Merkel: Corona-Kontaktkette muss nachvollziehbar sein |
Weitere Lockerungen möglich: Merkel findet, der Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie hat sich in den vergangenen Tagen gut entwickelt. / Foto: CDU/Laurence Chaperon
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) geht davon aus, dass bis zu einer bestimmen Obergrenze von akut Corona-Infizierten die Virus-Infektion in den Griff zu bekommen ist. Bei 50 akut Infizierten pro 100.000 Einwohner sei die Nachvollziehbarkeit der Kontaktkette noch gegeben. Und wenn diese Verfolgbarkeit gegeben sei, könne die Infektion nicht mehr so leicht entgleiten, machte Merkel am Dienstag in einer Sitzung der Unionsfraktion nach Angaben von Teilnehmern deutlich. Es dürfe jedenfalls nicht mehr geschehen, dass die Infektionskette nicht mehr nachvollzogen werden könne. Merkel will nach dpa-Informationen an diesem Mittwoch bei der Schaltkonferenz mit den Ministerpräsidenten voraussichtlich das weitere Vorgehen in einzelnen Bereichen in das regionale Ermessen der Bundesländer geben. Maßgeblich soll dabei sein, dass bestimmte Obergrenzen bei der Infektionsentwicklung eingehalten werden müssen. Sollten diese überschritten werden, müsse lokal reagiert und gegebenenfalls wieder zu den harten Maßnahmen zurückgekehrt werden. Zuvor hatte die »Bild«-Zeitung ähnliches berichtet.
Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) sprach sich laut der Zeitung gegenüber den Chefs der Staatskanzleien der Bundesländer dafür aus, dass Landkreise wieder zu den Beschränkungen zurückkehren müssen, die am 20. April in Kraft waren, wenn innerhalb von sieben Tagen mehr als 50 Neu-Infektionen auf 100.000 Einwohner zu verzeichnen seien, die nicht an einem Ort wie einem Altenheim aufträten. Großstädte sollen demnach Konzepte erstellen, die bereits vor dem Erreichen der Obergrenze erste Schließungen vorsehen. Denn in Großstädten seien Schließungen von Einrichtungen schwieriger durchzusetzen.
Merkel sagte nach Angaben anderer Teilnehmer in der Fraktionssitzung weiter, dass sich der Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie in den vergangenen Tagen gut entwickelt habe. Deshalb könne man nun über weitere Lockerungen sprechen. Sie machte aber demnach deutlich: Wenn sich in einer Region ein Infektionsgeschehen zeige, seien dort lokal Maßnahmen zu ergreifen, damit nicht wieder das ganze Bundesgebiet in Mitleidenschaft gezogen werde. Das sei auch vor dem Hintergrund wichtig, dass demnächst Lockerungen bei den Hotels und Gaststätten anstünden. Denn dann komme es wieder zu Reisen in Deutschland, und die Gefahr von neuem Infektionsgeschehen nehme zu. Wichtig sei deshalb unter anderem, dass die Kontaktverfolgung weiterhin funktioniere und ausreichend Intensivbetten zur Verfügung stünden. Besonders sensibel seien Lockerungen bei den Schulöffnungen, in der Gastronomie und bei den Hotels. Die Länder sollten dafür Konzepte entwickeln. Merkel hatte bereits am 20. April gesagt, sollte es erneut zu einem »exponentiellen Wachstum der Infektionszahlen« kommen, wäre eine Rückkehr zu den harten Maßnahmen »unvermeidlich«.
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz forderte dagegen, dass die Neuinfektionen bei Bewohnern von Alten- und Pflegeheimen mit in die Beobachtung des Infektionsgeschehens integriert werden. »Eine Obergrenze für die Infektion einzurichten, kann ein sinnvoller Schritt sein, das regionale Infektionsgeschehen zu steuern«, sagte Stiftungsvorstand Eugen Brysch. Doch die 800.000 pflegebedürftigen Menschen in den Heimen und die Hunderttausenden Pflegekräfte seien ebenfalls Teil der Gesellschaft.
Unterdessen hat sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in der Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie für bundesweit einheitliche Kriterien und gemeinsame Grundsätze ausgesprochen. »Ein zusammenhangloser Flickenteppich schafft Verwirrung«, sagte der CDU-Politiker am Mittwoch im ZDF-»Morgenmagazin«. Gleichzeitig müssten die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus regional angepasst werden, da die Infektionszahlen von Bundesland zu Bundesland verschieden seien. Mit Blick auf die Beratungen zwischen Bund und Ländern stelle sich nicht die Frage, ob, sondern unter welchen Bedingungen beispielsweise die Gastronomie wieder öffnen könne. Zugleich sprach sich Spahn gegen eine Impfpflicht aus. Es gebe in der Bevölkerung grundsätzlich eine hohe Bereitschaft, sich impfen zu lassen. »Wo die Freiwilligkeit zum Ergebnis führt, da braucht es keine Pflicht.« Spahn zeigte im RTL/n-tv-»Frühstart« Verständnis dafür, dass die Debatte über den richtigen Weg kontroverser geworden sei. Es gehe nun darum, das »Wir-Gefühl zu erhalten«, sagte der CDU-Politiker. »Wir haben aufeinander und einander geachtet. Und ich wünsche mir, dass wir uns das erhalten.«
FDP-Chef Christian Lindner kritisiert derweil die Lockerungen der Corona-Maßnahmen in vielen Bundesländern als zu zögerlich. Es gebe nun eine »Kehrtwende von Bund und Ländern«, die zwar richtig sei, sagte Lindner am Mittwoch ebenfalls im ZDF-»Morgenmagazin«. Er hätte sich eine transparente Politik der Öffnung mit Hygieneregeln statt Verboten allerdings schon vor 14 Tagen gewünscht. Bundeskanzlerin Angela Merkel habe in den vergangenen Sitzungen mit den Ministerpräsidenten »die Ausfahrt verpasst«. Jetzt werde all das, „was da angeregt wurde, doch beschlossen, da hat das Land Zeit verloren.« Diese Zeit wäre aber beispielsweise für Kitas und Schulen wichtig gewesen, um sich vorzubereiten, sagte Lindner.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat indes die Länder-Regierungschefs für Alleingänge bei der Lockerung von Corona-Auflagen kritisiert. »Anstatt die heutige Beratung abzuwarten, sind jetzt eine ganze Reihe von Kollegen mit eigenen Öffnungen vorgeprescht«, sagte der Grünen-Politiker dem »Spiegel« kurz vor dem Gespräch der Ministerpräsidenten mit Kanzlerin Merkel an diesem Mittwoch. »Unsere Stärke lag bislang im gemeinsamen und behutsamen Vorgehen.« Diesen Weg solle man nicht verlassen. Dabei könne es durchaus einzelne länderspezifische Unterschiede geben, solange man im Großen und Ganzen beieinanderbleibt und eben Schritt für Schritt vorgehe. Er mahnte aber: »Wir stehen noch mitten in der Pandemie.« Am Dienstag hatte Kretschmann bereits betont, dass er gegen eine Lockerung des Kontaktverbotes für die Bürger sei. In Sachsen-Anhalt war eine neue Verordnung in Kraft getreten, mit der das Land bundesweit bei der Lockerung der Corona-Beschränkungen vorangeht. Die Menschen dort dürfen statt wie bisher mit einem Menschen abseits des eigenen Haushalts fortan zu fünft zusammen sein.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.