Krebstreiber zu Krebsvernichter umfunktionieren |
Theo Dingermann |
03.08.2023 11:00 Uhr |
In der Apoptose, dem kontrollierten Absterben, schrumpft eine Zelle zunächst und schnürt dann Bläschen ab, die DNA wird zerstückelt. Die Reste werden schließlich durch Phagozytose beseitigt. / Foto: Adobe Stock/Artefacti generiert mit KI
Über die molekulare Pathologie des Krebswachstums weiß man zwischenzeitlich sehr gut Bescheid. Im Wesentlichen sind zwei Mechanismen für ein unkontrolliertes Wachstum von Zellen verantwortlich: Der Verlust von Kontrollfunktionen, die normalerweise Tumorsuppressor-Proteine sicherstellen, und die proliferationstreibenden Effekte von Onkoproteinen. Letztlich überwiegen durch die maligne Transformation Mechanismen, die Zellproliferation fördern, gegenüber Mechanismen, die fehlgesteuerte Zellen in Richtung eines kontrollierten Absterbens durch Apoptose zwingen.
Wie wäre es, die Dominanz der Zellproliferations-Mechanismen zu nutzen, um den Biosyntheseapparat der Zelle so durcheinander zu bringen, dass diese das Programm für ein kontrolliertes Absterben (Apoptose) anschaltet, dachten sich Forschende um den Entwicklungsbiologen Professor Dr. Gerald Crabtree und den Chemiker Professor Dr. Nathanael S. Gray von der Stanford University in Kalifornien. Sie testeten ihre Idee und veröffentlichten die Ergebnisse jetzt im Fachjournal »Nature«.
Die Forschenden untersuchten das Potenzial ihrer Idee am Beispiel des Gen für das Protein B-Zell-Lymphom 6 (Bcl6), das in Zellen des sich entwickelnden Immunsystems als ein Master-Transkriptionsfaktor die Proliferation von follikulären T-Helferzellen (TFH-Zellen) reguliert. Verliert das Gen durch Mutationen seine Kontrolleigenschaften, resultieren diffuse großzellige B-Zell-Lymphome, da Bcl6 an Promotoren von Zelltodgenen binden, was deren Expression unterdrückt.
Das Team um Crabtree und Gray dachte sich nun, ob man diese fehlgeleitete Funktion nicht ausnutzen kann, um genau das Gegenteil zu erreichen, nämlich das Anschalten von Zelltodgenen durch Bindung von Bcl6. Dies ließe sich erreichen, so die Hypothese, indem man die Eigenschaft des mutierten Bcl6-Proteins nutzt, um an Kontrollregionen von Zelltodgenen einen sehr aktiven Transkriptionsfaktor zu dirigieren.
Um dies zu realisieren, synthetisierten die Forschenden kleine Moleküle, die als »chemical inducers of proximity« (CIPs) bereits gut bekannt sind. Diese CIPs fungieren als Adapter für zwei verschiedene Moleküle, die auf diese Weise in eine enge räumliche Nachbarschaft zueinander gebracht werden.
Die von den Forschenden der Stanford University synthetisierten CIPs bezeichnen diese als transkriptionelle/epigenetische CIPs (TCIPs), da durch sie Proteine miteinander verbunden werden, die an der transkriptionellen oder epigenetischen Kontrolle beteiligt sind.
Konkret verbinden die synthetisierten TCIPs die beiden Proteine Bcl6 und Brd4. Brd4 gehört zur Familie der BET(bromodomain and extra-terminal domain)-Proteine, die, wenn sie in einer Chromatinregion binden, die Expression von Genen in dieser Region anschalten. Bei hämatologischen Krebsarten ist Brd4 oft am Start der Expression von Myc und anderen tumortreibenden Onkogenen beteiligt, weshalb auch intensiv an BET-Inhibitoren geforscht wird, die auch Brd4 inhibieren sollen.
Lenkt Bcl6 durch eine TCIP-vermittelte Bindung Brd4 an Stellen im Genom, von denen aus ein Apoptoseprogramm startet, wird dieser Transkriptionsaktivator, der normalerweise zum onkogenen Programm einer entarteten Zelle beiträgt, dazu »missbraucht«, die entartete Zelle in den Tod zu schicken.
Die Forschenden synthetisierten mehrere TCIPs, von denen sich eine Struktur mit dem Entwicklungsnamen TCIP1 als das wirksamste Molekül erwies. Es erhöht die Bindung von Brd4 über genomische Bcl6-Bindungsstellen um 50 Prozent, und bewirkte so innerhalb von 15 Minuten eine Transkriptionsverlängerung an proapoptotischen Zielgenen. Das führte dazu, dass TCIP1 diffuse großzellige B-Zell-Lymphom-Zelllinien, einschließlich chemotherapieresistenter TP53 -Mutantenlinien, abtötete. Die mittlere effektive Konzentration (EC50) lag in der Größenordnung von 1 bis 10 nM in den Fällen, in denen die Zellen innerhalb 72 Stunden abstarben. Diese Effekte waren zell- und gewebespezifisch.
Bis eine solche Substanz in die klinische Prüfung gelangt, ist es noch ein weiter Weg. Die Autoren diskutieren, dass die Aktivierung endogener Gene durch niedermolekulare TCIPs in vielen anderen Bereichen der Biologie und Medizin Anwendung finden könnten. Denkbar wäre beispielsweise, dass TCIPs zur Aktivierung von Todeswegen in alternden Zellen (seneszente Zellen), zur Aktivierung der Expression therapeutischer Gene, zur Aktivierung der Expression von Neoantigenen in der Humanimmuntherapie oder zur Regulierung der Genexpression in Zellen oder Organismen im Bereich der synthetischen Biologie eingesetzt werden könnten.