Keine starke Immunflucht bei indischer Variante |
Christina Hohmann-Jeddi |
29.04.2021 14:58 Uhr |
Indien erlebt gerade eine schwere Pandemiewelle, dabei kursieren mehrere Varianten des Coronavirus parallel. / Foto: Adobe Stock/Zenith
Die schwere Pandemiewelle in Indien und Berichte über eine neue Mutante dort sind beunruhigend. Die neue Variante mit der Bezeichnung B.1.617 besitzt Mutationen an drei strukturell wichtigen Stellen im Spike-Gen von SARS-CoV-2: L452R, E484Q und P681R. Diese verändern die Struktur des Oberflächenproteins und können damit womöglich die Eigenschaften des Virus beeinflussen. Inwieweit sich dies auf die Pathogenität des Erregers und seine Fähigkeit, dem Immunsystem zu entkommen, auswirkt, ist bislang noch nicht ausreichend untersucht.
Damit angefangen hat jetzt ein Team um Pragya D. Yadav vom Nationalen Institut für Virologie in Pune im indischen Bundesstaat Maharashtra. Die Forschenden untersuchten die neutralisierende Wirkung von Blutseren auf die Varianten B.1.617, B.1.1.7 und B1. Letztere war zu Beginn der Pandemie stark zirkuliert. Das Team verwendete Blutseren von 17 Personen, die in der Vergangenheit eine Corona-Infektion durchgemacht hatten, und von 28 Personen, die mit dem indischen Totimpfstoff Covaxin (BBV152) geimpft worden waren.
Sowohl die Seren der Covid-19-Genesenen als auch die der geimpften Personen konnten alle drei Virusvarianten neutralisieren, heißt es in einer Vorveröffentlichung auf dem Preprint-Server »BioRxiv«. Allerdings war die Neutralisationswirkung gegen B.1.617 etwas schwächer als gegen die beiden anderen Varianten, was auf ein partielles Entkommen der Immunantwort hinweisen könnte. Sie war etwa halb so hoch wie bei der Ursprungsvariante und bei B.1.1.7.
Demnach scheint die Immunflucht bei der Variante nicht so stark ausgeprägt zu sein. Doch die beiden Aminosäureänderungen E484Q und L452R betreffen die Rezeptor-Bindedomäne des Spike-Proteins und könnten die Übertragbarkeit des Virus erhöhen, heißt es in der Publikation. Dies wird derzeit auch für die kalifornische Variante CAL.20C angenommen, die L452R enthält. Wie sich diese Mutation in Kombination mit E484Q verhält, ist noch unklar.
Bei E484Q befindet sich an der Stelle 484 im Protein anstelle der Glutaminsäure (E) ein Glutamin (Q). Die südafrikanische Variante B.1.351 und die brasilianische Variante P.1 weisen ebenfalls an dieser Position eine Veränderung auf. Allerdings ist hier die Glutaminsäure durch ein Lysin (K) ersetzt: E484K.
Noch sind die biologischen Eigenschaften der indischen Variante nicht vollständig untersucht. Der Virologe Professor Dr. Christian Drosten zeigt sich angesichts der bisherigen Erkenntnisse über B.1.617 aber relativ gelassen. Anhand der sehr kleinen verfügbaren Datenbasis lasse sich schließen, dass die Mutante nicht allein die heftige Infektionswelle in dem Land verursache, »sondern das ist mehr eine bunt gemischte Virus-Population«, sagte der Wissenschaftler von der Charité in Berlin im Podcast »Coronavirus-Update« (NDR-Info) am Dienstagabend. Auch die ansteckendere Variante B.1.1.7, die mittlerweile hierzulande dominiert, sei in Indien stark vertreten.
In dem Land kommen derzeit aus Sicht Drostens mehrere Effekte zusammen: Herdenimmunität sei dort einer Studie zufolge bei Weitem noch nicht erreicht gewesen. Es werde nun eine Bevölkerung durchseucht, die schon die Anfangsimmunität aus den bisherigen Wellen zu verlieren beginne, sagte der Virologe. Gleichzeitig sei die Variante B.1.617 etwas verbreitungsfähiger und robuster gegen die Immunität. In der Fachsprache ist von Immunescape (Immunflucht) die Rede. Diese Eigenschaft sei bei B.1.617 leicht ausgeprägt. Das sei auch im Vergleich mit anderen Varianten »nichts, was einen wirklich groß beunruhigt«, so Drosten.
Auch gebe es bislang keine Belege, dass Menschen durch B.1.617 schwerer erkrankten. »Wenn viele Leute zur gleichen Zeit infiziert werden, dann hat man auch bei den jüngeren Altersgruppen auf einmal, absolut gesehen, ganz viele Kranke in einem kurzen Zeitfenster.« Drosten machte aber deutlich, dass sich der Kenntnisstand ändern kann: »Es kann sein, dass sich in zwei Monaten herausstellt, dass doch irgendwas mit diesem Virus ist.«
Auch in Deutschland ist die indische Variante schon aufgetaucht. Die Zahl der Nachweise bleibt laut Robert-Koch-Institut (RKI) aber relativ gering. Bisher sei sie »nur vereinzelt«, 22 Mal, in untersuchten Proben entdeckt worden, heißt es in einem RKI-Bericht vom 28. April. In der Vorwoche hatte das Institut von 21 Funden gesprochen. Laut Bericht bleibt es hierzulande bei der Dominanz der besonders ansteckenden Variante B.1.1.7, die sich in den vergangenen Monaten rasch ausgebreitet hatte: Es sei »keine Abschwächung« zu beobachten, schreibt das RKI über die in Großbritannien entdeckte Mutante.
Bei den beiden anderen als besorgniserregend eingestuften Varianten B.1.351 und P.1 bleiben die Anteile konstant gering bei etwa 1 Prozent, wie aus den Daten hervorgeht. In Deutschland wird allerdings nur ein Bruchteil der Proben mit Gesamtgenomsequenzierung auf Varianten untersucht.
Die indische Variante steht bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unter Beobachtung und ist im Gegensatz zu B.1.1.7, B.1.351 und P.1 nicht als besorgniserregend eingestuft. Das RKI schreibt, dafür fehlten gegenwärtig gesicherte Erkenntnisse. Bei der Einstufung von Varianten geht es vor allem darum, ob eine verringerte Wirksamkeit der Immunantwort und/oder einer erhöhte Übertragbarkeit vorliegt.
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