Neue Ansätze für Tumordiagnostik und -therapie |
Christina Hohmann-Jeddi |
24.10.2024 18:00 Uhr |
Bei microRNA handelt es sich um kleinste RNA-Moleküle, die bei der Genregulation eine große Rolle spielen. Wenn sie ausfallen, können Krebserkrankungen entstehen. / © Getty Images/selvanegra
Für die Entdeckung der microRNA (miRNA) und ihrer Rolle bei der Genregulation wurde in diesem Jahr der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin vergeben, und zwar an die beiden US-Forscher Professor Dr. Victor Ambros und Professor Dr. Gary Ruvkun. Bei miRNA handelt es sich um kleinste, etwa 20 bis 25 Nucleotide lange, einzelsträngige RNA-Moleküle, die nicht für Proteine codieren. Inzwischen sind mehr als 1000 dieser Moleküle bekannt, die im Tier- und Pflanzenreich weit verbreitet und hoch konserviert sind.
Sie werden in mehreren Schritten gebildet: durch Transkription der DNA in vorläufige miRNA, deren Bearbeitung und schließlich Reifung zu funktionaler miRNA. Die Moleküle können ihre Funktion im Zellinnern erfüllen oder quasi als Botenstoffe als exosomale miRNA frei oder in Vesikeln freigesetzt werden. Im ganzen Organismus, auch in Blut und Urin, sind sie zu finden.
MiRNA-Moleküle können die Aktivität von Genen regulieren – und zwar im großen Stil: Sie beeinflussen etwa 60 Prozent der Protein-codierenden Gene im menschlichen Genom. Entsprechend spielen sie eine entscheidende Rolle bei Zellwachstum, -differenzierung, -entwicklung und Apoptose. Fallen sie aus, kann das zu Erkrankungen führen, vor allem auch zu Krebs.
»Seit der Entdeckung der Identität und der klinischen Funktionen von miRNA wurde in den letzten Jahrzehnten die Rolle von miRNA bei Krebs aktiv untersucht.« Das berichteten die Professoren Taewan Kim von der Shenzhen Universität, China, und Carlo M. Croce von der Ohio State University, USA, 2023 im Fachjournal »Experimental & Molecular Medicine«. Dem Übersichtsartikel zufolge gebe es zahlreiche Belege dafür, dass miRNA-Moleküle bei den meisten Krebsarten zentrale Faktoren sind. Ein erster Hinweis stammt aus dem Jahr 2002. Damals fanden Forschende heraus, dass bei chronischer lymphatischer Leukämie (CLL) häufig eine Genregion fehlt, die zwei Tumorsuppressor-miRNA, nämlich miR-15 und miR-16, enthält.
Inzwischen ist bekannt, dass eine große Gruppe von miRNA-Molekülen häufig bei Krebs oder ausschließlich bei bestimmten Krebsarten dysreguliert sind, also fehlen oder zu stark gebildet werden. Daher gelten miRNA-Moleküle als gute Kandidaten für Biomarker für die Diagnose und Prognose von Krebs.
Während einige miRNA-Moleküle Tumorwachstum und Entartung fördern, haben viele auch tumorunterdrückende Funktionen. MiRNA kommt somit auch als mögliches Targets für Therapeutika infrage. »Derzeit laufen verschiedene klinische Studien zur Onkologie, in denen miRNA für Screening, Diagnose und Medikamententests eingesetzt werden«, heißt es in dem Review.
Gerade im Bereich der Tumordiagnostik gibt es einige Forschungsaktivität. So würde beispielsweise miR-155 zur Diagnose von nicht muskelinvasivem Blasenkrebs und bestimmte miRNA-Profile zur Vorhersage der Entwicklung von multizentrischem Brustkrebs getestet. In Stuhlproben wird nach miRNA-Markern für Darmkrebs gesucht.
Von einem aktuellen Beispiel berichtete im August ein Team um Professor Dr. Kerstin Junker vom Klinikum der Universität des Saarlandes und Kollegen des Universitätsklinikums Erlangen. In einem gemeinsamen Forschungsprojekt wollen sie eine miRNA-Signatur identifizieren, die helfen soll, aggressive Harnblasentumoren präziser zu diagnostizieren und die Therapie individueller zu gestalten. Ziel ist es, Übertherapien wie unnötige Organentfernungen zu verhindern.
