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Möglicher Zusammenhang

Milchkonsum als Risikofaktor für Multiple Sklerose

Milchkonsum könnte an der komplexen Pathologie der Multiplen Sklerose mit beteiligt sein. Darauf weisen epidemiologische Daten und immunologische Tierstudien hin, die vor Kurzem auf dem Neurologenkongress vorgestellt wurden.
Christina Hohmann-Jeddi
21.01.2025  10:30 Uhr

Multiple Sklerose (MS) ist eine bei Erwachsenen häufige chronische Autoimmunerkrankung des Zentralnervensystems (ZNS), bei der das körpereigene Immunsystem die Myelinschichten um Nervenzellaxone zerstört. Die genauen Pathomechanismen sind nicht vollständig aufgeklärt, aber eine wichtige Rolle bei der Immunpathologie spielt der Darm – die Darmbarriere, das Mikrobiom und das enterale Nervensystem. Darüber berichtete Professor Dr. Stefanie Kürten vom Universitätsklinikum Bonn beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) im vergangenen Herbst in Berlin.

Schon seit 2011 sei bekannt, dass das Darmmikrobiom zur Entstehung der Erkrankung beiträgt, berichtete die Medizinerin. In Studien entwickelten keimfrei aufgezogene Mäuse eines MS-Tiermodells keine MS-ähnliche Erkrankung, sobald sie aber mit Mikroben besiedelt waren, erkrankten sie. »Damit konnte gezeigt werden, dass Darmbakterien vermutlich eine Rolle bei entzündlichen ZNS-Erkrankungen spielen«, sagte Kürten.

In die gleiche Richtung geht auch eine Studie mit humanen eineiigen Zwillingspaaren, von denen jeweils einer an MS erkrankt war und einer nicht. Die Analyse des Mikrobioms der Zwillinge zeigte Unterschiede auf: So seien etwa Sutterella-Bakterien im Darm des gesunden Geschwisters häufiger gewesen als bei den MS-Erkrankten, berichtete Kürten. Diese Spezies könnte einen protektiven Effekt haben.

Wurden Stuhlproben der Probanden auf keimfreie Mäuse transferiert, erkrankten die Tiere, die den Stuhl der gesunden Zwillinge erhalten hatten, deutlich seltener als die Tiere, die den Stuhl der MS-Patienten erhalten hatten. Aus diesen Untersuchungen könne man folgern, dass Störungen im Darmmikrobiom zu entzündlichen Reaktionen im Darm führen können, die dann zur MS-Pathogenese beitragen, sagte die Ärztin.

Enge Verbindung zwischen Darm und Gehirn

Ein möglicher Weg sei hier, dass die Dysbiose die Darmbarriere schädige, wodurch vermehrt Bakterien und Fremdantigene in tiefere Schichten des Darmepithels gelangen und das Immunsystem stimulieren könnten. Dadurch würden auch Entzündungsreaktionen ausgelöst. Dabei könnten sogenannte enzephalitogene T-Zellen entstehen, die Antigene aus dem ZNS erkennen. Diese können aus dem Darm über die Zirkulation ins ZNS gelangen und dort Entzündungsreaktionen verstärken. »Darm und Gehirn sind eng verbunden«, betonte Kürten.

Eine Rolle bei der MS-Entstehung könnte auch das darmeigene Nervensystem (enterisches Nervensystem, ENS) spielen. Das ENS ähnele dem ZNS morphologisch stärker als dem peripheren Nervensystem. Wie Untersuchungen an MS-erkrankten Patienten zeigten, werde das ENS schon früh im Verlauf der Pathologie geschädigt, berichtete die Anatomin. In Darmgewebe-Resektaten von MS-Patienten war zu beobachten, dass das ganze ENS »zusammengebrochen ist«.

Milchkonsum als potenzieller Risikofaktor

Welche Faktoren beeinflussen nun diese Darm-Hirn-Achse? Hier sei vor allem die Ernährung zu nennen, so Kürten. Eine Rolle könnte dabei der Konsum von Kuhmilch spielen. Epidemiologische Daten zeigten, dass die MS-Prävalenz in Ländern mit hohem Milchkonsum höher sei als in Ländern mit niedrigem Konsum. Eine Untersuchung aus dem Jahr 1992 aus 27 Ländern ermittelte eine eindeutige, signifikante Korrelation zwischen dem Konsum von flüssiger Milch und MS-Prävalenz. Bei dem Konsum von Milchprodukten wie Butter und Sahne war die Korrelation schwächer ausgeprägt, aber immer noch signifikant (»Neuroepidemiology«, DOI: 10.1159/000110946). Die Studienautoren folgerten damals, dass in der Kuhmilch Faktoren enthalten sein könnten, die zur MS-Pathologie beitragen.

