Ist Wimpernserum ein Arzneimittel? |
Ev Tebroke |
05.01.2023 14:00 Uhr |
Entscheidung des EuGH: Ob ein Präparat als Kosmetik oder als Funktionsarzneimittel einzustufen ist, orientiert sich an gewissen Kriterien . Eine konkrete Bewertung kann aber stets nur im Einzelfall erfolgen. / Foto: picture alliance / CHROMORANGE
Ist ein Serum zur Förderung des Wimpernwachstums ein Kosmetikum oder handelt es sich um ein Funktionarzneimittel, das eine Zulassung mit einem Nachweis wissenschaftlicher Studien zu Wirksamkeit und Nebenwirkungen benötigt? Über die entscheidenden Kriterien für eine entsprechende Bewertung gibt ein aktuelles Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) Aufschluss. Im konkreten Fall geht es um ein Produkt zu Wimpernverlängerung namens »M2 Eyelash Activating Serum«. Dabei handelt es sich um ein Serum mit dem Wirkstoff »Methylamido-Dihydro-Noralfaprostal« (MDN), das laut Hersteller M2Beauté Cosmetics, einmal täglich auf dem oberen Lidrand am Wimperansatz aufgetragen, zu dichteren und längeren Wimpern führen soll. Und zwar laut Werbung um bis zu 50 Prozent. MDN ist ein neuartiger synthetischer Wirkstoff, der zur Gruppe der Prostaglandinderivate gehört, die mit dem menschlichen Gewebshormon Prostaglandin verwandt sind.
Der Hersteller hatte das Wimpernserum als Kosmetik in den Verkehr gebracht, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sah dies jedoch anders und stufte das Präparat als zulassungspflichtiges Arzneimittel ein. Mit Bescheid vom 29. April 2014 verwies die Bundesoberbehörde darauf, dass das Wimpernserum aufgrund seiner pharmakologischen Wirkung Merkmale eines Funktionsarzneimittels aufweise. Der Hersteller reichte daraufhin am 9. November 2017 Klage vor dem Verwaltungsgericht Köln (VG) ein und verlangte eine Aufhebung des Bescheids. Er machte geltend, dass die pharmakologische Wirkung des betreffenden Produkts nicht nachgewiesen worden sei und berief sich auf die EU-Richtlinie 2001/83 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe sich, dass der Begriff Arzneimittel im Sinne der Richtlinie 2001/83 keine Stoffe erfasse, deren Wirkungen sich auf eine schlichte Beeinflussung der physiologischen Funktionen beschränkten, ohne dass sie geeignet wären, der menschlichen Gesundheit unmittelbar oder mittelbar zuträglich zu sein, wie es nach Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 verlangt werde.
Das VG Köln hatte nun die schwierige Frage zu beurteilen, wie generell die Grenze zwischen Arzneimittel und Kosmetikum zu ziehen ist und anhand welcher Kriterien. Es wandte sich am 19. Dezember 2020 in der Sache an den EuGH und wollte per Vorabentscheid einige Punkte geklärt wissen (Aktenzeichen C-616/20). Dabei ging es erstens darum, ob eine nationale Behörde sich bei der wissenschaftlichen Feststellung der pharmakologischen Eigenschaften eines Produkts sowie seiner Risiken auf eine sogenannte Strukturanalogie stützen kann – wobei die Bewertung also anhand bereits bekannter und untersuchter Wirkstoffe erfolgt, ohne dass der Antragsteller eigene Untersuchungen zu Wirkungsweisen des neuen Stoffs vorgelegt hat.
Zudem wollte das VG im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 dahin auszulegen ist, dass ein Produkt, das die physiologischen Funktionen beeinflusst, aber keine gesundheitsfördernde Wirkung hat, als Arzneimittel im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden kann, wenn es das Aussehen verbessert, ohne schädliche Eigenschaften zu haben.
In seinem nun veröffentlichten Urteil vom 13. Oktober 2022 schafft der EuGH Klarheit und benennt maßgebliche Kriterien für die Abgrenzung von Funktionsarzneimitteln zu anderen Produkten insbesondere zu Kosmetika. Demnach kann eine nationale Behörde sich bei der Einstufung eines Produkts als Arzneimittel auch auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu einem strukturanalogen Stoff berufen, »wenn keine wissenschaftlichen Untersuchungen des Stoffes, aus dem das Produkt besteht, verfügbar sind und sofern der Grad der Analogie auf der Grundlage einer objektiven und wissenschaftlich fundierten Analyse die Annahme zulässt, dass ein Stoff, der in einem Produkt in einer bestimmten Konzentration vorhanden ist, die gleichen Eigenschaften aufweist wie ein vorhandener Stoff, für den die erforderlichen Untersuchungen vorliegen«. Das BfArM bezog sich bei der Einstufung von MDN auf den in seiner Molekularstruktur weitgehend identischen Wirkstoff Bimatoprost (BMP), der in Deutschland als Arzneimittel zugelassen und unter dem Namen Lumigan® in Augentropfen zur Behandlung des Glaukoms vertrieben wird. In den USA wurde BMP ebenfalls bei einer Hypotrichose der Wimpern als Arzneimittel zugelassen und wird unter dem Namen Latisse® vertrieben.
Grundsätzlich betonen die EuGH-Richter, eine Beurteilung zur Einstufung eines Produktes als Funktionsarzneimittel sei stets eine Einzelfallprüfung. »Ob ein Produkt der Gesundheit zuträglich ist, kann daher nicht abstrakt beurteilt werden, ohne den spezifischen Gebrauch dieses Produkts zu berücksichtigen«, heißt es im Urteil. Die bloße Tatsache, dass ein Produkt das Aussehen verbessert, ohne schädliche Eigenschaften zu haben, reiche zudem nicht für die Annahme aus, dass es gesundheitsfördernde Wirkungen habe und somit der Definition des Funktionsarzneimittels entsprechen könne.
Entscheidendes Kriterium für die Einstufung eines Produkts als Funktionsarzneimittel ist laut EuGH-Einschätzung der Umstand, dass es, auch wenn keine Krankheit vorliegt, zu therapeutischen Zwecken verschrieben werden kann.
Die Richter der Zweiten Kammer kommen zu dem Schluss, dass ein Produkt, das die physiologischen Funktionen beeinflusst, nur dann als Arzneimittel eingestuft werden kann, wenn es konkrete, der Gesundheit zuträgliche Wirkungen hat. Insoweit genügt eine Verbesserung des Aussehens, die durch die Steigerung des Selbstwertgefühls oder des Wohlbefindens einen mittelbaren Nutzen herbeiführt, wenn sie die Behandlung einer anerkannten Krankheit ermöglicht. Dagegen könne ein Produkt, das das Aussehen verbessert, ohne schädliche Eigenschaften zu haben, und das keine gesundheitsfördernden Wirkungen hat, nicht als Arzneimittel im eigentlichen Sinne eingestuft werden.