Mehr Hitze, mehr Nebenwirkungen |
Der Klimawandel ist längst in der Apothekenpraxis angekommen. Mehr Hitzetage über 30 °C beeinflussen die Arzneimitteltherapie. / Foto: Adobe Stock/Tanapat Lek,jew
In den vergangenen dreißig Jahren zeichnet sich ein Trend zunehmender Hitze-Extrema ab. Die drei heißesten Sommer der Messgeschichte lagen laut Informationen des Deutschen Wetterdienstes alle in den 2000er-Jahren: 2003, 2018 und 2019. Für die Gesundheit besonders relevant sind die immer häufigeren und längeren Hitzewellen sowie die immer geringere Abkühlung in den Nächten. Auch die Winter werden immer wärmer, mit weniger Eis- und Schneetagen. Zusammengefasst hat Deutschland seit 1881 einen Temperaturanstieg von 1,5 °C zu verzeichnen – also jene 1,5 °C, die das Pariser Klimaabkommen für die Erhöhung der Erdtemperatur gerade noch für vertretbar hält, um gefährliche Störungen des Klimasystems durch den Menschen noch abfangen zu können.
Dabei fällt ein drastisches Phänomen auf: Die Temperatur der extremsten Sommer vor dem Jahr 1990 ist in den vergangenen dreißig Jahren zum Durchschnitt eines Sommers geworden. Was früher ein extrem heißer Sommer war, ist heute ein durchschnittlicher Sommer. Die Zahl der Hitzetage ist in Deutschland, Österreich und der Schweiz deutlich gestiegen, und hat sich zum Beispiel in Berlin und Wien etwa verdoppelt. Selbst in Lagen oberhalb von 1000 Metern Seehöhe wurden Temperaturen über 30 °C immer häufiger.
Die Zahl der Hitzetoten in Deutschland variiert von wenigen Hundert bis hin zu etlichen Tausend pro Jahr. Im besonders heißen Sommer 2003 starben Schätzungen zufolge rund 7600 Menschen infolge hoher Temperaturen, der vergangene außergewöhnlich heiße August forderte bundesweit etwa 4000 Tote. »Hitzewellen, wenn also die Wochenmitteltemperatur über 23 °C liegt, setzen vor allem älteren Personen zu. Sie sterben nicht an einem Sonnenstich oder Hitzschlag, sondern bei ihnen treten hitzebedingte Probleme wie Herz-Kreislauf-Störungen, Nierenversagen und Schlaganfälle gehäuft auf«, sagte Professor Dr. Markus Lerch, Ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums München, bei einer Online-Talkrunde der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin. »Auch Jüngere können an heißen Tagen schnell gesundheitliche Probleme bekommen, vor allem dann, wenn sie Medikamente einnehmen.«
Wie genau Hitze und Arzneimittel wechselwirken und was die Konsequenzen sind, beleuchtet Professor Dr. Bernard Kuch, Chefarzt und Direktor der vereinten kardiologischen und internistischen Klinik am Stiftungskrankenhaus Nördlingen, in einem Kapitel des im Juni 2021 erschienenen Versorgungs-Reports »Klima und Gesundheit« des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WidO). Personen, die ein höheres Lebensalter haben, an Grunderkrankungen wie Diabetes mellitus oder Herz-Kreislauf-Krankheiten leiden und eine Polymedikation erhalten, sind demnach während Hitzeperioden besonders gefährdet. Das seien 25 Prozent der AOK-Versicherten über 65 Jahre.
Die Patienten zu identifizieren und ihre Medikamenteneinnahme während der Hitzephasen zu überwachen, liege zwar in der Verantwortung der behandelnden Ärzte – besonders der Hausärzte. Dennoch seien auch andere Gesundheitsberufe bei Hitzeperioden aufgefordert, die sonst übliche Medikamentenration kritisch zu hinterfragen.
Laut Kuch gibt es zwei mögliche Wechselwirkungen: Zum einen komme es vor, dass Arzneistoffe aufgrund einer verminderten Nierenleistung relativ überdosiert oder Stoffe durch Hitze in ihrer Wirkung verstärkt werden. Das könne Herz-Kreislauf-Notfälle wie Hochdruckkrisen oder Blutdruckabfälle verursachen. Zum anderen könnten hitzebedingte Anpassungsmechanismen des Körpers das Nebenwirkungspotenzial bestimmter Arzneistoffe erhöhen.
Besonders Arzneimittel mit anticholinerger Wirkung sind laut Kuch ein Risiko bei Hitze, da sie die zentrale Temperaturregulierung hemmen. Dadurch werde der wichtige Ausgleichsmechanismus des Schwitzens unterdrückt, was Blutdruckabfälle, aber auch Blutdruckkrisen auslösen könne. »Diese anticholinerge Wirkung ist in vielen Arzneimitteln mit einem breiten Indikationsspektrum enthalten, an die man a priori nicht so schnell denkt«, warnt der Mediziner.
