Wenn die Winter-Depression zur Gefahr wird |
12.11.2001 00:00 Uhr |
von Wolfgang Kappler, Homburg/Saar
Sie tut nicht weh und der Hausarzt resigniert, weil er keine körperliche Ursache findet. Der von Niedergeschlagenheit, Angst, innerer Lähmung, Müdigkeit, Freud-, Hoffnungs-, Rat- und Hilflosigkeit geplagte Patient packt also seine Schuld- und Leidgefühle wieder ein, fühlt sich unverstanden und als Hypochonder. Förmlich spürt er den mitleidsvollen, vielleicht auch lächelnden Blick des Arztes auf sich ruhen, der ihn nicht ernst nehmen will.
Auf dem Weg ins Büro wird ihm speiübel angesichts der dort wartenden Arbeit, die er nicht mehr zu bewältigen vermag. Nach Hause also. Doch dort funktioniert schon lange nichts mehr. "Daran bin nur ich alleine Schuld", hämmert es in seinem Kopf, und plötzlich sind sie da, die Bilder von Schlaftablettenröhrchen, von Brücken und Hochhäusern, von denen man sich hinabstürzen und von Bäumen, gegen die man mit dem Wagen rasen könnte. Schluss machen, sich endgültig befreien von allem Grübeln und aller Selbstkritik, von aller Minderwertigkeit, Last und Schuld.
Noch immer unterschätzt
Vier Millionen Bundesbürger schlingern mit solchen Gedanken durch ihr Leben, das ihnen keinerlei Freude mehr beschert. Ein Großteil legt in höchster Verzweiflung Hand an sich selbst, bei 12.000 ist die von vielen anderen Menschen nur schwer nachvollziehbare Handlung von einem traurigen und erschütternden Erfolg gekrönt. "Und alles nur deshalb, weil die Krankheit Depression noch immer in ihrer Schwere unterschätzt wird", bedauert der Münchener Psychiater Professor Dr. Ulrich Hegerl, der auch in diesem Winter mit 10 Prozent mehr Depressionen rechnet als in den restlichen Jahreszeiten. Denn dann hält die so genannte Winter-Depression wieder Tausende von Menschen unbarmherzig im Griff, und auch die Zahl vermeidbarer Selbsttötungen wird zunehmen.
Wie die normale Depression ist auch die wahrscheinlich auf einem Lichtmangel beruhende Winter-Depression keine Einbildung, sondern eine missverstandene Krankheit mit bisweilen tödlichem Verlauf. Bei den Todesfällen handelt es sich jedoch nicht immer um Selbstmorde. Depressionen verdoppeln zum Beispiel auch das Risiko, etwa an einer bereits bestehenden Herzerkrankung zu sterben.
Auch die Winter-Depression ist geprägt von innerlicher Versteinerung, Gefühlsverlust und Freudlosigkeit. Lediglich in zwei Punkten unterscheidet sich die seit 1987 auch als saisonal abhängige Depression (SAD) bezeichnete Erkrankung vom üblichen Krankheitsbild. Hegerl: "Depressionen gehen meist mit Appetitlosigkeit und Schlaflosigkeit einher. Winterdepressive verspüren hingegen einen ungeheuren Heißhunger auf Kohlehydrate, also Süßigkeiten und Teigwaren, und sie leiden nicht an Schlaflosigkeit, sondern haben ein ausgeprägtes Schlafbedürfnis, das jedoch kaum Erholung bringt."
Winter-Blues ist normal
Abzugrenzen ist die Winter-Depression vom Winter-Blues, jener jahreszeitlich bedingten Verstimmung und Melancholie, die uns an trüben Tagen die Vergänglichkeit allen Lebens spüren lässt, und die im Grunde als normal, weil kurzzeitig und vorübergehend, anzusehen ist. Auch macht uns der Winter-Blues deutlich, dass wir längst unseren Alltag unabhängig vom Wechselspiel der Jahreszeiten gestalten, also nicht mehr im Einklang mit der Natur leben.
Drohen sich üble Gedanken aber festzusetzen, sollte der Betroffene unbedingt einen Arzt aufsuchen. Denn die Winter-Depression ist ein Indiz für eine zugrunde liegende, weniger ausgeprägte Depression. Und die ist, darin sind sich die Experten einig, bei 80 Prozent der Patienten gut behandelbar.
Die derzeit gängige Erklärung für die SAD: Lichtmangel erhöht die Ausschüttung des schläfrig machenden Nervenbotenstoffes Melatonin und inaktiviert den Stimmungsaufheller Serotonin. Weil letzterer sich auch in Schokolade und Nudeln findet, erklärt dies nach Meinung einiger Fachleute den Heißhunger.
Mehr Ruhe im Winter
In grauer Vorzeit hatte die Botenstoff-Regulation durch Licht durchaus ihre Berechtigung: Sie zwang zur "Winterschlaf". Diesem natürlichen Vorgang widersetzt sich freilich die auf fortwährende Leistung programmierte Nachkommenschaft Adams. Und sie überhört dabei die Signale der Seele, die, wenn sie schon nicht schlafen darf, nach Licht schreit. Ein Schrei, den viele psychiatrische Krankenhäuser, Institute und niedergelassene Ärzte vernommen haben. Sie halten so genannte Lichtduschen vor, die Licht mit einer Intensität um die 10.000 Lux abgeben. Über die Augen aufgenommen, normalisiert es im Verlauf weniger Wochen die Verfügbarkeit von Serotonin und Melatonin.
Statt der künstlichen Lichttherapie gibt Psychiater Professor Dr. Volker Faust, Leiter der Arbeitsgemeinschaft Psychosoziale Gesundheit, dem einstündigen Spaziergang den Vorzug. "Selbst ein bedeckter Himmel weist mehr Helligkeit auf als sie künstliches Licht je zu erreichen vermag." Ganz zu schweigen von der Bewegung, die bei der Behandlung von Depressionen wahre Wunder wirkt.
Medikamentös haben sich Präparate bewährt, die Serotonin verfügbar machen und den Mangel des Hormons Noradrenalin beheben sollen. Auch Johanniskraut-Extrakte können sich günstig auswirken. Von einer Selbstmedikation einer Winter-Depression rät Faust jedoch ab, weil sich dahinter oft eine schlummernde depressive Erkrankung verbirgt. Einen Arzt aufsuchen sollten in jedem Falle diejenigen, die in aufeinander folgenden Wintern unter den beschriebenen Symptomen gelitten haben und leiden.
© 2001 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de