Medikationsanalyse nach neuer Parkinson-Leitlinie |
Daniela Hüttemann |
15.01.2024 18:00 Uhr |
Die Parkinson-Erkrankung kann zu Schluckbeschwerden führen. Durch die Muskelsteifigkeit und den Tremor kann es den Patienten schwerfallen, ihre Medikamente aus dem Blister zu drücken und einzunehmen. / Foto: Getty Images/Mladen Zivkovic
Vor Kurzem ist die S2k-Leitlinie Parkinson-Krankheit überarbeitet worden (lesen Sie dazu aktuell: Parkinson-Krankheit: Früh erkennen, früh behandeln). Die Webinarreihe »100 Medikationsanalysen später« (pDL-Akademie) von Pharma4u griff vergangene Woche das Thema auf.
Nach einem kompakten pharmakologischen Update und fiktivem Übungsfall mit Dr. Alexander Ravati (siehe Kasten) ging es an einen echten und aktuellen Patientenfall, den Franziska Lemmer, angestellte Apothekerin in der »Homecare«-Abteilung der Albert Schweitzer Apotheke, Düsseldorf, mitgebracht hatte. Sie hatte bereits im November eine Medikationsanalyse im Heim vorgestellt.
Das Pflegepersonal eines der Heime, die Lemmer betreut, ist an sie herangetreten, da der behandelnde Neurologe bislang nicht reagiert hat und der Hausarzt nichts an der fachärztlichen Medikation ändern will. Die Pflegekräfte sorgen sich um den 81-jährigen N.N., der unter anderem eine Parkinson-Diagnose hat.
Morgensteifigkeit und Schluckbeschwerden seien so schwer, dass das Personal ihm seine Medikamente nicht verabreichen könne. Sie haben Lemmer gebeten, seine Medikation aus immerhin 16 Präparaten dahingehend zu überprüfen, ob sich zum einen etwas verbessern lässt und Arzneiformen ausgetauscht werden können und ob zum anderen bestimmte Medikamente die Beschwerden mitverursachen könnten.
Laborwerte, Diagnosen und vollständige Medikationsdaten liegen vor. Der Patient hat neben Parkinson noch die Diagnosen Vorhofflimmern, Neuropathien, Nieren- und Herzinsuffizienz, Vorhofflimmern, Aortenklappen-Insuffizienz und Hypertonie. Als aktuelle Hauptprobleme werden Schluckbeschwerden, Schlafstörungen und Juckreiz angegeben, zudem leidet der Patient unter Verstopfung, Übelkeit und Schmerzen. Der Blutdruck liegt mit 110/70 mmHg für einen Mann seines Alters und Gewichts (81 Jahre, 79 kg) grenzwertig niedrig, die Nierenfunktion ist eingeschränkt.
Zum Warmlaufen hatte Referent Dr. Alexander Ravati einen fiktiven Fall mitgebracht. Parkinson-Patienten Ursula Übel, 73 Jahre alt, klagt über Übelkeit, Appetitlosigkeit und Morgensteifigkeit. Zudem ist ihr aktueller Blutdruck sehr niedrig, trotz Diagnose arterielle Hypertonie, bei hohem Ruhepuls. Laut Medikations-Anamnese erhält sie dreimal täglich Levodopa/Benserazid, zwei Lercanidipin-haltige Präparate gegen ihren Bluthochdruck, Oxybutynin und Solifenacin gegen ihre Dranginkontinenz und gegen die Übelkeit Metoclopramid (MCP).
Das MCP stuften sofort zahlreiche Teilnehmende als ungeeignet bei Parkinson ein. Als unselektiver Dopamin-Antagonist wirke der Arzneistoff nicht nur wie gewünscht im Brechzentrum, sondern auch unerwünscht an den D1- und D2-Rezeptoren in den Basalganglien, an denen ohnehin bei Parkinson ein Dopamin-Defizit herrscht, erläuterte Ravati. »MCP ist bei Parkinson nicht nur absolut ungeeignet, sondern kontraindiziert.« Eine Alternative sei Domperidon, dass im Gegensatz zu MCP nicht zentral, sondern nur peripher wirke.
