Lebensretter mit altersabhängiger Wirkung |
Theo Dingermann |
25.07.2025 18:00 Uhr |
Auf Menschen über 60 Jahre entfielen in der Studie 90 Prozent der verhinderten Todesfälle und 76 Prozent der geretteten Lebensjahre. / © Getty Images/Luis Alvarez
Die Entwicklung und breite Einführung von Covid-19-Impfstoffen wird von einer großen Mehrheit weithin als Erfolg der biomedizinischen Forschung und als Garant für die Begrenzung des Schadens durch das neu aufgetauchte Coronavirus gesehen, mit dem die Weltbevölkerung nahezu schutzlos konfrontiert war. Diese Meinung vertreten jedoch nicht alle. Daher ist es wichtig, eine Vorstellung zu entwickeln, wie viele Leben durch Covid-19-Impfungen weltweit seit ihrer Einführung geretteten wurden.
Eine fundierte Schätzung präsentieren aktuell Forschende um Professor Dr. John P. A. Ioannidis vom Department of Medicine an der Stanford University School of Medicine, USA, und Kollegen in einer Publikation, die heute im Forschungsjournal »JAMA Health Forum« publiziert wurde.
Die Forschenden analysierten die weltweit geretteten Leben und Lebensjahre von geimpften Personen seit der ersten Zulassung von Impfstoffen im Dezember 2020 bis Oktober 2024. Damit sind auch Daten aus der Omikron-Periode enthalten, die in vielen anderen Studien fehlen.
Die Zahl der Todesfälle, die ohne Impfung möglicherweise eingetreten wären, und die plausible Verringerung der Sterblichkeit durch verschiedene Impfstoffe wurden geschätzt, da konkrete Zahlen vielfach nicht verfügbar sind. Dies geschah anhand öffentlich zugänglicher Daten, die nach Alter, Zeiträumen vor und nach Omikron, Impfung vor und nach der Infektion sowie Langzeitpflegeeinrichtungen stratifiziert wurden.
Den Fokus legten die Forschenden auf einer realitätsnahen Bewertung auf Basis empirischer Daten zur Infektionsletalität (Infection Fatality Rate, IFR), Impfwirksamkeit zum Schutz vor Mortalität (Vaccine Effectiveness, VE), sowie dem Infektionsstatus der geimpften Population. Die Analyse berücksichtigt unterschiedliche Altersgruppen, Aufenthaltsorte (häuslich versorgte Patienten versus Pflegeheimbewohner), Infektionsstatus vor der Impfung sowie die zeitliche Einteilung in Prä-Omikron- und Omikron-Periode.
Konkret konstruierten die Autoren ein kontrafaktisches Szenario ohne Impfung und schätzen auf dieser Basis die Zahl der verhinderten Todesfälle als Produkt von Bevölkerungsgröße, vermuteter Infektionswahrscheinlichkeit ohne Impfung, IFR und VE. Gerettete Lebensjahre wurden zusätzlich unter Berücksichtigung der durchschnittlichen Lebenserwartung je Altersgruppe und eines Modifikationsfaktors f kalkuliert, welcher berücksichtigt, dass viele Covid-19-Verstorbene eine reduzierte Lebenserwartung hatten.
Die eingesetzten Werte für IFR und VE basieren auf systematischen Reviews, Metaanalysen und Beobachtungsdaten. Für die Omikron-Periode wurde angenommen, dass die IFR im Vergleich zur Prä-Omikron-Phase um zwei Drittel niedriger lag. Für VE wurden 75 Prozent (Prä-Omikron) beziehungsweise 50 Prozent (Omikron) angenommen. Insgesamt wurden weltweit 13,64 Milliarden Impfdosen verabreicht, die als Bezugsgröße für die Berechnung der »Number Needed to Treat (NNT)« dienten.
Die Hauptanalyse ergab, dass weltweit 2,53 Millionen Todesfälle (1 pro 5400 Impfdosen) sowie 14,7 Millionen verlorene Lebensjahre (1 pro 900 Impfdosen) verhindert wurden. Sensitivitätsanalysen ergaben eine Spanne von 1,4 bis 4 Millionen geretteter Leben und 7,4 bis 23,6 Millionen geretteter Lebensjahre.
Dabei entfiel der Großteil der positiven Effekte auf ältere Bevölkerungsgruppen. Auf Menschen über 60 Jahre entfielen 90 Prozent der verhinderten Todesfälle und 76 Prozent der geretteten Lebensjahre. Pflegeheimbewohner machten zwar 11,8 Prozent der verhinderten Todesfälle, jedoch nur 2 Prozent der geretteten Lebensjahre aus – ein Effekt der niedrigen Restlebenserwartung in dieser Gruppe.
Der Nutzen in jüngeren Altersgruppen war nach den Schätzungen der Forschenden hingegen marginal. Nur 0,01 Prozent der verhinderten Todesfälle und 0,1 Prozent der geretteten Lebensjahre entfielen auf Kinder und Jugendliche (0 bis 19 Jahre).
Bei jungen Erwachsenen (20–29 Jahre) lag der Anteil bei 0,07 Prozent verhinderten Todesfälle und 0,3 Prozent geretteten Lebensjahre. Die Nutzen-Kosten-Relation in diesen Gruppen erscheint kritisch und wurde von den Forschenden ausdrücklich problematisiert, auch im Hinblick auf mögliche Impfnebenwirkungen.
Interessanterweise zeigte sich, dass mehr Todesfälle während der Omikron-Periode verhindert wurden (57 Porzent) als in der Prä-Omikron-Phase. Allerdings lag der Nettoeffekt in einzelnen Sensitivitätsanalysen deutlich niedriger, insbesondere bei Annahme einer hohen Durchseuchung vor Omikron oder niedrigen VE-Werten. In Ländern mit geringer Viruszirkulation vor Omikron (zum Beispiel China, Neuseeland) trat der Großteil des Nutzens erst in der späteren Phase auf.
Eine zentrale Erkenntnis der Studie ist, dass der Großteil des Impfbenefits auf der kleinen demographischen Gruppe der älteren Erwachsenen mit gutem Allgemeinzustand konzentriert war. In jüngeren Bevölkerungsgruppen war der Einfluss auf die Mortalität minimal.
Zudem stellen die Autoren in Frage, ob Impfungen in den jüngeren Bevölkerungsgruppen, in denen das individuelle Risiko gering war, kosteneffektiv oder medizinisch sinnvoll waren. Auch die Annahme, dass Impfungen die Virusübertragung durch jüngere Personen maßgeblich verhinderten, wird kritisch betrachtet, da die Schutzwirkung vor Infektion und Transmission nur kurzfristig und moderat war.
Die Forschenden thematisieren auch potenzielle Impfschäden. Diese werden basierend auf publizierten Nebenwirkungsanalysen als um etwa zwei Potenzen niedriger als der Gesamtbenefit eingestuft. Dennoch wird darauf hingewiesen, dass spezifische Risikogruppen individuell betrachtet werden sollten, da dort das Risiko-Nutzen-Verhältnis variieren kann.
Im Vergleich zu anderen globalen Impfprogrammen (zum Beispiel Masern, Hepatitis B), so das Resümee der Forschenden, erscheinen die globalen Effekte der Covid-19-Impfungen bezüglich der geretteten Lebensjahre deutlich geringer. Dies wirft Fragen zur Allokation und Priorisierung von Impfressourcen sowie zur Aufklärung über den relativen Nutzen verschiedener Impfungen auf – insbesondere vor dem Hintergrund zunehmender Impfskepsis.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.