Zu den anticholinerg wirksamen Arzneimitteln gehören unter anderem:
Zudem sei bei kardiovaskulär wirkenden Arzneistoffen wie Betablockern, ACE-Hemmern, Sartanen, Diuretika, Calciumantagonisten, Clonidin oder Moxonidin Vorsicht geboten. Bei Hitze könne der blutdrucksenkende Effekt von Antihypertensiva verstärkt sein und dadurch Bewusstseinsverlust, Durchblutungsstörungen der Organe oder sogar Herzinfarkte hervorrufen. Antianginosa wie Nitrate oder Molsidomin, die eine Therapieoption für Patienten mit Angina pectoris sind, seien kritisch, da sie gefäßerweiternd wirken. »Diese Medikamente sollten bei gefährdeten Patienten in einer Hitzewelle vorrangig abgesetzt werden«, resümiert Kuch. Betablocker verhinderten im Gegensatz dazu, dass die peripheren Gefäße weitgestellt werden, was zu einer gestörten Hitzeableitung und einer erhöhten Schweißsekretionsschwelle führe.
Problematisch sei zudem eine hitzebedingte Exsikkose und damit einhergehende Nierenschwäche, da sich bestimmte Wirkstoffe dadurch im Körper anreicherten und überdosiert würden. Das gelte unter anderem für Diuretika, bestimmte nicht steroidale Antirheumatika wie Ibuprofen und Diclofenac sowie Opioide (zum Beispiel Morphin, Hydromorphon).
Hinsichtlich der Einnahme von Schmerzmitteln ergänzt Kuch: »Auch diese bergen zum Teil erhebliche Gefährdungen unter entsprechenden Temperaturbedingungen, insbesondere ist hier vor transdermal verabreichten Opiaten zu warnen.« Bei transdermalen Systemen könne es bei Hitze zu einer verstärkten Wirkstofffreisetzung kommen. Warnsymptome einer Opioid-Überdosierung sind kognitive Probleme und eine verlangsamte Atmung.
Bei Diuretika könne es neben dem verstärkten blutdrucksenkenden Effekt zu Elektrolytentgleisungen kommen, etwa zu Hyper- oder Hypokaliämien – mit teils schwerwiegenden Folgen wie Herzrhythmusstörungen oder plötzlichem Herztod. Gefährdet seien vor allem Herzinsuffizienz-Patienten, die meist mehrere Wirkstoffe einnehmen, darunter häufig Diuretika und Antiarrhythmika. Bei Letzteren sei ohnehin eine besondere Überwachung erforderlich, um die QT-Zeit, Nierenfunktion und den Elektrolythaushalt im Blick zu behalten.
Bei insulinpflichtigen Diabetikern sei zu beachten, dass starkes Schwitzen und eine veränderte Hautspannung die Resorption von Insulin beeinflussen können. Ein rascheres Anfluten bedeute eine erhöhte Hypoglykämiegefahr. Diabetiker gehören laut Kuch »per se zur Risikogruppe« während Hitzeperioden.
Als ergänzende Strategie schlägt Kuch eine Warn-App mit Ampelsystem vor. Bei hohen Temperaturen, hoher Luftfeuchtigkeit oder fehlender Nachtabkühlung könne die App eine Warnung ausgeben und anzeigen, welche Hitzeschutzmaßnahmen sinnvoll sind. Es sei zudem vorstellbar, dass die App kritische Medikamente abfragt und bei Bedarf an den behandelnden Arzt verweist. Dieser könne dann prüfen, ob und in welcher Dosierung der Patient die Einnahme der kritischen Medikamente fortsetzen soll.
Der Klimawandel hat Deutschland im Griff: Sämtliche Einflussfaktoren, die das Klima bestimmen, hat der Deutsche Wetterdienst in einer Grafik zusammengefasst. / Foto: Stephan Spitzer
Anders als in Deutschland reagierte das europäische Ausland schnell auf die Erfahrungen im Sommer 2003 und entwickelte Hitze-Notfallpläne. Der »Plan Canicule« in Frankreich gilt als vorbildlich. Sieht der dortige Wetterdienst etwa eine Hitzewelle kommen, werden Behörden, Krankenhäuser oder Schulen gewarnt, zeitig Maßnahmen einzuleiten. So werden in französischen Städten alleinstehende Senioren kontaktiert und auf Wunsch von ihren überhitzten Wohnungen in klimatisierte Räume in Bibliotheken oder Museen begleitet, um das Exsikkoserisiko kleinzuhalten.