Krebsscreening verlängert Leben kaum |
Annette Rößler |
06.10.2023 14:00 Uhr |
Mit einer CT-Untersuchung des Thorax kann Lungenkrebs erkannt werden. Als Screening ohne Anlass führt die Methode aber noch nicht einmal bei aktiven und ehemaligen Rauchern insgesamt zu einer Verlängerung der Lebenszeit, ergab eine Metaanalyse. / Foto: Getty Images/peakSTOCK
Das Konzept der Früherkennung von Krebs leuchtet unmittelbar ein: Mit entsprechenden Untersuchungen sollen Krebserkrankungen in einem Stadium entdeckt werden, in dem sie noch nicht weit fortgeschritten sind, sodass eine kurative Therapie noch möglich ist. Dadurch soll Lebenszeit gewonnen werden. Bezogen auf die krebsspezifische Mortalität, also die Sterblichkeit an der Krebsart, auf die gescreent wurde, konnte das teilweise nachgewiesen werden. Da aber längst nicht alle Krebspatienten an der Tumorerkrankung sterben, ist ein Einfluss auf die Gesamtmortalität deutlich schwieriger zu belegen.
Um die Auswirkungen eines Screenings auf die Lebenserwartung zu quantifizieren, werde üblicherweise auf Modellrechnungen zurückgegriffen, schreibt eine Gruppe um Professor Dr. Michael Bretthauer von der Universität Oslo im Fachjournal »JAMA Internal Medicine«. Dabei würden die krebsspezifischen Effekte der einzelnen Untersuchungen auf die Gesamtsterblichkeit hochgerechnet. An dieser Methode gebe es aber durchaus Kritik und es sei nicht erwiesen, ob die so berechneten Ergebnisse korrekt sind. Besser sei es, als Datengrundlage klinische Studien mit einer langen Nachbeobachtungszeit heranzuziehen.
Genau dies taten die Forschenden nun im Rahmen einer Metaanalyse. In diese bezogen sie randomisierte klinische Studien mit einer Nachbeobachtungszeit von mehr als neun Jahren ein, in denen die Gesamtsterblichkeit und die geschätzte Lebenszeitverlängerung für Teilnehmer von sechs Krebsscreenings jeweils im Vergleich mit einer nicht gescreenten Kontrollgruppe (der Allgemeinbevölkerung) ermittelt wurde.
Die berücksichtigten Screeningmethoden waren: Mammografie für Brustkrebs, Koloskopie, Sigmoidoskopie und Test auf okkultes Blut im Stuhl (FOBT) für Darmkrebs, Computertomografie (CT) bei Rauchern und ehemaligen Rauchern für Lungenkrebs sowie Bestimmung des Prostata-spezifischen Antigens (PSA) für Prostatakrebs. In die Metaanalyse wurden 18 Studien mit insgesamt 2,1 Millionen Individuen eingeschlossen. Die mediane Nachbeobachtungszeit betrug zehn Jahre für Studien zur Raucher-CT, PSA-Wert-Bestimmung und Koloskopie, 13 Jahre für die Mammografie sowie 15 Jahre für die Sigmoidoskopie und den FOBT.
Als einzige Screeningmethode war die Sigmoidoskopie, also eine Darmspiegelung des Mastdarms und des letzten Teils des Dickdarms, mit einer statistisch signifikanten Lebenszeitverlängerung assoziiert: Diese betrug 110 Tage. Alle anderen Methoden führten laut den Berechnungen der Forschenden nicht zu einer statistisch signifikanten Lebenszeitverlängerung. Die CT-Untersuchung von Rauchern und Exrauchern war zwar mit einem Plus von 107 Lebenstagen verbunden, aber das 95-Prozent-Konfidenzintervall war mit −286 bis 430 Tagen so groß, dass dieses Ergebnis statistisch nicht belastbar war. Gleiches galt für die PSA-Wert-Bestimmung und die Koloskopie, also eine Spiegelung des gesamten Dickdarms (jeweils plus 37 Tage), sowie die Mammografie und den FOBT (jeweils plus 0 Tage).
Das Fazit der Autoren lautet daher: Mit der möglichen Ausnahme der Sigmoidoskopie widerlegen die Ergebnisse dieser Metaanalyse die These, dass Screeningverfahren zur Krebsfrüherkennung lebenszeitverlängernd für die gesamte gescreente Gruppe wirken. Das dürfte für viele Leser sowohl unerwartet als auch enttäuschend sein. Nicht so groß dürfte die Überraschung allerdings bei denjenigen sein, die sich noch an eine Publikation von Bretthauer und Kollegen aus dem Oktober 2022 im »New England Journal of Medicine« erinnern, in der die Autoren bereits die postulierte Effektivität der Koloskopie infrage stellten beziehungsweise deutlich nach unten korrigierten.
In einem begleitenden Meinungsbeitrag zur vorliegenden Arbeit erörtern Bretthauer sowie die beiden Seniorautoren Professor Dr. Hans-Olov Adami und Professor Dr. Mette Kalager nun, warum die Wirksamkeit der diversen Krebsfrüherkennungsuntersuchungen aus ihrer Sicht allgemein massiv überschätzt wird. Innerhalb der Fachszene werde die Sinnhaftigkeit der Screenings mittlerweile zwar durchaus kontrovers diskutiert. Aus politischen Gründen sei es aber nahezu unmöglich, einmal implementierte Screenings, die sich als unwirksam erwiesen hätten, wieder abzuschaffen. Denn alle, die an einer solchen Entscheidung beteiligt sein könnten, hätten Interessenkonflikte.
Da seien zum einen die Ärzte, die für die Durchführung der Untersuchungen bezahlt würden und deshalb befangen seien. Zum anderen hätten Gruppen von (ehemaligen) Patienten einen großen Einfluss. Diese bestünden meist aus relativ gesunden Krebsüberlebenden, von denen viele selbst glaubten, durch das Screening gerettet worden zu sein, was aber meist nicht stimme: Größtenteils hätten diese Patienten wahrscheinlich an einer nicht tödlichen Erkrankung gelitten, sodass die Krebsdiagnose im Rahmen des Screenings und die unnötige Therapie für sie in Wirklichkeit einen Schaden dargestellt habe.
Krebsgesellschaften müssten, um wahrgenommen und finanziert zu werden, sichtbar sein und setzten sich allein schon deshalb lautstark für die Screenings ein. Und schließlich scheuten Politiker den Konflikt mit all diesen Akteuren, um wiedergewählt zu werden. Um zu einer sachlichen Diskussion über die Vor- und Nachteile der Screenings zu gelangen, müssten all diese Interessenkonflikte offengelegt werden, fordern die Autoren.
Nicht alle Experten halten allerdings den Ansatz der Forschenden, einzig den Effekt auf die Gesamtmortalität gelten zu lassen, für richtig. So wies Professor Dr. Monika Klinkhammer-Schalke, Direktorin am Tumorzentrum Regensburg und Vorstandsvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Tumorzentren (ADT), gegenüber dem »Deutschen Ärzteblatt« darauf hin, dass »dass in randomisierten kontrollierten Studien zum Screening die Gesamtmortalität von nicht tumorspezifischen Todesursachen wie zum Beispiel Herzinfarkt oder Schlaganfall bestimmt wird, zum Teil auch bei Tumorpatienten«.
»Der zu bevorzugende Endpunkt ist sicher die tumorspezifische Sterblichkeit«, lautet daher ihre Einschätzung. Denn der Effekt des Screenings auf die tumorspezifische Sterblichkeit sei klinisch relevant, der (vernachlässigbare) Effekt auf die Gesamtsterblichkeit demgegenüber nicht.