Kaum innovative Arzneiformen |
Professor Dr. Jörg Breitkreutz: »Kleine Kinder haben eine natürliche Abneigung gegen bitteren Geschmack.« / Foto: PZ/Alois Müller
PZ: Viele Arzneistoffe schmecken bitter. Warum lehnt der Nachwuchs alles, was bitter schmeckt, ab?
Breitkreutz: Kleine Kinder haben eine natürliche Abneigung gegen diese Geschmacksnote. Evolutionär war das ein Vorteil. Viele giftige Naturstoffe wie Alkaloide schmecken bitter. Kinder, die diese Pflanzen nicht gegessen haben, überlebten eher und konnten die Eigenschaft weitervererben. Der Schutzmechanismus hat sogar zwei Stufen. Bitterrezeptoren befinden sich nämlich außer in der Mundschleimhaut auch in der des Magens. Werden doch mal Giftstoffe geschluckt, löst die Reaktion an den Bitterrezeptoren im Magen einen Brechreiz aus. Da sich die Expression von Bitterrezeptoren im Lauf der Zeit verändert, reagieren ältere Kinder und Erwachsene weniger empfindlich auf Bitterstoffe.
PZ: Wie kann man einen unangenehmen Antibiotika-Geschmack kaschieren?
Breitkreutz: Das Geschmacksempfinden im Mund lässt sich oft durch große Mengen süßer Substanzen, klassisch Saccharose oder Glucose, verändern. Bei bitteren Substanzen funktioniert das jedoch nur bedingt. Dann bleibt noch das Problem, dass bei einer Interaktion mit den Bitterrezeptoren im Magen-Darm-Trakt das Kind die Medizin wieder erbrechen würde.
Um den Brecheffekt zu umgehen, würde es auch reichen, wenn das Kind die bittere Arznei zusammen mit viel Nahrung aufnimmt. Das verdünnt die Konzentration an Bitterstoffen. In der Praxis funktioniert das allerdings meist nicht, da kranke Kinder in der Regel wenig Appetit haben.
PZ: Und welche technologischen Möglichkeiten stehen zur Verfügung?
Breitkreutz: Zielführender ist es, Wirkstoffpartikel mit einem indifferenten Film zu überziehen. Mikropellets im Saft dürfen allerdings nicht zerkaut werden, sondern müssen im Ganzen geschluckt werden. Auf diesem Prinzip beruhen zum Beispiel einige Trockensäfte mit Makroliden. Andere Maskierungsmöglichkeiten, zum Beispiel die molekulare Bindung an Ionenaustauscher oder Komplexbildner (Cyclodextrine) oder die Gabe eines pharmakologischen Bitterrezeptorblockers, kommen bei kleinen Kindern wegen der unklaren toxikologischen Auswirkungen und zugleich den erforderlichen großen Einnahmemengen – klassische Antibiotika wie Penicilline oder Cephalosporine sind hoch dosiert – nicht zum Einsatz.
PZ: Lohnt es sich angesichts des Kostendrucks im Gesundheitssystem noch, an innovativen Arzneiformen zu forschen?
Breitkreutz: Die Motivation der Hersteller, speziell an Arzneiformen für Kinder zu forschen, ist zurückgegangen. Das PUMA-Programm (Paediatric use marketing authorisation) der Europäischen Union hat bislang nur zu sechs Zulassungen geführt. Möglicherweise machen es die aktuellen Maßnahmen des Bundesgesundheitsministeriums wieder attraktiver, Arzneimittel für Kinder zu entwickeln und zu produzieren. Wenn weniger Kostendruck herrscht, sind Hersteller innovationsfreudiger. Das sehen wir am Beispiel der Orphan Drugs.
PZ: Können sich neue Arzneiformen überhaupt im Markt behaupten?
Breitkreutz: Leider mussten in der Vergangenheit bereits Innovationen vom Markt genommen werden, da ein Zusatznutzen nicht anerkannt wurde und die Produkte dadurch unwirtschaftlich wurden. Ein Beispiel ist Clarosip, ein Trinkhalm mit geschmacksneutralen Clarithromycin-Pellets. Das Applikationssystem enthielt in drei Stärken eine Einmaldosis Clarithromycin und war anwenderfreundlich für Kinder.