Neue Option bei extrem seltener Erbkrankheit |
Annette Rößler |
20.06.2025 07:00 Uhr |
Wird eine Behandlung mit Tiratricol begonnen beziehungsweise die Dosis erhöht, kann es zu den klassischen Symptomen einer Schilddrüsenüberfunktion wie vermehrtem Schwitzen, Reizbarkeit, Schlaflosigkeit und Bluthochdruck kommen. Klingen diese Symptome nicht innerhalb von zwei Wochen wieder ab, sollte eine Reduktion der Dosis erfolgen. Bei Patienten mit Herzerkrankungen und Diabetes sollte die Dosistitration mit besonderer Vorsicht erfolgen.
Wird Tiratricol zusammen mit Antazida, Aktivkohle, Calcium, Eisen, Ionenaustauscherharzen oder einem Phosphatbinder angewendet, muss zwischen den Einnahmen ausreichend viel Zeit verstreichen. Gegebenenfalls ist eine Anpassung der Tiratricol-Dosis notwendig. Letzteres gilt auch bei gleichzeitiger Anwendung mit Protonenpumpenhemmern (PPI). Die Kombination mit Arzneimitteln, die Leberenzyme induzieren können, oder mit Orlistat erfordert eine Überwachung der T3-Serumwerte. Die gleichzeitige Anwendung mit Arzneimitteln mit enger therapeutischer Breite, die auf CYP3A4, P-gp oder BCRP angewiesen sind, sollte mit Vorsicht erfolgen.
Interaktionspotenzial besteht ebenfalls bei gleichzeitiger Anwendung mit Antikoagulanzien: Das Blutungsrisiko kann steigen. Die Kombination von Tiratricol mit Psychostimulanzien sollte unterbleiben.
Ein Beleg für die Wirksamkeit von Tiratricol wurde in der offenen, einarmigen Studie Triac I erbracht, an der 46 Patienten mit MCT8-Mangel teilnahmen (Intention-to-treat-Population 45 Patienten). Sie wurden bis zu zwölf Monate lang mit Tiratricol behandelt, wodurch der mittlere T3-Wert im Serum von 4,97 nmol/l zu Studienbeginn auf 1,82 nmol/l sank. Zudem zeigten alle Probanden eine Verbesserung bei mindestens einer der drei Variablen Körpergewicht, Ruhepuls und systolischer Blutdruck, 31 von 45 Probanden (69 Prozent) bei mindestens zwei dieser Variablen.
Die häufigsten Nebenwirkungen der Therapie waren vermehrtes Schwitzen (7 Prozent der Behandelten), Durchfall (6 Prozent), Reizbarkeit, Angstzustände und Albträume (je 2 Prozent). Sie traten in der Regel bei Therapiestart oder infolge einer Dosiserhöhung auf und klangen innerhalb von wenigen Tagen ab.
Emcitate ist im Kühlschrank bei 2 bis 8 °C und im Umkarton zu lagern. Die zubereitete Suspension kann bis zu vier Stunden unter 25 °C im Glas gelagert und dann vor der Anwendung durch einminütiges Rühren wieder aufgelöst werden.
MCT8-Defizienz ist eine seltene und stark beeinträchtigende Erkrankung. Der Mangel an Schilddrüsenhormonen im Gehirn führt zu schweren geistigen und motorischen Behinderungen. Gleichzeitig kommt es zu einer Anhäufung von Schilddrüsenhormonen in anderen Teilen des Körpers, was eine periphere Thyreotoxikose verursachen kann, die sich in Symptomen wie erhöhter Herzfrequenz, Gewichtsverlust, Muskelschwäche und unruhigem Schlaf äußert.
Tiratricol ist das erste und einzige in der EU zugelassene Medikament zur Behandlung von MCT8-Defizienz. Das Analogon des Schilddrüsenhormons T3 ist damit eindeutig als Sprunginnovation zu betrachten. Der Wirkstoff lindert zumindest die periphere Thyreotoxikose bei den Betroffenen. In der Triac-I-Studie senkte Tiratricol die durchschnittliche T3-Konzentration im Serum nach einem Jahr um mehr als 60 Prozent. Bei allen Patienten verbesserte sich mindestens einer der Studienendpunkte: Körpergewicht, Ruheherzfrequenz oder systolischer Blutdruck. Das sind gute Nachrichten für die Betroffenen. Ebenso positiv ist, dass eine Untersuchung zeigen konnte, dass die Effekte von Tiratricol über mehrere Jahre bestehen blieben (DOI: 10.1210/clinem/dgab750).
Sven Siebenand, Chefredakteur