipräsent und wir reden viel zu wenig über die Gefahren des Alkoholkonsums«, betont Burkhard Blienert (SPD), Beauftragter der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, in einer Pressemitteilung der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS). Die DHS hatte im Juni mit einer Aktionswoche auf die Gefahren von Alkohol hingewiesen.
Ein Blick auf die Zahlen ernüchtere, so Blienert: Allein in Deutschland konsumierten rund acht Millionen Menschen riskant Alkohol und fast zwei Millionen Menschen seien alkoholkrank. »Die Menschen müssen wir gemeinsam mit ihren Angehörigen in den Mittelpunkt der Debatte über Alkohol und seine gesellschaftlichen Auswirkungen rücken. Dafür müssen wir auch politisch endlich die gesetzlichen Lücken bei Werbung und Sponsoring für Alkoholprodukte schließen und zudem unsinnige Regelungen wie das begleitete Trinken ab 14 Jahre abschaffen.«
Mit dieser Einschätzung ist Blienert nicht alleine: Viele wichtige Akteure, darunter die Bundesärzte- und die Bundespsychotherapeutenkammer sowie die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) fordern deutlich höhere Preise, ein Werbeverbot und weniger Verkaufsstellen für Alkohol.