Der niedrige Blutdruck lässt sich durch die Doppelverordnung von zwei Lercanidipin-Präparaten mit unterschiedlichen Markennamen zurückführen. Hier ließe sich die Dosierung deutlich reduzieren. Zudem sei auf eine konstante Nüchtern-Einnahme vor dem Essen zu achten. »Mit einer fettreichen Mahlzeit kann die Bioverfügbarkeit um bis zu 30 Prozent steigen«, mahnte Ravati. Zudem könne eine Überdosis Lercanidipin eine Reflextachykardie auslösen, was den hohen Ruhepuls erklären könnte.
Bei Oxybutynin und Solifenacin liegt eine sogenannte Pseudo-Doppelverordnung vor. Es wurden zwei Mittel zwar mit unterschiedlichen Arzneistoffen, aber ähnlicher Wirkung verordnet, vermutlich von zwei verschiedenen Ärzten. »Beide wirken anticholinerg, was sich kontraproduktiv auf die Parkinson-Erkrankung auswirkt«, so Ravati. Laut Leitlinie soll bei Inkontinenz bei Parkinson-Patienten nur eines davon gegeben werden. Das sympathomimetisch wirkende Mirabegron könne hier eine Alternative zu den beiden Parasympatholytika sein. Es soll bei Parkinson-Patienten etwas besser verträglich sein.
Bei Medikationsanalysen gehe es aber nicht nur um das zu viel, wie bei den (Pseudo-) Doppelverordnungen, sondern auch darum, was möglicherweise fehlt, betonte Ravati. Die Morgensteifigkeit zeige an, dass die Parkinson-Erkrankung noch nicht ausreichend behandelt sei. Dafür eigne sich entweder ein L-Dopa-Retardpräparat zum Abend oder schnell lösliche L-Dopa-Tabletten am Morgen. Eventuell könnte noch ein COMT-Hemmer ergänzt werden.
»Bei so einem komplexen Fall ordne ich mir zunächst einmal die Medikamente nach der Indikation und nach Dauer- und Bedarfsmedikation«, erklärte Lemmer ihre Herangehensweise. Leitliniengemäß erhält der Patient zwei unterschiedlich dosierte Levodopa-Präparate mit Benserazid, von denen er dreimal täglich je eine Hartkapsel, also dreimal zwei Hartkapseln, schlucken muss (07:00, 11:00, 16:00 Uhr). Hinzu kommen eine Kapsel Opicapon zum Abend (20:00) und ein tägliches Rotigotin-Pflaster.
Doch selbst mit dieser Dreifach-Kombination scheinen die Parkinson-Symptome nicht ausreichend behandelt zu sein. Die Schluckbeschwerden können ein Symptom der Erkrankung sein. Darauf deutet auch die Verordnung des Muskelrelaxans Baclofen hin (mit zweimal täglich 5 mg allerdings unterdosiert). Durch die Parkinson-typische Muskelsteifigkeit, den Rigor, könne es nicht nur zu Spastiken, sondern auch zu den Schmerzen kommen, die bislang mit Pregabalin (zweimal 25 mg täglich als Hartkapseln), Metamizol als Dauermedikation (zweimal täglich 500 mg als Filmtablette) sowie zusätzlich Metamizol und Ibuprofen 600 mg nach Bedarf behandelt werden.
Aufgrund seiner kardiovaskulären Erkrankungen bekommt der Patient Lercanidipin (einmal täglich 10 mg), Ramipril (zweimal täglich 5 mg) und Apixaban (zweimal täglich 5 mg). Gegen Schlafstörungen nimmt er niedrig dosiertes Mirtazapin, gegen die Obstipation Macrogol als Dauermedikation sowie bei Bedarf gegen Übelkeit Dimenhydrinat. Zudem war ein Vitamin-D-Präparat einmal wöchentlich verordnet worden (2000 IE).
Der vollständige und von Apothekerin Franziska Lemmer geordnete Medikationsplan des Patienten. / Foto: Lemmer/Medicheck
Lemmer, den Koreferenten Ravati und Dr. Marcus Mohr, Internist, sowie den Webinar-Teilnehmenden sprangen gleich mehrere arzneimittelbezogene Probleme (ABP) ins Auge, die gemeinsam diskutiert und priorisiert wurden. Wichtig war den Referenten, nicht nur Probleme zu benennen, sondern auch konkrete Lösungsvorschläge zu machen.
