Apotheker sind zu gutgläubig |
20.10.2003 00:00 Uhr |
Tatort Neptun-Apotheke im Berliner Bahnhof Alexanderplatz: Ein junger Mann betritt die Offizin, in der Hochbetrieb herrscht. Er fällt kaum auf und sieht sich - wie andere Kunden auch - bei den Kosmetikprodukten um. Irgendwann verlässt er die Apotheke, gekauft hat er nichts. Die unbezahlte Lücke in der Freiwahl wird erst abends auffallen.
Die Verluste, die dem Einzelhandel durch Ladendiebstahl zugefügt werden, sind immens. Im vergangenen Jahr wurden etwa 55.000 Ladendiebstähle angezeigt. Trotz eines geringfügigen Anstiegs gegenüber 2001 ist der Trend seit Jahren rückläufig. Allerdings beträgt die Dunkelziffer über 90 Prozent. Die tatsächlichen Verluste werden oft erst beim Jahresabschluss festgestellt.
Insgesamt betrug die Inventurdifferenz des deutschen Einzelhandels im letzten Jahr 4 Milliarden Euro. Zu diesem Ergebnis kommt das Euro-Handelsinstitut (EHI) in einer aktuellen Erhebung. Frank Horst, Autor der Studie, geht davon aus, dass etwa 47 Prozent der Verluste stehlenden Kunden sowie – branchenabhängig - weitere 23 Prozent unehrlichen Mitarbeitern zuzuschreiben sind.
Für Maßnahmen zur Reduzierung von Inventurdifferenzen gab der deutsche Einzelhandel laut EHI im Jahr 2002 rund 900 Millionen Euro aus. Dies entspricht etwa 0,25 Prozent des gesamten Bruttoumsatzes.
Spezielle Branchenzahlen für Apotheken werden kaum erhoben. Zwar hat sich das Erscheinungsbild der Offizin in den letzten Jahren dahingehend verändert, dass immer mehr Waren offen im Verkaufsraum präsentiert werden. Dazu gehören auch wertvolle Kosmetika oder hochpreisige Gesundheitspflegemittel. Dennoch stellen sich bislang die wenigsten Apothekeninhaber gezielt dem Problem.
„Apotheker sind noch zu gutgläubig“, attestiert Rolf D. Budinger, Fachreferent Ladendiebstahl der Agentur training & ausbildung. Man müsse Ladendieben zumindest das Gefühl eines gewissen Risikos vermitteln.
„Über Ladendiebstahl kann ich eine Menge erzählen“, hatte Anette Knodel schon am Telefon versichert. Die Inhaberin der Neptun-Apotheke im Bahnhof Alexanderplatz hat in den drei Jahren seit der Eröffnung viel Erfahrung gesammelt. Der Schaden summiere sich auf mehrere Tausend Euro jährlich. Vor allem in Stoßzeiten, wenn der Laden voll und die Mitarbeiter beschäftigt seien, werde gestohlen. „Man merkt etwas, man sieht etwas. Aber nur in den seltensten Fällen kann man den Kunden, den man gerade bedient, um Geduld bitten und in das Geschehen eingreifen.“
„Wir sind Ladendieben hinterhergelaufen, die uns die Ware dann vor die Füße geworfen haben“, fährt Knodel fort. Vor kurzem habe ein Mitarbeiter eine Ohrfeige kassiert, weil er eine verdächtige Kundin angesprochen hatte.
Die Erkennung von Ladendieben ist oft schwierig. Der Täterkreis umfasst alle Gruppen der Gesellschaft und alle sozialen Schichten. Selbst Stammkunden holen sich mitunter einen zusätzlichen „Naturalrabatt“.
„Das Problem des Ladendiebstahls betrifft eben nicht nur große Apotheken“, berichtet Friedrich-Wilhelm Wagner, Geschäftsführer beim Berliner Apothekerverein. Auch Apotheken in Wohngebieten würden von Gelegenheitsdieben, denen etwas „in die Tasche gefallen“ ist, und ebenso von organisierten, mitunter nach Bestelllisten ihrer Kunden arbeitenden „Profis“ heimgesucht. „Während ein Komplize Personal und Kunden ablenkt, wird in der Freiwahl ein laufender Meter Kosmetik brutal abgeräumt. In wenigen Sekunden ist so eine mitgebrachte Sporttasche gefüllt, und die Täter verlassen eilig das Geschäft.“ Die entwendete Ware werde oftmals einige hundert Kilometer ostwärts weiterverkauft, so Wagner.
Doch auch bei „Profis“, die sich im Gegensatz zu Gelegenheitsdieben ihrer Handlungen sehr wohl bewusst sind, kann laut Budinger durch Prävention die Hemmschwelle erhöht werden.
