Metastasen bilden sich womöglich eher nachts |
Annette Rößler |
29.06.2022 14:00 Uhr |
Wie es kommt, dass sich einzelne Zellen aus Tumoren lösen und Metastasen bilden, ist noch nicht gut verstanden. Möglicherweise unterliegt die Metastasierung tageszeitlichen Schwankungen. / Foto: Getty Images/Steve Gschmeissner/Science Photo Library
Metastasen sind Absiedelungen eines Primärtumors in anderen Körperregionen. Sie entstehen aus Zellen des Ursprungstumors, die sich von diesem lösen und über die Blutbahn abtransportiert werden. Für den kurzen Zeitraum, den sie brauchen, um sich an einem neuen Standort festzusetzen, sind sie als sogenannte zirkulierende Tumorzellen (CTC) im Blut nachweisbar.
Bisher sei man davon ausgegangen, dass CTC von Tumoren kontinuierlich beziehungsweise infolge von mechanischer Belastung abgegeben werden, schreibt eine Forschergruppe um Professor Dr. Zoi Diamantopoulou von der ETH Zürich im Fachjournal »Nature«. Die Wissenschaftler berichten in dem Artikel nun aber über Ergebnisse, die eine tageszeitabhängige Dynamik bei der Freisetzung von CTC nahelegen.
Probandinnen der Untersuchung waren 30 Frauen mit Brustkrebs, darunter 21, bei denen der Tumor noch keine Metastasen gebildet hatte, und neun mit metastasierter Erkrankung. Die Patientinnen befanden sich entweder gerade in einer Therapiepause oder hatten noch keine Therapie begonnen. Die Forscher nahmen ihnen einmalig an einem Tag jeweils um 10 Uhr am Morgen und um 4 Uhr in der Nacht Blut ab und untersuchten diese Blutproben auf CTC. Dabei stellten sie fest, dass in den Proben aus der Nacht deutlich mehr CTC vorhanden waren als in den Vormittagsproben.
Der Befund, dass der Tumor offenbar in der Ruhephase des Körpers vermehrt CTC freisetzt, ließ sich bei Mäusen mit Brustkrebs bestätigen. Auch bei ihnen zeigte sich ein deutlicher Anstieg der CTC während der Schlafphase (die bei Mäusen als nachtaktiven Tieren allerdings tagsüber ist). Verabreichten die Forscher den Mäusen das schlaffördernde Hormon Melatonin, führte dies ebenfalls zu einer deutlichen Zunahme der CTC.
Da nicht alle CTC gleich gut darin sind, tatsächlich auch Metastasen zu bilden, untersuchten die Forscher zuletzt auch noch diese Fähigkeit der zu verschiedenen Tageszeiten gewonnenen CTC. Sie injizierten dazu diese Zellen in tumorfreie Mäuse. Daraufhin bildeten CTC aus der Ruhephase Tumore, solche aus der aktiven Phase dagegen nicht. Zudem entstanden bei den Mäusen auch eher Tumore, wenn die CTC ihnen in der Ruhephase injiziert worden waren.
Aus Sicht der Autoren legen ihre Ergebnisse nahe, dass bei der Untersuchung und Therapie von Patienten mit Tumorerkrankungen, die leicht metastasieren, die Tageszeit eine Rolle spielen sollte. Das halten auch zwei unabhängige Expertinnen aus Deutschland für möglich, weisen aber gleichzeitig darauf hin, dass es sich hier zunächst um Grundlagenforschung mit geringer Teilnehmerzahl handelt. Zudem sei eine nicht standardisierte/validierte Methode zur Bestimmung der CTC verwendet worden, merkt Professor Dr. Tanja Fehm vom Universitätsklinikum Düsseldorf an. Es sei daher schwer zu beurteilen, ob tatsächlich ausschließlich CTC bestimmt wurden oder nicht etwa auch weiße Blutzellen, die bekanntermaßen einem zirkadianen Rhythmus unterliegen.
In früheren Arbeiten seien teils überhaupt keine tageszeitlichen Schwankungen bei den CTC festgestellt worden und teils – genau konträr zur aktuellen Publikation – ein Peak in der aktiven Phase. »Insgesamt muss dieses Phänomen und damit auch die Ergebnisse der Arbeit aus der Schweiz in einer größeren Kohorte von Patienten in einer multizentrischen Studie mit unabhängigen Personen bestätigt werden. Erst dann wird man absehen können, ob sich dies auf zukünftige Behandlungsmethoden auswirken wird«, lautet Fehms Fazit.
Professor Dr. Nadia Harbeck vom Klinikum der Universität München (LMU) nimmt mögliche praktische Konsequenzen in den Blick: »Sollte sich bestätigen, dass sich bestimmte Tumorzellen vor allem nachts, wenn wir schlafen, bilden, wäre das ja mit Blick auf die Behandlung im klinischen Alltag erst einmal schwierig. Die Patienten sitzen ja nicht nachts bei uns, sondern tagsüber. Allerdings bleibt ein Aspekt in der Arbeit unbeantwortet: Medikamente haben Halbwertszeiten, das heißt Krebsmittel, die mittags verabreicht werden, verlieren ja nicht unbedingt am Abend oder in der Nacht ihre Wirkung.« Man könne sich aber zum Beispiel fragen, ob Blutabnahmen zur Bestimmung von CTC nicht grundsätzlich frühmorgens erfolgen müssten. Bevor solche Entscheidungen getroffen werden, hält aber auch Harbeck weitere Untersuchungen für notwendig.