Neue Option bei extrem seltener Erbkrankheit |
Annette Rößler |
20.06.2025 07:00 Uhr |
Das Allan-Herndon-Dudley-Syndrom (AHDS) ist sehr selten. Lediglich 371 Fälle wurden bisher dokumentiert. Da der zugrunde liegende Gendefekt auf dem X-Chromosom lokalisiert ist, sind ausschließlich Männer betroffen. / © Getty Images/twomeows
Das Allan-Herndon-Dudley-Syndrom (AHDS) ist eine seltene Erkrankung, die von einem Mangel am Schilddrüsenhormon T3 im zentralen Nervensystem (ZNS) und einem peripheren Überschuss an T3 (periphere Thyreotoxikose) gekennzeichnet ist. Zugrunde liegt ein Mangel an Monocarboxylat-Transporter 8 (MCT8), einem spezifischen Transporter für Schilddrüsenhormone. Die MCT8-Defizienz wird durch Mutationen im SLC16A2-Gen verursacht, das sich auf dem X-Chromosom befindet.
Mit lediglich 371 dokumentierten Fällen ist die Erkrankung sehr selten. Betroffen sind ausschließlich Männer. Unbehandelt geht ein AHDS unter anderem mit Hypotonie, Muskelschwäche und schweren intellektuellen Defiziten einher. Die Schilddrüsenhormone sind in charakteristischer Weise verändert: Im Blutserum ist der T3-Spiegel stark erhöht bei niedrigem bis normalem freien T4 (fT4) und normalem bis leicht erhöhtem TSH. Ein molekulargenetischer Test, der Mutationen im SLC16A2-Gen nachweist, bestätigt die Diagnose.
Tiratricol (3,3',5-Triiodthyroessigsäure) ist ein natürlich zirkulierender, biologisch aktiver Metabolit von T3, der unabhängig von MCT8 in Zellen eindringen kann. Er kann dadurch T3 in MCT8-abhängigem Gewebe ersetzen und die normale Schilddrüsenhormonaktivität in diesen Geweben wieder herstellen. Tiratricol (Emcitate 350 µg Tabletten zur Herstellung einer Suspension, Rare Thyroid Therapeutics International AB) ist zugelassen zur Behandlung der peripheren Thyreotoxikose bei Patienten mit MCT8-Mangel und AHDS ab der Geburt.
Die empfohlene Anfangsdosis hängt vom Körpergewicht des Patienten ab. Wiegt er unter 10 kg, wird die Therapie mit 175 µg täglich (eine halbe Tablette) begonnen, bei einem Körpergewicht ab 10 kg mit 350 µg täglich. Die Tagesdosis sollte schrittweise alle zwei Wochen gesteigert werden, bis eine Erhaltungsdosis erreicht ist, bei der der Serum-T3-Wert unter dem Mittelwert des Normalbereichs für das jeweilige Alter liegt. Der T3-Wert sollte dabei mittels Flüssigchromatografie mit Tandem-Massenspektrometrie (LC/MS/MS) bestimmt werden. Bei Immunoassays kreuzreagiert Tiratricol mit T3, was die Testergebnisse verfälscht.
Die Gesamttagesdosis sollte auf eine bis drei Dosen über den ganzen Tag verteilt werden. Bei der Einnahme ist wie folgt zu verfahren: In einem kleinen Glas werden pro Einzeldosis maximal vier Tabletten unter Rühren mit einem Teelöffel über einen Zeitraum von einer Minute in 30 ml Trinkwasser aufgelöst. Die entstandene milchigweiße Suspension wird dann mit einer 40-ml-Applikationsspritze aufgezogen und dem Patienten langsam auf die Wangeninnenseite in den Mund eingegeben. Eine Gabe über eine Ernährungssonde ist ebenfalls möglich. Anschließend werden weitere 10 ml Trinkwasser in das Glas gegeben und etwa fünf Sekunden mit einem Teelöffel umgerührt. Diese Suspension wird nun mit derselben Spritze aus dem Glas aufgezogen und dem Patienten verabreicht.
