| Annette Rößler |
| 30.09.2024 14:00 Uhr |
Immer weniger Jugendliche blicken mit Optimismus in die Zukunft. Diesen Trend darf die Gesellschaft nicht ignorieren. / Foto: Getty Images/Elva Etienne
Körperliche und psychische Erkrankungen zeigen im Verlauf des Lebens gegenläufige Entwicklungen: Während die Häufigkeit somatischer Krankheiten mit den Jahren steigt, erreicht die Inzidenz psychischer Erkrankungen bereits im Alter von 15 Jahren einen Gipfel. Bis zu drei von vier Patienten mit psychischen Leiden entwickelten diese bis zum Alter von 25 Jahren, heißt es in einem Übersichtsartikel, der kürzlich im Fachjournal »The Lancet Psychiatry« erschien. Geschrieben haben diese Arbeit Mitglieder der »Lancet«-Kommission zur psychischen Gesundheit von Jugendlichen um Professor Dr. Patrick McGorry von der University of Melbourne in Australien.
Beim Welt-Kongress des International College of Psychosomatic Medicine (ICPM), der kürzlich in Tübingen stattfand, referierte McGorry zu diesem Thema. »Überall auf der Welt ist die psychische Gesundheit von älteren Menschen deutlich besser als die von Jugendlichen«, sagte der Psychiater. Und die Schere geht immer weiter auseinander: Schon seit Beginn der 2010er-Jahre sei die Häufigkeit von psychischen Krankheiten bei Jugendlichen gestiegen – mit einem dramatischen Schub in und nach der Coronapandemie. Mittlerweile machen psychische Leiden laut der Publikation mindestens 45 Prozent der Krankheitslast bei 10- bis 24-Jährigen aus.
»Würde man diese rapiden Anstiege der Fallzahlen zum Beispiel bei Krebs sehen, gäbe es eine starke Reaktion. Es würde noch mehr Geld in die Forschung und die Versorgung gesteckt als ohnehin schon. Eine Reaktion auf die gravierende Verschlechterung der psychischen Gesundheit von Jugendlichen haben wir aber nicht erlebt«, konstatierte der Referent.
Er machte hierfür unter anderem strukturelle Gründe aus. Die Gesundheitssysteme seien zu sehr auf die Versorgung von Patienten mit körperlichen Erkrankungen ausgerichtet; die Versorgungsstrukturen für Patienten mit psychischen Erkrankungen seien größtenteils so aufgebaut wie die für Patienten mit somatischen Erkrankungen. »Das entspricht aber nicht dem Bedarf«, analysierte McGorry.
Für die Krise der psychischen Gesundheit von Jugendlichen (youth mental health crisis) müssten dringend Lösungen entwickelt werden. Dies sei laut dem »Lancet«-Beitrag nicht nur im Sinne der Betroffenen geboten. Auch alternde Gesellschaften könnten es sich schlicht nicht erlauben, die Gesundheit – und Leistungsfähigkeit – ihrer immer weniger werdenden jüngeren Mitglieder so nachhaltig zu gefährden. »Die Krise der psychischen Gesundheit von Jugendlichen ist mehr als eine Warnung; sie könnte unsere letzte Chance sein zu handeln«, heißt es in dem Artikel.
Welche Faktoren es im Einzelfall sind, die bei einem jungen Menschen Angststörungen, Depressionen, Verhaltens- oder andere psychische Störungen auslösen, sind selbstverständlich individuell unterschiedlich. Es gibt aber einige sogenannte Megatrends, also globale Entwicklungen, die Jugendliche auf der ganzen Welt psychisch belasten. Hier zählen die Autoren etwa die sinkende Generationengerechtigkeit, unregulierte soziale Medien, schlechte ökonomische Aussichten, Arbeitsplatzunsicherheit und den Klimawandel auf. »Junge Menschen zeigen die ernstesten Warnzeichen und Symptome einer Gesellschaft und einer Welt mit ernsten Problemen«, so die Autoren.
Es brauche mehr niederschwellige Anlaufstellen für junge Menschen mit psychischen Problemen, wobei die »Jugend« von den Autoren auf ein Alter zwischen 12 und 25 Jahren ausgedehnt wird. Dies entspreche der heutigen Lebensrealität eher als ein Cut im Alter von 18 Jahren. Denn heute werde eine emotionale und finanzielle Unabhängigkeit vom Elternhaus unter anderem wegen einer längeren Ausbildungszeit oftmals später erreicht als noch vor 20 Jahren. Auch die eigene Familiengründung junger Menschen verschiebe sich zunehmend ins höhere Alter.
Faktoren, die die psychische Gesundheit von Jugendlichen stärken könnten, seien etwa stabile Bindungen an Eltern, Geschwister und Gleichaltrige, eine sichere Umgebung mit Nähe zu Natur/Grünflächen sowie auf Gesellschaftsebene geringe soziale Unterschiede und wenig Polarisierung. Durch niederschwellige Angebote, die den besonderen Bedürfnissen von Jugendlichen Rechnung tragen, könnten Betroffene in Krisensituationen Hilfe erhalten. Doch müsse man sich auch die Frage stellen, wie nachhaltig Interventionen sein können, wenn Jugendliche nach deren Abschluss in Situationen zurückkehrten, die sie zuvor krank gemacht haben.
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