Neuartiger Inhibitor beim Multiplen Myelom |
Kerstin A. Gräfe |
04.11.2022 07:00 Uhr |
Mithilfe eines Ganzkörper-MRT kann beim Multiplen Myelom abgeschätzt werden, wie stark der Knochenmarkbefall ist. / Foto: Getty Images/Rakusen
Das Multiple Myelom ist ein B-Zell-Lymphom, das durch monoklonale Vermehrung von Plasmazellen im Knochenmark und Produktion von Paraproteinen charakterisiert ist. Mit Selinexor (Nexpovio® 20 mg Filmtabletten, Stemline) ist ein neuer Wirkstoff verfügbar, der aufgrund einer kürzlich erfolgten Zulassungserweiterung inzwischen auch ab der Zweitlinie eingesetzt werden kann. Ursprünglich war ein Einsatz ab der fünften Therapielinie vorgesehen.
Der oral verfügbare Wirkstoff ist der erste Vertreter der XPO1-Inhibitoren. Das Exportprotein XPO1 spielt eine Schlüsselrolle beim Transport von Proteinen und RNA aus dem Zellkern in das Zytoplasma, darunter Tumorsuppressor-Proteine sowie wachstumsregulierende und entzündungshemmende Proteine. In Myelomzellen ist XPO1 überexprimiert. Dadurch verstärkt sich der Export der genannten Proteine und die Myelomzelle entzieht sich den selbstregulierenden Mechanismen. Selinexor bindet selektiv an XPO1 und hemmt den Kernexport. Dies führt letztlich zum Stillstand des Zellzyklus, zur Reduzierung verschiedener Onkoproteine (c-Myc und Cyclin D1) und zur Apoptose von Krebszellen.
Selinexor hemmt das beim Multiplen Myelom meist überexprimierte Exportprotein XPO1, das normalerweise Proteine und RNA aus dem Zellkern ins Zytoplasma transportiert. Dies führt zum Stillstand des Zellzyklus und zur Apoptose von Krebszellen. / Foto: Stephan Spitzer
Zugelassen ist Nexpovio in Kombination mit Bortezomib und Dexamethason für die Behandlung des Multiplen Myeloms bei erwachsenen Patienten, die zuvor mindestens eine Therapie erhalten haben. In Kombination mit Dexamthason darf der neue Arzneistoff als Fünftlinientherapie bei Patienten eingesetzt werden, deren Erkrankung gegenüber mindestens zwei Proteasom-Inhibitoren, zwei immunmodulatorischen Arzneimitteln und einem monoklonalen Anti-CD38-Antikörper refraktär ist und bei denen unter der letzten Therapie eine Krankheitsprogression aufgetreten ist.
Patienten nehmen Selinexor einmal wöchentlich ein, wenn es in Kombination mit Bortezomib und Dexamethason gegeben wird. Die empfohlene Dosis ist 100 mg. Wird nur mit Dexamethason kombiniert, wird Selinexor an den Tagen 1 und 3 jeder Woche eingenommen. Die empfohlene Dosis beträgt dann jeweils 80 mg. Bei Nebenwirkungen muss die Dosierung gegebenenfalls reduziert oder die Gabe unterbrochen werden. Details dazu finden sich in der Fachinformation. Beide Therapieregime sollten bis zur Progression der Erkrankung oder bis zu einer inakzeptablen Toxizität fortgesetzt werden.
Es wurden keine speziellen klinischen Studien zu Arzneimittelinteraktionen durchgeführt. Die gleichzeitige Anwendung starker CYP3A4-Induktoren könnte zu einer geringeren Selinexor-Exposition führen.
Die Patienten sind anzuweisen, während der gesamten Behandlung für eine ausreichende Flüssigkeits- und Kalorienzufuhr zu sorgen. Besteht das Risiko einer Dehydrierung, sollte eine intravenöse Flüssigkeitszufuhr in Betracht gezogen werden. Des Weiteren sollte vor und während der Behandlung eine gleichzeitige Behandlung mit einem 5-HT3-Antagonisten und/oder anderen Mitteln gegen Übelkeit erfolgen.
Zu Beginn und während der Behandlung sowie bei klinischer Indikation sollte das Blutbild kontrolliert werden. Unter Selinexor wurden hämatologische Ereignisse wie Thrombozytopenie/verminderte Thrombozytenzahl oder Neutropenie berichtet, die teils schwerwiegend sein können. Patienten sollten auf Anzeichen und Symptome von Blutungen beziehungsweise von Infektionen überwacht und umgehend untersucht werden.
Selinexor kann Gewichtsverlust und Anorexie verursachen. Daher sollten zu Beginn und während der Behandlung sowie bei klinischer Indikation Körpergewicht, Ernährungszustand und Körpervolumen kontrolliert werden.
Die Patienten sind anzuweisen, Situationen zu vermeiden, in denen Schwindel oder Verwirrtheit problematisch sein könnten, und nicht ohne ärztlichen Rat andere Arzneimittel einzunehmen, die Schwindel oder Verwirrtheit verursachen können. Den Patienten ist davon abzuraten, ein Fahrzeug zu führen oder schwere Maschinen zu bedienen, solange die Symptome nicht abgeklungen sind.
Selinexor kann eine Hyponatriämie verursachen. Die Natriumspiegel sind zu Beginn der Behandlung, währenddessen und bei klinischer Indikation zu kontrollieren.