Wird eine Behandlung mit Tiratricol begonnen beziehungsweise die Dosis erhöht, kann es zu den klassischen Symptomen einer Schilddrüsenüberfunktion wie vermehrtem Schwitzen, Reizbarkeit, Schlaflosigkeit und Bluthochdruck kommen. Klingen diese Symptome nicht innerhalb von zwei Wochen wieder ab, sollte eine Reduktion der Dosis erfolgen. Bei Patienten mit Herzerkrankungen und Diabetes sollte die Dosistitration mit besonderer Vorsicht erfolgen.
Wird Tiratricol zusammen mit Antazida, Aktivkohle, Calcium, Eisen, Ionenaustauscherharzen oder einem Phosphatbinder angewendet, muss zwischen den Einnahmen ausreichend viel Zeit verstreichen. Gegebenenfalls ist eine Anpassung der Tiratricol-Dosis notwendig. Letzteres gilt auch bei gleichzeitiger Anwendung mit Protonenpumpenhemmern (PPI). Die Kombination mit Arzneimitteln, die Leberenzyme induzieren können, oder mit Orlistat erfordert eine Überwachung der T3-Serumwerte. Die gleichzeitige Anwendung mit Arzneimitteln mit enger therapeutischer Breite, die auf CYP3A4, P-gp oder BCRP angewiesen sind, sollte mit Vorsicht erfolgen.
Interaktionspotenzial besteht ebenfalls bei gleichzeitiger Anwendung mit Antikoagulanzien: Das Blutungsrisiko kann steigen. Die Kombination von Tiratricol mit Psychostimulanzien sollte unterbleiben.
Ein Beleg für die Wirksamkeit von Tiratricol wurde in der offenen, einarmigen Studie Triac I erbracht, an der 46 Patienten mit MCT8-Mangel teilnahmen (Intention-to-treat-Population 45 Patienten). Sie wurden bis zu zwölf Monate lang mit Tiratricol behandelt, wodurch der mittlere T3-Wert im Serum von 4,97 nmol/l zu Studienbeginn auf 1,82 nmol/l sank. Zudem zeigten alle Probanden eine Verbesserung bei mindestens einer der drei Variablen Körpergewicht, Ruhepuls und systolischer Blutdruck, 31 von 45 Probanden (69 Prozent) bei mindestens zwei dieser Variablen.
Die häufigsten Nebenwirkungen der Therapie waren vermehrtes Schwitzen (7 Prozent der Behandelten), Durchfall (6 Prozent), Reizbarkeit, Angstzustände und Albträume (je 2 Prozent). Sie traten in der Regel bei Therapiestart oder infolge einer Dosiserhöhung auf und klangen innerhalb von wenigen Tagen ab.
Emcitate ist im Kühlschrank bei 2 bis 8 °C und im Umkarton zu lagern. Die zubereitete Suspension kann bis zu vier Stunden unter 25 °C im Glas gelagert und dann vor der Anwendung durch einminütiges Rühren wieder aufgelöst werden.
MCT8-Defizienz ist eine seltene und stark beeinträchtigende Erkrankung. Der Mangel an Schilddrüsenhormonen im Gehirn führt zu schweren geistigen und motorischen Behinderungen. Gleichzeitig kommt es zu einer Anhäufung von Schilddrüsenhormonen in anderen Teilen des Körpers, was eine periphere Thyreotoxikose verursachen kann, die sich in Symptomen wie erhöhter Herzfrequenz, Gewichtsverlust, Muskelschwäche und unruhigem Schlaf äußert.
Tiratricol ist das erste und einzige in der EU zugelassene Medikament zur Behandlung von MCT8-Defizienz. Das Analogon des Schilddrüsenhormons T3 ist damit eindeutig als Sprunginnovation zu betrachten. Der Wirkstoff lindert zumindest die periphere Thyreotoxikose bei den Betroffenen. In der Triac-I-Studie senkte Tiratricol die durchschnittliche T3-Konzentration im Serum nach einem Jahr um mehr als 60 Prozent. Bei allen Patienten verbesserte sich mindestens einer der Studienendpunkte: Körpergewicht, Ruheherzfrequenz oder systolischer Blutdruck. Das sind gute Nachrichten für die Betroffenen. Ebenso positiv ist, dass eine Untersuchung zeigen konnte, dass die Effekte von Tiratricol über mehrere Jahre bestehen blieben (DOI: 10.1210/clinem/dgab750).
Sven Siebenand, Chefredakteur