Wichtigster Vorschlag: Eine Optimierung der Parkinson-Medikation. Aufgrund der Schluckstörungen sollte zumindest die morgendliche L-Dopa-Dosis von Hartkapseln auf schnell lösliche Tabletten umgestellt werden. Zur Intensivierung der Therapie und um die morgendlichen Probleme zu mildern, empfahl Ravati, eine weitere L-Dopa-Dosis, allerdings retardiert. Ravati betonte: Gemäß Leitlinie soll retardiertes L-Dopa nur abends gegeben werden, um eine Interferenz mit der Nahrung zu vermeiden (tagsüber immer streng mindestens 30 Minuten vor einer Mahlzeit) und nächtliche Beschwerden bis in den Morgen hinein zu mildern. Zur abendlichen Opicapon-Gabe ist dann eine Stunde zeitlicher Abstand zu halten.
Zweiter Vorschlag: Die Schmerzmedikation optimieren. »Falls der Rigor durch die erste Maßnahme reduziert wird, könnte der Bedarf an Schmerzmitteln sinken«, meinte Ravati. Ibuprofen gehöre ganz raus aus der Medikation des Patienten, aufgrund seiner kardiovaskulären Erkrankungen, der Niereninsuffizienz und des Alters, meinte Internist Mohr. Das Metamizol sei in Ordnung und die Dosis in der Dauermedikation laut Ravati noch nicht ausgereizt. Das Pregabalin sei unterdosiert.
Ravati machte hier auf eine Neuerung in der Parkinson-Leitlinie aufmerksam: Bei neuropathischen Schmerzen bei Parkinson-Patienten ist nun Gabapentin dem Pregabalin vorzuziehen. Ebenfalls neu in der Leitlinie: bei nozizeptiven Schmerzen wird Oxycodon empfohlen. Falls es sich also nicht nur um neuropathische Schmerzen handle, sei Oxycodon/Naloxon (wegen der Obstipation) eine Alternative. Zudem waren sich alle einig, dass die Baclofen-Verordnung ungeeignet sei, auch angesichts des Alters des Patienten, und überprüft werden sollte.
Dritter Vorschlag: Alle Dosierungen an die Nierenfunktion des Patienten anpassen, vor allem das Apixaban und gegebenenfalls die Antihypertensiva zu reduzieren, da der Blutdruck des Patienten zwar im Normalbereich liege, jedoch im unteren, auch angesichts der Sturzgefahr.
Auffällig war außerdem noch das niedrig dosierte Vitamin D einmal wöchentlich. Hier sollte überprüft werden, ob es sich um ein Missverständnis oder einen Übertragungsfehler handelt. Zudem sei das Dimenhydrinat gegen Übelkeit aufgrund seiner anticholinergen Wirkung zu hinterfragen.
Internist Mohr ging zum Schluss noch einmal auf das grundlegende Problem ein, dass viele Fachärzte wie hier der Neurologe viel zu selten ihre Heimpatienten besuchen und dann auch nur sehr wenig Zeit für jeden einzelnen haben, während der Hausarzt die fachärztliche Medikation nicht verändern will oder soll. »Bei solchen Patienten mit Schluckbeschwerden wie in diesem Fall kommt es ganz schnell, dass wir bei einer PEG-Sonde landen oder der Patient eine Aspirations-Pneumonie entwickelt.« Dabei ließe sich das durch eine bessere Grundbehandlung und passende Arzneiformen verhindern.
Leider hat Lemmer bislang noch keine Rückmeldung des behandelnden Neurologen erhalten, trotz mehrfacher Nachfrage. Sie hofft, etwas für den Patienten bewirken zu können, denn genau das sei der Grund, warum Medikationsanalysen so sinnvoll seien und noch dazu Spaß machten. Sie selbst habe auch wieder viel gelernt.
Der nächste Fall der pDL-Akademie von Pharma4u am 15. Februar um 20:00 Uhr behandelt die Top-5-arzneimittelbezogenenen Probleme (ABP) im interprofessionellen Dialog zwischen Apotheker Stefan Göbel, dem Initiator der Reihe »100 Medikationsanalysen später« und Allgemeinmedizinerin Dr. Annegret Fröbel. AMTS-Experte Dr. Alexander Ravati wird anhand eines neuen Medikationsanalyse-Falles aufzeigen, wie man in der Praxis mit ABP umgeht, diese priorisiert und kompakt zusammenfasst. Alle Infos und die Anmeldung für das kostenlose Webinar finden Sie hier.