Kontroverse zwischen Ideal und Realitäten |
Bereits zugelassene und gut dokumentierte Arzneimittelstoffe könnten bei weiteren Indikationen schnell zum Einsatz kommen. Allerdings ist das nicht immer so einfach. / Foto: Getty Images/Oleksandra Troian
»Noch längst ist das Potential, das unser bewährter, sicherer und therapeutisch wertvoller Arzneimittelschatz vorhält, nicht ausgeschöpft«, machte Professor Theo Dingermann bei der Debatte deutlich. Der »Eppendorfer Dialog« zur Gesundheitspolitik findet seit 2006 jährlich statt. Die Moderation übernahm dieses Jahr Professor Achim Jockwig aus Nürnberg.
Als Beispiele für erfolgreiche Repurposing-Strategien nannte Dingermann unter anderem die Weiterentwicklung des Krebsmedikaments Azidothymidin zu einem wichtigen HIV-Therapeutikum, die Neupositionierung von Thalidomid als Lepra- beziehungsweise Krebs-Medikament und die Erfolgsstory des Phosphodiesterase-5(PDE-5)-Hemmers Sildenafil in der Behandlung der erektilen Dysfunktion durch Entdeckung seiner Potentiale in der Therapie der pulmonalen arteriellen Hypertonie.
»Es gibt viele Möglichkeiten, alte bewährte Wirkstoffe zu neuen Medikamenten und therapeutischen Innovationen fortzuentwickeln und somit auch wirtschaftliche Vorteile für das Gesundheitssystem zu erschließen«, unterstrich Dr. Norbert Gerbsch, Hohenlockstedt. Diese Fortentwicklung sei jedoch insbesondere mittelständischen Unternehmen durch die in Deutschland praktizierten Erstattungsregulierungen von Arzneimitteln sowie mangelnde Refinanzierungsmöglichkeiten von Forschungsaktivitäten weitgehend versperrt, kritisierte er. Gerbsch sprach nicht nur von verpassten Chancen, sondern mit Blick auf die potenzielle Gefährdung der Arzneimittelversorgung auch von großen Risiken.
Der wirtschaftliche Druck, der auf bewährten patentfreien Wirkstoffen liege, trage zur Verlagerung der Herstellung von Arzneimitteln und Inhaltsstoffen in Weltregionen außerhalb der EU und somit zu gefährlichen Abhängigkeiten der Bundesrepublik unter anderem bei denkbaren Naturkatastrophen oder in politischen Krisensituationen bei. Die Coronavirus-Pandemie habe gezeigt, wie schnell internationale Lieferketten bedroht sein können.
Bereits in den letzten Jahren sei eine erhebliche Zunahme von Lieferengpässen insbesondere bei Arzneimitteln mit patentfreien Wirkstoffen, auf die in Deutschland fast 95 Prozent der Verordnungen entfallen, zu beobachten. Die ABDA bezifferte die Zahl nicht verfügbarer Packungen für Arzneimittel unter Rabattvertrag in 2019 auf 18,2 Millionen Stück. Die Tendenz sei steigend.
Gleichzeitig seien die Erlöse der gesetzlichen Krankenkassen aus Rabattverträgen, in deren Rahmen rund 56 Prozent aller Arzneimittelpackungen abgegeben werden, zwischen 2008 und 2019 von 0,3 auf 4,9 Milliarden Euro gestiegen. Schließlich zeige eine Studie von Pro Generika, dass 2020 nur noch rund ein Drittel der Qualitätszertifikate für die Herstellung von Wirkstoffen in Europa, dagegen nahezu zwei Drittel in Asien gehalten wurden.
Ob Förderung der Chancen zur Fortentwicklung bewährter Arzneistoffe oder Sicherung der Arzneimittel-Versorgung auch in Not-Zeiten: Gerbsch forderte unter anderem die Aussetzung von Festbeträgen und Preismoratorien für Wirkstoffe in neuen Anwendungsgebieten unter Berücksichtigung spezifischer Umsatz- und Absatzschwellen sowie mit Blick auf die Rabattverträge den Erhalt der Anbietervielfalt durch Erteilung der Zuschläge an jeweils drei Hersteller.
»Die Qualität der Versorgung steht an erster Stelle. Zudem ist jedoch ihre Wirtschaftlichkeit im Blick zu behalten. Dies gilt für neue Therapieoptionen genauso wie für die Beibehaltung des hohen Versorgungsstandards unter anderem bei den Volkskrankheiten. Durch Festbeträge und Rabattverträge ist diese Wirtschaftlichkeit gut im Griff zu behalten«, machte Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes deutlich.
Litsch betonte, dass die gesetzlichen Krankenkassen die Preisentwicklung bei Arzneimittelneueinführungen mit großer Sorge betrachten. Obwohl sie nur einen geringen Versorgungsanteil aufweisen (2019: 7 Prozent), hätten diese einen erheblichen Einfluss auf die Umsatzentwicklung. Er sprach von plus 5,8 Prozent in 2019. Das entspräche circa 2,57 Milliarden Euro. Jedes vierte neue Präparat koste inzwischen mehr als 100.000 Euro pro Jahr. Zudem bestehe bei Marktneuzugängen häufig große therapeutische Unsicherheit, weil Belege zum Zusatznutzen gegenüber etablierten Therapiestandards und zur Dauerhaftigkeit positiver Therapieeffekte fehlen. Eine entsprechende Reform der Preisbildung für neue Arzneimittel, die das erste Jahr nach der Zulassung neu reguliert, sei daher überfällig.
Die im ersten Jahr frei gesetzten Startpreise der Hersteller werden zur Benchmark für die im Anschluss stattfindenden Erstattungsbetragsverhandlungen. Mit einem Interimspreis ließe sich von Anfang an ein fairer Preis realisieren. Dieser würde vom GKV-Spitzenverband auf der Basis der vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) festgelegten Vergleichstherapie rechnerisch abgeleitet und wäre gültig vom Marktzugang bis zum Bekanntwerden des Erstattungsbetrags, der den Interimspreis anschließend rückwirkend ersetzt. Zudem könnte der Start der Nutzenbewertung in das Zeitfenster zwischen Zulassung und offiziellem Marktzugang vorverlegt werden. Auch der Zeitraum für die Erstattungsbetragsverhandlungen ließe sich halbieren, wenn statt bis zu fünf künftig maximal drei Runden stattfänden.
Stichwort »Vermeidung von Lieferengpässen«: Um stets eine sichere und stabile Arzneimittelversorgung zu gewährleisten, sei das Gebot der Stunde mehr Transparenz, sprich: mehr Durchblick über die Bedingungen, die Orte und die Art und Weise der Produktion. Woher kommen die Wirkstoffe? Werden bei der Produktion Umwelt- und Sozialstandards beachtet? Um hier für mehr Klarheit zu sorgen, habe die AOK-Gemeinschaft die Regelungen ihrer Rabattverträge bereits erweitert und zudem mehr Reserven vorgesehen. Darüber hinaus sei der Gesetzgeber gefordert. Dieser könne für vollständige Transparenz über die gesamte Lieferkette vom pharmazeutischen Hersteller über den Großhandel bis hin zu den Apotheken und auch für bessere Qualitätskontrollen sorgen. Somit könnten frühzeitiger Probleme erkannt werden. Auch brauche es klare gesetzliche Vorgaben für die Erweiterung der Lagerhaltung beim Großhandel und bei den Herstellern. Litsch zeigte sich erfreut, dass der Ruf nach mehr europäischer Kooperation und Koordination lauter wird.