Beginn einer neuen Apothekenära |
28.03.2005 00:00 Uhr |
In England und Wales tritt zum 1. April ein neuer Apothekenvertrag in Kraft. Um die pharmazeutische Betreuung zu stärken, wurde das Budget für die gut 11.000 Apotheken aufgestockt. Fürsprecher feiern den Beginn einer neuen Ära der Gesundheitsversorgung, Kritiker prophezeien ein Aussterben kleiner unabhängiger Apotheken.
Bereits in der Vergangenheit finanzierten sich die britischen Apotheken aus einem vom staatlichen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) bereitgestellten Budget und einer prozentualen Beteiligung an den Kosten der abgegebenen Arzneimittel. Beide Finanzierungselemente wurden von der Regierung immer wieder reduziert; vor allem die Margen galten als unsichere Einnahmequelle. Nach langen Verhandlungen einigten sich im vergangenen Herbst Gesundheitsministerium, NHS und für die Apotheken das standeseigene Verhandlungskomitee für pharmazeutische Dienstleistungen (Pharmaceutical Services Negotiating Committee, PSNC) auf einen neuen Apothekenvertrag. Neben einem deutlich erweiterten NHS-Budget werden den Apotheken nun auch Beteiligungen am Arzneimittelumsatz garantiert. Die Apotheken stellen ihrerseits zum 1. April die pharmazeutische Betreuung strukturell auf komplett neue Füße.
Dienstleistungsangebot aufgeteilt
Das pharmazeutische Dienstleistungsangebot wurde in drei Segmente aufgeteilt: Alle Apotheken sind verpflichtet, die so genannten Basisdienste anzubieten. Dazu zählen neben Abgabe und Beratung die Anfertigung und Pflege individueller Patientenakten, die Einführung verschiedener Qualitätssicherungsmaßnahmen, aber auch die Entsorgung von Altmedikamenten, die Meldung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen, kontinuierliche Fortbildung (mindestens 30 Stunden pro Jahr) sowie die Kooperation bei Apothekenrevisionen und die Evaluation der Patientenzufriedenheit. Patienten, die auf Grund einer Behinderung Schwierigkeiten bei der korrekten Anwendung von Medikamenten haben, müssen die Apotheken Verblisterungen und andere Hilfestellungen anbieten.
In Anlehnung an den ebenfalls neu geschlossenen Allgemeinarztvertrag sind die Apotheken außerdem dazu verpflichtet, die Belieferung der bis zu einem Jahr gültigen ärztlichen Wiederholungsverordnungen zu koordinieren und die damit verbundene medizinische Mitverantwortung zu tragen. Auch die Förderung der öffentlichen Gesundheit durch Beratungen und die Teilnahme an Aktionen wird künftig verpflichtend. Ab Jahresende beginnen die regionalen NHS-Verwaltungsstellen (Primary Care Trusts, PCT) mit der Überprüfung der angebotenen Dienste.
Apotheken, deren Personal an einer Hochschule weitergebildet wurde und die bestimmte räumliche Anforderungen erfüllen, können nach Akkreditierung künftig zwei gesondert honorierte fortgeschrittene Dienste anbieten: Die so genannten Arzneimittelanwendungsanalysen (Medicines Use Review, MUR) werden gemeinsam mit dem Patienten jährlich durchgeführt und sollen helfen, Anwendungsprobleme und Unverträglichkeiten verschreibungspflichtiger und freiverkäuflicher Arzneimittel aufzudecken, Dosierungen und Arzneiformen anzupassen und dadurch die Compliance des Patienten zu erhöhen. Verordnungsänderungen sind nicht möglich; die Auswertungen werden allerdings dem verschreibenden Arzt übermittelt. Bei der so genannten Verordnungsintervention (Prescription Intervention, PI) handelt es sich um denselben Prozess, nur dass der Apotheker auf Grund eines konkreten Anwendungsproblems tätig wird.
Sämtliche weitergehenden Angebote, wie die Einbindung in klinische Behandlungspfade, Screenings für verschiedene Krankheiten, Nacht- und Notdienste, Heimbelieferung und Notfallkontrazeption sind in den neuen Apothekenvertrag nicht eingeschlossen und werden als dritte Säule der Betreuung vorerst weiterhin auf lokaler Ebene zwischen den PCT und den regionalen Apothekenkomitees (Local pharmacy committee, LPC) vereinbart.
Größter Teil für Basisdienste
Insgesamt 2,5 Milliarden Euro hat die Regierung den Apotheken für die Saison 2005/2006 bereitgestellt. Neben dem auf 1,25 Milliarden Euro erhöhten regulären Apotheken-Budget des NHS, das künftig alle drei Jahre angepasst werden soll, stehen weitere 144 Millionen Euro neu für die Vergütung von Wiederholungsverordnungen zur Verfügung. Einsparungen bei den Generika werden in Höhe von 432 Millionen Euro ebenfalls an die Apotheken zurückgeführt. Die verbleibenden 720 Millionen Euro beziehen die Apotheken aus – erstmals fest garantierten – Umsatzbeteiligungen.
