Kartoffel-Amulett als Heilmittel |
Jennifer Evans |
26.03.2024 07:00 Uhr |
Kartoffeln sind Teil der europäischen Kulturgeschichte. Die Nachtschattengewächse galten als Heilmittel für einige Erkrankungen. / © Getty Images/Aferist
Eine Kartoffel ist nicht einfach nur ein Nahrungsmittel. Einige Kulturen haben dem Erdapfel heilende Kräfte zugesprochen. Ihre Wirkung auf die Gesundheit verstärkte sich demnach noch, wenn die Knolle gestohlen war. Das berichtet Anna Marie Roos, Professorin für Geschichte der Wissenschaft und Medizin an der Universität in Lincoln.
Im viktorianischen Zeitalter trugen die Menschen verschiedene Gemüsesorten um den Hals – entweder ganz oder pulverisiert in Beuteln. Mit diesen medizinischen Amuletten wollten sie Krankheiten abwehren oder heilen. Mit den Kartoffeln insbesondere Rheuma. Tatsächlich befindet sich in der Kartoffelschale sowie den grünen oder keimenden Stellen das giftige Solanin. Das ist laut Roos chemisch eng mit dem Atropin der Tollkirsche, einem giftigen Tropan-Alkaloid, verwandt. Und Atropin-Creme wiederum sei, manchmal in Kombination mit Morphin, zur Linderung von Rheuma-, Ischias- und Neuralgie-Schmerzen zum Einsatz gekommen, wie Roos in einem Beitrag auf der Wissenschaftsplattform »The Conversation« schreibt.
Obwohl es dafür keine wissenschaftliche Grundlage gebe, wird Atropin bis heute in medizinischen Notfällen zur Erweiterung der Pupillen oder zur Erhöhung des Herzschlags verwendet. Warum die Kartoffeln jedoch für die optimale Wirkung bestenfalls gestohlen sein mussten, sei noch unklar, so Roos. Sie geht allerdings davon aus, dass diese Tatsache Teil des Charmes ausmachte.
Als Nachschlagewerke für die in der medizinischen Praxis verwendeten Substanzen galten bis in die Renaissance Bücher aus der Antike, etwa des griechischen Arztes Pedanios Dioskurides oder des Naturforschers Plinius. Darin fand sich unter anderem die Alraune, eine giftige Heilpflanze. Als Schmuck galt sie als Zaubermittel für Fruchtbarkeit. Die Wurzeln kamen auch als Narkosemittel sowie zur Schmerzlinderung bei Arthritis zum Einsatz.
Der Schweizer Arzt Paracelsus aus dem 16. Jahrhundert entwickelte solche Theorien weiter und behauptete, dass jede Pflanze eine Art Zeichen besitze, das auf den erkranken Körperteil hinweise. Linsen und Raps sollten also Pocken heilen, weil die Samen den Pockenpusteln ähnelten. Also hingen die Menschen sich auch Teile der Hülsenfrüchte und Kreuzblütengewächse um den Hals.
Kein Wunder also, dass zur Sammlung des englischen Pitt Rivers Museums insgesamt elf Kartoffeln zählen. Das Museum gehört zur Universität Oxford und beherbergt seit 1884 die anthropologische und archäologische Sammlung der Hochschule. Die Knollen sind zwar beschriftet und katalogisiert, allerdings sind die Namen der Vorbesitzer in der Regel unbekannt. Logisch, meint Roos, denn die meisten der Kartoffeln seien ja gestohlen worden, bevor sie an das Museum gespendet wurden.