Lieferketten diversifizieren statt Produktion zurückholen |
Daniela Hüttemann |
13.09.2023 15:00 Uhr |
Um Lieferengpässe langfristig in den Griff zu bekommen, müssen die Lieferketten für Grund-, Hilfs- und Wirkstoffe, aber auch Verpackungsmaterial global diversifiziert werden. / Foto: Getty Images/Pogonici
Die Bewältigung von Lieferengpässen bei Arzneimitteln und Sicherung der Versorgung sind ein wichtiges Ziel des »Pharmapakets«, an dem die Europäische Union derzeit arbeitet. Die EU-Kommission hat Ende April 2023 dieses Bündel von Maßnahmen zur Novellierung der Arzneimittel-Gesetzgebung in der EU vorgestellt. Die entsprechende Richtlinie wird voraussichtlich jedoch frühestens Ende 2026 umgesetzt, berichtete Jens Gobrecht, Leiter des ABDA-Büros in Brüssel. Beim Zwischenahner Dialog des Landesapothekerverbands Niedersachsen gab er vergangene Woche einen Überblick zur aktuellen EU-Gesetzgebung bei Gesundheitsthemen und ging insbesondere auf die Lieferengpässe ein.
»Das, was die EU-Kommission hier vor hat, ist zwar gut und ehrenwert, wird aber wohl nicht ausreichen«, urteilte Gobrecht. Kurz nach der Veröffentlichung des ersten Vorschlags der EU-Kommission kam denn auch ein breit unterstütztes Non-Paper, also eine Art inoffizielle Stellungnahme, was laut Gobrecht eher selten sei. Auf Initiative Belgiens fordern hier viele EU-Staaten, darunter auch Deutschland, weitergehende Maßnahmen. »In Anbetracht der Komplexität der Probleme und der damit verbundenen Risiken sind wir der Meinung, dass die EU drastischere Schritte ergreifen muss, um die Sicherheit der Arzneimittelversorgung zu verbessern«, heißt es in dem Non-Paper. Die Kernforderungen:
Auch hat der Europäische Rat Ende Juni die EU-Kommission gebeten, eine Initiative für Sofortmaßnahmen vorzuschlagen. Darüber hinaus sollen die EU-Kommission und das Europäische Parlament ihre Arbeit an der Novellierung der Arzneimittel-Gesetzgebung, zu dem eben auch die Maßnahmen gegen Lieferengpässe gehören, beschleunigen.
An der akuten Situation ändert das aber erst einmal nichts, zumal es ein globales Problem ist. Die Wirkstoffproduktion finde aus Kostengründen oft nur noch in wenige Betrieben in Fernost statt, zumeist China und Indien, berichtete Gobrecht. »Eine umfassende Verlagerung der Produktion zurück in die EU wäre mit immens hohen Kosten verbunden. Daher ist es wahrscheinlich, dass die EU weiterhin abhängig von günstigen Arzneimitteln aus dem Ausland sein wird.«
Die Abhängigkeit von China und Indien bei Arzneimitteln könnte auch geopolitisch zum Druckmittel werden. Als Chance und Herausforderung zugleich nannte Gobrecht hier die anderen BRICS-Staaten (Brasilien, Südafrika und Russland, von denen aufgrund des Ukraine-Kriegs Russland wohl derzeit herausfällt), die sich zu Beginn kommenden Jahres erweitern wollen. Argentinien, Ägypten, Äthiopien, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate wollen dem BRICS-Bündnis beitreten. Hier könnte dann auch die Arzneimittelproduktion ausgebaut werden. Damit gewänne der Block weiteren wirtschaftlichen Einfluss.
Gobrecht betonte auch, dass Staaten wie Indien und China durchaus Arzneistoffe und Medikamente an Europa liefern wollen, doch selbst den riesigen Bedarf im Inland decken müssten, auch um innenpolitisch bestehen zu können.
Die ABDA rät dazu, die Lieferketten zu diversifizieren – »das sollten wir spätestens in der Corona-Krise gelernt haben«, meinte Gobrecht. »Wir werden weiterhin vom Ausland abhängig sein.« Damit es nicht an einzelnen Staaten hängt, sei Diversifizierung es so wichtig. Die Erweiterung der BRICS-Staaten könne hierbei helfen.
Auch Torsten Bathmann, beim Verband der forschenden Pharmaunternehmen (vfa) für die Innovationspolitik zuständig, hält eine Rückholung der Produktion nach Europa aus Kostengründen für illusorisch. Das würde eher zu Einbußen der Versorgungsqualität in der Breite führen. Er sprach sich stattdessen wie Gobrecht für eine Stabilisierung der Lieferketten aus. Das erfordere finanzielle Mittel und auch Rechtssicherheit, was nicht bei allen globalen Handelspartnern gewährleistet sei.