Durch die Analyse von Tumorgewebe und Urinproben soll die miRNA-Signatur dabei helfen, zwischen verschiedenen Tumorarten zu unterscheiden und das Invasionspotenzial der Tumoren besser einzuschätzen. »In unseren Vorarbeiten konnten wir eine miRNA-Signatur identifizieren, die eine sichere Differenzierung zwischen nicht muskelinvasiven und muskelinvasiven Tumoren erlauben und an unabhängigen Patientengruppen bestätigen«, sagt Junker in einer Mitteilung ihrer Universität.
Auch zur Nutzung von miRNA-Molekülen, um das Ansprechen auf Krebstherapien vorherzusagen, liefen inzwischen einige Studien, berichten Kim und Croce. Viele miRNA-Moleküle seien an der Resistenz gegen verschiedene Krebsbehandlungen beteiligt. Daher sollte dieses Gebiet weiter erforscht werden.
Aufgrund ihrer zentralen Rolle in der Krebsentstehung bieten sich miRNA-Moleküle auch als Zielstruktur für die Entwicklung neuer Krebstherapeutika an. Eine der ersten Strukturen, die in den Fokus genommen wurde, war miRNA-34a. Bereits 2007 war aufgefallen, dass die miRNA-34-Familie von dem Tumorsuppressor p53 gesteuert wird, der bei den meisten Krebsarten zerstört oder herunterreguliert ist. Entsprechend wird bei diesen Krebserkrankungen auch zu wenig miRNA-34a gebildet.
Aus diesem Grund wurde MRX34, ein synthetisches doppelsträngiges miR-34a-Imitat, entwickelt, das in einem liposomalen Nanopartikel verkapselt ist. Mit dieser Substanz wurde die erste klinische Studie mit einem therapeutischen miRNA-Molekül durchgeführt. Die Phase-I-Studie musste jedoch aufgrund schwerwiegender immunvermittelter Nebenwirkungen, die zum Tod von vier Patienten führten, abgebrochen werden. Eine weitere klinische Studie mit dem Wirkstoff wurde zurückgezogen.
»Exogene miRNA-Mimetika müssen weiterentwickelt und verbessert werden, um Toxizität beim Menschen zu vermeiden«, heißt es in dem Review. Vor allem durch ein auf den Tumor ausgerichtetes Verabreichungssystem ließe sich die Off-Target-Toxizität verringern.
Auch für miR-16, die erste miRNA, für die ein Zusammenhang mit Krebserkrankungen erkannt wurde, gibt es bereits ein Mimetikum, das in einer Phase-I-Studie geprüft wurde. In dieser zeigte der Wirkstoff deutlich weniger Toxizität als MRX34, aber auch wenig Effekt. Dies könnte an der – aufgrund der Erfahrungen aus der MRX34-Studie – niedrig angesetzten Dosierung liegen.
Für einzelne miRNA-Moleküle wurden statt Mimetika Hemmstoffe entwickelt. Ein Beispiel ist die onkogene miR-155, die nicht nur bei Lymphomen und Leukämien, sondern auch bei vielen soliden Tumoren überexprimiert wird. Der Inhibitor MRG-106 (Cobomarsen) wurde in einer Phase-I-Studie bei einer speziellen Lymphomform getestet, wo er sich als verträglich und wirksam erwies.
Das Fazit der Review-Autoren: Trotz des Scheiterns der ersten klinischen Studie befinden sich eine Reihe von verbesserten miRNA-Strategien in klinischer Entwicklung. Die pleiotropen Effekte der miRNA (ein Molekül hat viele Zielmoleküle) stellen auf der einen Seite ein Problem für die Wirkstoffentwicklung dar, weil die Nebenwirkungen kaum vorhersehbar sind und gravierend sein können. Zum anderen machten sie die miRNA-Moleküle aber auch zu guten Zielstrukturen, da Krebserkrankungen nicht auf eine einzelne Mutation oder epigenetische Veränderung zurückgehen, sondern auf viele, argumentieren Kim und Croce.
Ihnen zufolge sind krebsspezifische und zirkulierende miRNA-Moleküle attraktive diagnostische Marker für Krebserkrankungen. Daneben könnten miRNA-Moleküle, die zur Vorhersage der Wirksamkeit von Medikamenten und der Patientenprognose geeignet sind, die Präzisionskrebsmedizin erheblich voranbringen. Bis miRNA-Therapien verfügbar werden, müssten aber noch erhebliche Probleme wie Toxizität, unerwünschte Wirkungen und geringe Wirksamkeit gelöst werden.