Maßnahmen gegen Ladendiebe
Einfacher Ladendiebstahl kann im Gegensatz zu Raub und Einbruch prinzipiell nicht versichert werden. Hier gilt es, Diebstähle durch vorbeugende Maßnahmen abzuwehren.
Grundlage einer umfassenden, wirksamen Ladendiebstahlsprävention sind gezielte bauliche Maßnahmen und eine übersichtliche Warenpräsentation. Budinger: „Ladendiebe mögen keine Ordnung im Verkaufsraum und bei der Warenpräsentation sowie hell erleuchtete Flächen. Unordnung ist ein Zeichen, dass sich das Personal wenig um das Geschehen kümmert.“
Ein freier Überblick kann durch eine optimierte Regalhöhe sowie durch Beobachtungsspiegel gewährleistet werden. Der Verkaufsraum sollte über nicht mehr Ausgänge verfügen als unbedingt notwendig, Notausgänge müssen technisch abgesichert sein. Besonders diebstahlgefährdete Ware sollte im Nahbereich der Verkaufskräfte oder in verschließbaren Vitrinen platziert werden. Allerdings sind die Produkte auch dort nicht absolut sicher.
Gut sichtbare, eventuell mehrsprachige Hinweisschilder auf Warensicherungssystemen und mögliche juristische Konsequenzen erhöhen die Hemmschwelle bei Ladendieben. Für den Einsatz einer Videoüberwachung gelten enge rechtliche Rahmenbedingungen. Professionelle Diebe lassen sich von Kameras zwar kaum abschrecken. Videoaufzeichnungen erleichtern jedoch – bei mitlaufendem Band – die Beweissicherung und die Identifizierung des Täters.
Ein Akzeptanz-Problem befürchtet Budinger bei all diesen Maßnahmen nicht. Er verweist auf Textilien, bei denen trotz anfänglicher Vorbehalte eine offensive Warensicherung heute selbstverständlich ist.
Elektronische Artikelsicherung
„Viele Einzelhandelsunternehmen sehen in der Elektronischen Artikelsicherung (EAS) die wirkungsvollste Waffe gegen Ladendiebe“, berichtet Olaf Roik vom Hauptverband des Deutschen Einzelhandels (HdE). Erfahrungen hätten gezeigt, dass durch den Einsatz von EAS mit einem Rückgang des Kundendiebstahls von bis zu 70 Prozent gerechnet werden kann. Erforderlich sei aber, dass alle Maßnahmen in ein ganzheitliches Sicherheitskonzept eingebettet sind.
EAS-Systeme funktionieren nach dem Sender-Empfänger-Prinzip. Weltweit sind mehr als 450.000 Varianten im Einsatz. Gängige Technologien sind Radio-Frequenz sowie Akustomagnetik und Elektromagnetik. Die verschiedenen Technologien unterscheiden sich vor allem hinsichtlich der Anforderungen an die Schleusenbreite sowie hinsichtlich Detektions- und Fehlalarmquote. Welches Verfahren zum Einsatz kommt, hängt von den Rahmenbedingungen und vom Sicherheitskonzept des Unternehmens ab.
Diplom-Kaufmann Horst bestätigt, dass in einzelnen Branchen etwa 42 Prozent der Unternehmen zum Jahresende mit EAS arbeiten werden. In Apotheken beträgt laut ADT Sensomatic GmbH, einem Anbieter elektronischer Warensicherungssysteme, der Schnitt gerade einmal 0,5 Prozent. ADT selbst hat deutschlandweit bislang in etwa 50 Apotheken EAS-Systeme installiert.
„Irgendwann schien der Ladendiebstahl Überhand zu nehmen“, erinnert sich Apothekerin Knodel. „Wir hatten eine Zeit lang eine Kamera installiert. Kein Erfolg. Wir haben Leerpackungen ausgestellt, aber das war platz- und zeitaufwendig, und die Gefäße staubten ein.“ Schließlich habe sogar ein Bekannter Überwachungsdienst geleistet, aber das hätte schließlich keine dauerhafte Lösung sein können.
Vor zwei Jahren hat die Inhaberin der Neptun-Apotheke ein EAS-System installieren lassen. Den Hauptzweck der Anlage sieht Knodel in der Abschreckung von Ladendieben. Der tatsächliche Effekt sei allerdings schwer nachzuvollziehen. „Die Leute stellen sich darauf ein. Wir entdecken immer wieder abgelöste Sicherheitsetiketten in den Regalen. Und wir suchen nach immer neuen Möglichkeiten zur versteckten Anbringung der Sicherungselemente.“
Mitarbeiterschulung
Den tatsächlich wirksamsten Beitrag im Kampf gegen Ladendiebe leisten laut Horst nach wie vor aufmerksame und sensibilisierte Mitarbeiter. Permanente Information und intensive Schulung des Personals würden selbst von einfachen und kostengünstigen Maßnahmen wie der Beschilderung unter Hinweis auf Strafandrohungen oder auf technische Sicherheitsvorkehrungen nicht übertroffen.