Man sollte auch bestehende Standorte sichern. Bathmann begrüßte es beispielsweise, dass die EU-Kommission in diesem Juli bewilligt hat, dass der österreichische Staat die Modernisierung der einzigen in Europa verbliebenen Penicillin-Produktion in Kundl/Tirol (Firma Sandoz) mit 28,8 Millionen Euro subventionieren darf. Dort wird unter anderem Amoxicillin hergestellt.
In den 1970er-Jahren die sogenannte »Apotheke der Welt«, gehöre Deutschland in der Grundlagenforschung und insbesondere auf dem Gebiet der RNA-Forschung und -Produktion immer noch zur Weltspitze. Europa insgesamt sei in der Produktion anspruchsvollerer Arzneimitteltherapien wie Biologika noch gut aufgestellt. Doch die Innovationen von heute seien die Generika von morgen, warnte Bathmann. Das solle man nicht aus Preisgründen aufs Spiel setzen, denn auch China beispielsweise habe das Know-how in der Gen- und Zelltherapie. Vielmehr sollten innovative Therapien und Produktionstechnologien in Europa gestärkt werden.
Die Produktion von niedermolekularen Generika sieht Bathmann dagegen als verloren an. »Es ist einfach keine Billigproduktion in der EU möglich und jedes Unternehmen kann nur Rabattverträge schließen, wenn es die Produktionskosten senkt.« Selbst ohne Rabattverträge werde die Produktion nicht mehr zurückkommen. Es sei ein schleichender Verlust über 20 Jahre gewesen, der sich nicht einfach zurückdrehen lasse.
Ein anderer Vorschlag des vfa ist, die bestehenden Produktionslinien flexibler nutzen zu dürfen. Kleinere solcher flexiblen Anlagen kann sich Bathmann auch für Krankenhausapotheken oder größere Apotheken vorstellen.
Man dürfe Hersteller jedoch nicht dazu verpflichten, teure Anlagen und Personal für eventuelle Engpässe bereitzustellen und ansonsten brachliegen zu lassen, sondern müsse die Produktion so gestalten, dass eine rasche Umstellung möglich ist, wenn sich Lieferengpässe ankündigen. Wenn dann eine Firma einspringt, wie das beispielsweise die Hexal-Tochter Salutas beim Tamoxifen-Versorgungsengpass getan hat, müsse das auch honoriert werden. Gewinne machten die Unternehmen damit nicht.
Bathmann erinnerte aber auch daran, dass es nicht nur an den Wirkstoffen liegt, die fast nur noch in Fernost produziert werden. Probleme könne es auch bei den Ausgangs- und Hilfsstoffen geben. Mitunter lägen die fertig produzierten Arzneimittel in den europäischen Werken bereit, es fehle aber an Blisterfolien, Ampullen oder gar Papier für Faltschachteln und Beipackzetteln. »Das hat dann nichts mit China zu tun«, so Bathmann.
Der vfa selbst spricht sich für mehr Transparenz über die gesamte Wertschöpfungskette aus. Die Firmen hätten ein eigenes Interesse, lieferfähig zu bleiben. »Jeder Lieferausfall bedeutet ja auch gleich einen Umsatzausfall«, konstatierte Bathmann. Sinnvoll könne es auch sein, die durchaus von Land zu Land verschiedenen Lieferengpässe in der EU durch mehr Austausch im Binnenmarkt abzufedern und diesen Austausch zu erleichtern. Ein Überwachungs- und Frühwarnsystem sei also grundsätzlich sinnvoll.
Der vfa sei auch durchaus offen für Stresstests der Lieferketten, einschließlich Zulieferern und bei Technologie-Monopolen. Von feststehenden Listen sogenannter kritischer Arzneistoffe wie von der EU vorgeschlagen ist die Pharmaindustrie dagegen weniger begeistert und schlägt stattdessen eine »dynamische« Liste vor. »Da ungewöhnliche Nachfragepeaks schwer vorauszusagen seien, hält der vfa auch nichts von einer Vorratspflicht. Die führe nur dazu, dass man sich die Arzneimittel innereuropäisch einfach wegkaufe. Dann liegen sie in Deutschland auf Lager und fehlen anderswo.
Auf diesen Herbst und Winter würde sich das Lieferengpassgesetz (ALBVVG) ohnehin noch nicht auswirken, vermutet Bathmann. Es werde Nachfragepeaks geben. Die Produktionskapazitäten bei Fiebersäften seien zumindest bei Zentiva (Ibuprofen) in Prag nicht ausgeweitet worden. Und jahrelang kaputt gesparte und globalisierte Systeme ließen sich nicht von heute auf morgen reparieren.