Die Verteilung der Gelder folgt ebenfalls einem definierten Plan: Mit insgesamt knapp 84 Millionen Euro sollen im kommenden Jahr Apotheken entlohnt werden, die ihr Computersystem in Erwartung der Einführung elektronischer Rezepte auf NHS-kompatible Systeme umstellen. Für die Vergütung der fortgeschrittenen Dienste stehen vorerst nur 56 Millionen Euro bereit; im ersten Jahr werden je Apotheke nur 200 Auswertungen zu je 33 Euro finanziert. Hier rechnen die Vertragspartner mit einer deutlichen Steigerung im zweiten Jahr; ohnehin wird nur ein Teil der Apotheken 2005 die Voraussetzungen erfüllen und die vergüteten Sonderdienste anbieten.
Mit knapp 2,4 Milliarden Euro bleibt der größte Teil des Budgets der Vergütung der Basisdienste vorbehalten: Pro abgegebener Packung erhalten die Apotheken eine Gutschrift von 1,30 Euro zuzüglich einer so genannten Praxispauschale von 0,34 Euro für alle Apotheken mit einem Absatz von mehr als 1100 Packungen pro Monat. Die so genannte jährliche Einrichtungspauschale definiert sich ebenfalls an der Zahl der monatlich abgegebenen Packungen und beträgt bis zu 31.500 Euro je Apotheke.
Ende der Unabhängigkeit
Genau in dieser absatzorientierten Vergütung sehen die Kritiker des neuen Vertrags die größte Gefahr für unabhängige Apotheken. „Verraten durch die eigenen Unterhändler“, schimpfte das LPC London Nordost Ende vergangenen Jahres im Pharmaceutical Journal. Zwar hatten in einer Urabstimmung im November, an der drei Viertel der Apotheken teilnahmen, 93 Prozent für die Annahme des neuen Vertrags gestimmt. Tatsächlich scheinen die Vertragspartner aber kleinen Einrichtungen offen den Kampf angesagt zu haben: So erhalten Apotheken mit einem monatlichen Absatz von weniger als 2000 Packungen eine provisorische Einrichtungspauschale für maximal drei weitere Jahre.
Apotheken mit weniger als 1100 monatlich verkauften Packungen erhalten überhaupt keine Einrichtungs- und Praxispauschale; ihnen wird per Ausstiegszahlung die Geschäftsausgabe noch innerhalb des ersten Vertragsjahres nahe gelegt. Auch die geforderten Mindestöffnungszeiten von 40 Wochenstunden könnten kleine Apotheken, für die eventuelle Sondergenehmigungen nicht greifen, überfordern.
Zwar geht man beim PSNC von weniger als 100 betroffenen Apotheken aus. Das LPC London Nordost macht jedoch eine eigene Rechnung auf: So müssten selbst Durchschnittsapotheken mit einem Monatsabsatz von 5000 Packungen Margenkürzungen von 14 Prozent oder 45 000 Euro hinnehmen. Weil Profite jenseits der garantierten 720 Millionen Euro künftig der Großhandel verwalte, würden darüber hinaus vertikal integrierte Einrichtungen übervorteilt.
Die Londoner Apotheker gehen davon aus, dass innerhalb von fünf Jahren nur noch jede dritte Apotheke unabhängig ist. Weil das PSNC zudem hinter verschlossenen Türen verhandelt hat und erst spät mit Broschüren und Informationsveranstaltungen an die Öffentlichkeit gegangen ist, werfen die Branchenvertreter ihren Unterhändlern machiavellische Züge vor.
Trotz der weithin akzeptierten finanziellen Planbarkeit des neuen Vertrages weisen auch andere Beteiligte auf die Gefahren der Vereinbarung hin: Auf Grund der neuen Mindestpersonalanforderungen könnten Apotheken ihren Sonnabenddienst streichen, wegen der obligatorischen Fortbildung legten zahlreiche ältere Aushilfskräfte ihre Arbeit nieder und verursachten so einen neuen Personalmangel, kleinere Apotheken würden unverkäuflich, zusätzliche Gewinne würden durch die Regierung abgefangen, lauteten einige der zahlreichen Warnungen.
Strategischer Schritt
Trotz der Kritik wird der neue Apothekenvertrag bei zahlreichen Branchenvertretern positiv wahrgenommen. Zum ersten Mal anerkennt und vergütet das staatliche Gesundheitswesen mit den fortgeschrittenen Diensten klinische Tätigkeiten der Apotheken. „Wir müssen das schmale Fenster nutzen, das den Apotheken zur Zeit offen steht“, mahnte PSNC-Chef Barry Andrews. „Wenn wir das Angebot nicht machen, wird sich die Regierung jemand anderen suchen. Es stehen genügend Interessenten bereit.“
Unterdessen bereiten sich die Apotheken auf eine neue Diskussion vor, die ebenfalls noch in diesem Jahr geführt werden könnte: In ihrer neuen Rolle als Player im NHS-System anerkannt, könnte den Apothekern schon bald die seit längerem geforderte Verordnungsfreiheit übertragen werden.
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