Nexpovio kann das Neuauftreten oder eine Verschlimmerung von Katarakt verursachen. Eine augenärztliche Untersuchung kann je nach klinischer Indikation durchgeführt werden. Katarakt sollte gemäß den medizinischen Leitlinien behandelt werden.
Zudem kann unter dem Neuling ein Tumorlyse-Syndrom (TLS) auftreten. Patienten mit einem hohen Risiko für TLS sollten engmaschig überwacht werden.
Frauen im gebärfähigen Alter und zeugungsfähige Männer sollten darauf hingewiesen werden, während der Behandlung und für mindestens eine Woche nach der letzten Dosis wirksame Verhütungsmaßnahmen anzuwenden oder auf Geschlechtsverkehr zu verzichten. Die Anwendung von Selinexor während der Schwangerschaft und bei Frauen im gebärfähigen Alter, die nicht verhüten, wird nicht empfohlen. Das Stillen sollte während der Behandlung und für eine Woche nach der letzten Dosis unterbrochen werden.
Die Zulassung in der Zweitlinie basiert auf der randomisierten Phase-III-BOSTON-Studie an 402 erwachsenen Patienten mit rezidiviertem oder refraktärem Multiplem Myelom, die zuvor eine bis drei Therapielinien erhalten hatten. Sie wurden randomisiert entweder mit Selinexor (100 mg einmal wöchentlich), Bortezomib (1,3 mg/m2 einmal pro Woche) und Dexamethason (20 mg zweimal pro Woche) oder Bortezomib (1,3 mg/m2 zweimal pro Woche in den ersten 24 Wochen und danach einmal pro Woche) und Dexamethason (20 mg in den ersten 24 Wochen viermal pro Woche und danach zweimal pro Woche) behandelt. Der primäre Endpunkt war das progressionsfreie Überleben (PFS).
Unter der Dreifachtherapie war das PFS mit 13,2 Monaten signifikant länger als unter der Bortezomib/Dexamethason-Kombination mit 9,5 Monaten. Das mediane PFS verlängerte sich um 4,47 Monate (47 Prozent). Zudem erzielte die Dreifachtherapie eine signifikant höhere Gesamtansprechrate als die Vergleichstherapie (76,4 versus 62,3 Prozent).
Die Dreierkombination war insgesamt toxischer. Die häufigsten Nebenwirkungen (≥ 30 Prozent) waren Thrombozytopenie, Übelkeit, Ermüdung, Anämie, verminderter Appetit, Diarrhö, Erbrechen, Hyponatriämie, Neuropathie und Leukopenie.
Die Zulassung in der Fünftlinie beruht auf den Daten der einarmigen, unverblindeten Phase-IIb-Studie STORM an 123 Erwachsenen mit schwer vorbehandeltem, dreifach refraktärem Multiplen Myelom. Die mit Selinexor und Dexamethason behandelten Patienten erreichten eine Gesamtansprechrate von 25,3 Prozent (primärer Endpunkt). Das mediane Gesamtüberleben betrug 8,6 Monate in der Gesamtpopulation und 15,6 Monate bei Patienten, die ein minimales Ansprechen oder besser hatten.
Zu den schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen, die bei mehr als 20 Prozent der Patienten auftraten, gehörten Thrombozytopenie, Müdigkeit, Übelkeit, Anämie, verminderter Appetit, Gewichtsabnahme, Durchfall, Erbrechen, Hyponatriämie, Neutropenie, Leukopenie, Verstopfung, Dyspnoe und Infektionen der oberen Atemwege.
Der Krankheitsverlauf beim Multiplen Myelom ist geprägt von Rezidiven, die auf vorherige Therapien schlecht oder gar nicht ansprechen. In der Erstlinie erzielt der Einsatz von Drei- oder Vierfachkombinationen gute Resultate, in der Zweitlinie wird dadurch allerdings der Klassenwechsel erschwert. Viele unterschiedliche Wirkstoffklassen als Therapieoptionen zu haben, ist also wichtig und die Einführung einer neuen Klasse stellt daher ein äußerst willkommenes Ereignis dar.
Selinexor als erster XPO1-Inhibitor kann vorläufig als Sprunginnovation gesehen werden. Erste Untersuchungen legen die Vermutung nahe, dass die Inhibition von XPO1 bestehende Resistenzen gegen einige Wirkstoffklassen schwächen kann. Auch das wäre ein großer Gewinn.
Insbesondere die Zulassungserweiterung für Selinexor in der Zweitlinientherapie in Kombination mit Bortezomib und Dexamethason ist zu nennen. Ergebnisse der BOSTON-Studie zeigen zwar keine riesengroße Verlängerung des progressionsfreien Überlebens. Der Unterschied zur Gruppe, die nur Bortezomib und Dexamethason erhielt, ist aber signifikant. Jedoch ist das Nebenwirkungspotenzial von Selinexor nicht zu unterschätzen. Gut, dass die Substanz in der Zweitlinie nur einmal wöchentlich zum Einsatz kommt. In der Fünftlinientherapie in Kombination mit Dexamethason wird Selinexor hingegen zweimal wöchentlich verabreicht.
Das Target von Selinexor ist auch für die Behandlung anderer Krebserkrankungen interessant. In den USA ist der Wirkstoff bereits beim diffus großzelligen B-Zell-Lymphom zugelassen und erst kürzlich hat Selinexor die EU-Zulassung zur Behandlung von Myelofibrose als Arzneimittel für seltene Leiden erhalten. Zudem laufen Studien bei bestimmten anderen Lymphomen und Sarkomen.
Sven Siebenand, Chefredakteur