Mehr als 1.500 Corona-Tote in Schweden |
Ungeachtet der hohen Zahlen vertrauen Schwedens Regierung und Gesundheitsbehörde auf den Staatsepidemiologen Anders Tegnell. Er steht symbolhaft für den schwedischen Sonderweg. Von Schul- und Grenzschließungen hält er nichts, auch sonst ist seine Strategie eine andere als die, die fast alle anderen in Europa gewählt haben. «Wir glauben, wir erreichen mit Freiwilligkeit genauso viel wie andere Länder mit Restriktionen», sagte Tegnell am Montag. Es sei wenig wahrscheinlich, dass Schweden die Richtung ändere. Die Zahlen der vergangenen Tage scheinen seine Theorie zu bestätigen.
Am Freitag sprach Karin Tegmark Wisell von der Gesundheitsbehörde von einem Abwärtstrend bei der Zahl der Toten. «Es gibt immer noch eine große Anzahl von Verstorbenen pro Tag, aber wir sehen keinen Anstieg, sondern eine Verlangsamung.»
Diese Sicht teilen andere nicht. Knapp 2.000 Wissenschaftler haben die schwedische Regierung zuletzt in einem Brief zum Umdenken aufgefordert. Unter ihnen ist Bo Lundbäck, Professor für klinische Epidemiologie von Lungenerkrankungen in Göteborg. Er hält die hohen Todeszahlen für inakzeptabel und den Preis, den Schweden im Corona-Kampf bezahlt, für zu hoch. «Ich sehe nicht, dass Schweden eine konkrete Strategie verfolgt und ich sehe auch keinen Trend», sagt er im Gespräch mit der Deutsche Presse-Agentur. «Die Richtlinien sind viel zu vage und die Menschen sind verwirrt.»
Dass die Kneipen und Einkaufszentren in Stockholm am Wochenende voll waren, zeige, dass die Botschaft nicht richtig angekommen sei. «Die Leute scheinen zu glauben, das hier sei ein Eishockeyspiel: Schweden gegen den Rest der Welt.» Dabei würden täglich immer noch Hunderte neue Ansteckungen registriert. Lundbäck fordert deshalb die Schließung aller Schulen und einen besseren Schutz des Personals in den Altersheimen. «Wir in Schweden glauben, wir sind besser als die anderen und müssen nicht auf die WHO hören. Das ist dumm.»
An Staatsepidemiologe Tegnell prallt die Kritik ab. Er geht davon aus, dass Schweden sich in einer anderen Phase als seine Nachbarn befinde und deshalb höhere Zahlen habe. Immer wieder spricht er von Herdenimmunität – das heißt, die Verbreitung des Virus wird gestoppt, weil immer mehr Menschen dagegen immun sind, sei es, weil sie die Krankheit überwunden haben oder geimpft wurden. Tegnell rechnet damit, schon im Mai Anzeichen für eine Immunität in Stockholm erkennen zu können. Er beruft sich dabei auf mathematische Modelle.
«Schwedens Weg muss nicht falsch sein», meint Claus Wendt von der Uni Siegen, der die Hintergründe des schwedischen Sonderwegs analysiert hat. Das Land habe gute Voraussetzungen, der Pandemie zu begegnen. Die Schweden seien allgemein bei guter Gesundheit, es gebe wenig Armut und soziale Ungleichheit und die Gesundheitsdaten der Menschen seien erfasst. «Ein ähnliches Datenniveau, um die Entwicklung und Ausbreitung von Krankheiten im Zeitverlauf zu erfassen, ist für Deutschland nicht erhältlich», so Wendt.
Dass Schweden seine gute Ausgangsposition genutzt hat, ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich. In Norwegen und Dänemark hat man die Verbreitung des Virus nicht nur abgebremst, sondern unterdrückt – mit so großem Erfolg, dass die Schulen, Kindergärten, Friseure und Zahnärzte zumindest teils wieder öffnen können.
Unklar ist jedoch weiter, wohin der Weg der Schweden genau führen soll: Wenn Herdenimmunität das Ziel ist, dann ist das Land ein Stück weiter. Die Schweden könnten einer zweiten Viruswelle entkommen, Norwegen, Dänemark und Deutschland riskieren, ihr Land wieder schließen zu müssen, wenn sie nicht gewappnet sind.
Für den Lungenspezialisten Lundbäck wäre eine solche neue Welle trotz allem aber das bessere Szenario. «Wir wissen nicht genug über eine mögliche Immunität», sagt er. Aber er rechnet damit, dass im Herbst Medikamente zur Verfügung stehen, die gegen das Virus helfen. Das Wichtigste sei, so viele wie möglich zu testen. Immerhin ist er da einig mit Tegnell und der Regierung: Sie hat vor wenigen Tagen das Ziel angegeben, deutlich mehr Menschen testen zu lassen.