Was diese Faktoren sein könnten, hat Kürten mit ihrer Arbeitsgruppe genauer untersucht. »Die naheliegende Antwort sind Proteine wie Casein oder β-Lactoglobulin«, sagte die Medizinerin. Daher immunisierte das Team um Erstautorin Dr. Rittika Chunder Mäuse mit verschiedenen Milchproteinen, um die Auswirkungen zu beobachten (»PNAS« 2022, DOI: 10.1073/pnas.2117034119). Bei Mäusen, die mit Casein immunisiert wurden, konnten Antikörper gegen das Milchprotein ins Rückenmark eindringen und dort Schäden bewirken. Der Grund: Die Anti-Casein-Antikörper reagierten auch mit dem Myelin-assoziierten Glykoprotein (MAG), das am Aufbau der Myelinhülle um Axone von Nervenzellen beteiligt ist.

Ist dieser Mechanismus auch bei Menschen relevant? Bei weiterführenden Untersuchungen zeigte sich, dass MS-Patienten tatsächlich signifikant höhere Anti-Casein-Antikörpertiter aufwiesen als Gesunde. Dabei stellte sich auch heraus, dass stärkere Antworten gegen Casein mit einer höheren Reaktivität gegen ZNS-Antigene einhergingen. In neuesten Studien konnte die Arbeitsgruppe zeigen, dass Ähnliches auch für das ENS im Darm gilt. Eine gewisse Subpopulation von MS-Patienten könnte daher von einem Verzicht auf Milch profitieren.

»Schon länger war bekannt, dass ein anderes Milchprotein, nämlich Butyrophilin, mit dem Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein (MOG) kreuzreagiert«, informierte Kürten. Zwischen den beiden Molekülen bestehe eine deutliche Sequenzähnlichkeit. Antikörper gegen MOG erkennen entsprechend auch das Milchprotein und umgekehrt.

In weiteren Studien zeigte sich, dass die Reaktivität nicht auf Kuhmilch beschränkt ist. MS-Patienten reagierten auch Schaf- und Ziegenmilch, berichtete Kürten. Vegane Alternativen zeigten sich dagegen nicht immunologisch aktiv. Weitere Studien seien nötig, um die Kreuzreaktivität genauer zu untersuchen und um zu testen, ob eine milchfreie Diät eine MS-Erkrankung beeinflussen kann.

Zusammenhang weiter erforschen

Den aktuellen Kenntnisstand zum Zusammenhang zwischen MS und Milchkonsum fassten Anfang 2024 Forschende um Caleb R. Morin von der University of Calgary in Kanada im Fachjournal »Multiple Sclerosis and Related Diseases« zusammen (DOI: 10.1016/j.msard.2024.105477). Demnach sind Butyrophilin und Casein die am besten untersuchten Milchbestandteile, die offenbar durch molekulare Mimikry mit MOG oder MAG autoinflammatorische Reaktionen gegen Myelin auslösen können.

Weniger bekannt sei, ob in Milch enthaltene Ganglioside (Oligosaccharide) und die gegen sie gerichteten Antikörper bei MS eine Rolle spielen. Darüber hinaus könnte der hohe Xanthinoxidase-Anteil von Kuhmilch zur MS-Pathogenese beitragen. Die Aktivität des Enzyms, das zur Bildung von reaktiven Sauerstoffspezies und somit zu oxidativem Stress führt, wird durch die Pasteurisierung kaum vermindert. Der oxidative Stress könnte etwa Zell-Zell-Kontakte stören und T-Zellen aktivieren, heißt es in dem Review-Artikel.

Schließlich könnte auch der Gehalt an gesättigten Fetten in der Milch eine Rolle spielen, da der Konsum von gesättigten Fetten und das Auftreten von MS positiv korreliert sind. »In der Tat schließen sich diese Mechanismen nicht gegenseitig aus und können alle den Zusammenhang zwischen Milchkonsum und MS teilweise erklären«, schreiben die Autoren.

Dass mehrere Faktoren in der Milch eine Rolle in der Pathologie der MS spielen könnten, zeige, dass der Zusammenhang noch weiter untersucht werden sollte. Allerdings sei Milchkonsum nur ein Faktor in einem komplexen Geschehen, bei dem auch die genetische Ausstattung, Infektionen und Umweltfaktoren eine Rolle spielen, betonen die Autoren. 

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