Mitarbeiterschulung sei allerdings eine Daueraufgabe, mahnt Budinger. Das Personal sollte in regelmäßigen Abständen motiviert und hinsichtlich gängiger Diebstahlsmethoden informiert werden. Eigene Verhaltensweisen sollten reflektiert werden: Wird die Kasse auch bei kurzer Abwesenheit abgeschlossen? Werden liegen gebliebene Kassenbons vernichtet? Reicht die Anzahl der Mitarbeiter überhaupt aus, um auch in Stoßzeiten den Überblick zu behalten?
Vor allem typische Verhaltensweisen wie umherschweifende Blicke, offene Taschen oder scheinbar unsystematischer Umgang mit der Ware unterscheiden Ladendiebe von Kunden. Beratende Verkaufskräfte würden gemieden oder durch Komplizen abgelenkt, so Budinger. Der Experte rät, sich als Mitarbeiter nicht einschüchtern oder überrumpeln zu lassen. Alles, was für Kunden gut sei, helfe auch gegen Ladendiebstahl. So würden Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft von ehrlichen Kunden gern angenommen. Den unter Druck stehenden Ladendieben hingegen würde deutlich gemacht, dass ihre Absichten erkannt sind und ihr Tun beobachtet wird.
Doch Ladendiebstahl im weitesten Sinne hat noch viele andere Gesichter. Das Umetikettieren von Waren sowie zwielichtige Geldwechsel- oder Umtauschgeschäfte mit oder ohne Kassenbon sind Beispiele für eine Vielzahl von Betrugsdelikten, die den Einzelhandel massiv schädigen und die durch Aufklärung und Verhaltensschulung verhindert werden können.
Verhalten gegenüber Verdächtigen
Oft sind es Fehler im Umgang mit verdächtigen Kunden, die die Überführung von Ladendieben verhindern. Regelmäßige Gespräche und Übungen mit Kollegen dienen der Vorbereitung auf diese brisante Situation.
Erst wenn der Diebstahl zweifelsfrei feststeht, also tatsächlich beobachtet wurde, sollte eingeschritten werden, so Budinger. Betroffene Mitarbeiter sollten Ruhe bewahren, Kollegen oder Ladenaufsicht informieren und den Täter selbstbewusst und sachlich ansprechen. Ein Bloßstellen des Ladendiebes vor der Kundschaft sei zu vermeiden. HdE-Referent Roik empfiehlt, dem Verdächtigten auf dem Weg ins Büro oder einen Besprechungsraum stets zu folgen, damit er die gestohlene Ware nicht unbemerkt ablegen kann. Gespräche sollten unter Zeugen stattfinden. Männliche Mitarbeiter blieben am besten überhaupt nicht mit einer Ladendiebin allein. Die entwendete Ware sollte sichergestellt werden, Taschenkontrollen sind hingegen nur mit Zustimmung des Diebes möglich. Wird der Diebstahl zugegeben, kann ein Protokoll zur Sicherung des Tathergangs angefertigt und Strafanzeige gestellt werden. Schadensersatzforderungen lassen sich nur sehr begrenzt geltend machen.
Zum eigenen Schutz ist laut Roik ein zeitlich begrenztes Hausverbot (in der Regel für ein Jahr) zu erteilen. „Die Polizei sollte hinzugezogen werden, wenn der Dieb sich nicht eindeutig ausweisen kann oder will, er sich renitent verhält oder offensichtlich lügt“, so der Fachmann vom HdE. Handelt es sich um einen Wiederholungstäter oder um einen erkennbaren „Profi“, sei diese Maßnahme ebenfalls sinnvoll.
Beschimpfungen oder Tätlichkeiten sind in jedem Fall zu vermeiden. Allerdings bestehe bei beobachtetem Tathergang gemäß Strafprozessordnung eine „vorläufige Festnahmebefugnis für Jedermann“, erklärt Arndt Preuschhof von der ABDA. Dabei dürfe, so der Jurist, notfalls in angemessenem Rahmen auch physische Gewalt angewendet oder der Verdächtige eingeschlossen werden. Nur wenn die Identität des Täters bekannt ist, darf er nicht festgehalten werden. Bei strafunmündigen Kindern sind Eltern oder das Jugendamt zu informieren. Zudem gilt: Wurde ein ehrlicher Kunde zu Unrecht verdächtigt, sollte es selbstverständlich sein, sich umgehend und ausdrücklich zu entschuldigen.
(K)eine Gewissensfrage
Obwohl die Rechtslage eindeutig ist, lässt sich in der Praxis nicht jeder Ladendiebstahl eindeutig bewerten und behandeln. Nicht immer lässt sich die Trennlinie zwischen grau und weiß an der Grenze des Einzugsgebietes der Apotheke ziehen.
Bestürzung und Fassungslosigkeit sind groß, wenn Stammkunden oder sogar Angestellte des Diebstahls überführt werden. Mitarbeiter und Unternehmensleitung stehen vor einem strategischen Dilemma: Anzeige oder nicht?
„Es muss im Einzelfall entschieden werden, ob der Vorfall intern geregelt werden kann“, erläutert Budinger und fügt hinzu: „Auf keinen Fall sollte der Sachverhalt übergangen, sondern eher „schonend“ unter vier Augen geklärt werden.“
Bei Mitarbeiterdelikten ist der Schaden je Diebstahl in der Regel höher als bei Kundendiebstählen. Meist handelt es sich um Wiederholungstaten. Missmanagement und Unzufriedenheit sind die häufigsten Ursachen für die „Selbstbedienung“ eines Angestellten. Auch in Apotheken seien alle Berufsbilder betroffen, weiß Iris Borrmann, Geschäftsführerin des Bundesverbandes der Angestellten in Apotheken (BVA). Im Vordergrund stünden die Ausweitung von Personalrabattregelungen sowie die Entnahme von Bargeld aus der Kasse. Der BVA, der etwa 120.000 Apothekenangestellten Rechtsbeihilfe gewährt, verzeichnet im laufenden Jahr 15 Fälle von Haftungsforderungen für Fehlbeträge der Kasse. Im vergangenen Jahr waren es insgesamt 22 Fälle. „Gewerkschaftszugehörigkeit allein adelt aber nicht“, kommentiert Borrmann die vergleichsweise niedrige Zahl. Die geringe Nachweisbarkeit sei das entscheidende Hindernis einer konsequenten Verfolgung. Oft stelle sich der Verdacht aber auch einfach als falsch heraus.
In der Angst vor einem Imageverlust und einer Störung des Betriebsklimas sieht Budinger die Hauptursachen für eine gewisse „Blindheit“ gegenüber betriebsinternen Diebstahlsdelikten. Doch der Fachmann warnt: Auch unbescholtene Mitarbeiter, die von Diebstählen eines Kollegen Kenntnis haben und schweigen, müssen mit einer Kündigung rechnen. Er rät allen Unternehmen, das Problembewusstsein der Mitarbeiter zu schärfen und für ein gutes Betriebsklima zu sorgen. Der Personaleinkauf sollte straff organisiert sein. Häufige Personalfluktuation sollte zwar vermieden werden. Doch Mitarbeitern, denen ein Diebstahl nachgewiesen wird, müsste konsequent gekündigt werden und aufgefordert werden, Schadenersatz zu leisten.
Anette Knodel hat noch keine Strafanzeige wegen Ladendiebstahls gestellt. Sie hat noch kein Hausverbot erteilt, noch keine Fangprämie ausgelobt. „Die Polizei hat uns informiert, dass man das Recht hat, einen Ladendieb festzuhalten. Aber was ist, wenn drei Muskelprotze in Bomberjacke vor einem stehen? Was ist mit dem Zeitaufwand im Fall einer Strafanzeige?“ Manchmal sei es einfach deprimierend. „Man lässt sich etwas Neues einfallen, man arbeitet, man macht – und dann wird doch geklaut.“
Tipp Eine praxisorientierte Broschüre hat die Industrie- und Handelskammer unter dem Titel „Ladendiebstahl - Ein Ratgeber zur wirksamen Abwehr“ herausgegeben. Die Publikation wendet sich an Geschäftsinhaber und Mitarbeiter kleinerer und mittlerer Einzelhandelsunternehmen. Der Leser soll für das Thema sensibilisiert werden, um eigene Schwachstellen besser zu erkennen. Personelle, organisatorische, psychologische und technische Maßnahmen zur Bekämpfung von Ladendiebstählen werden aufgezeigt. Ferner werden Formalitäten erläutert, die im Falle des Aufdeckens eines Ladendiebstahls beachtet werden müssen.
Die 78-seitige Broschüre kann zum Preis von 10,50 Euro beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK), Publikationen-Service, Adenauer-Allee 148, 53113 Bonn, per Fax-Bestellservice (02 28) 10 41 626 oder online unter verlag.dihk.de bezogen werden.
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