Wirtschaft & Handel
PZ-Interview

Nach wie vor denkt man in Deutschland über neue Strukturen im
Gesundheitswesen nach. Der traditionelle Distributionsweg "Hersteller,
Großhändler, Apotheke" wird in Frage gestellt, und darüber hinaus sucht
man Alternativen zur Apotheke. Diese Diskussion berührt nicht nur die
Interessen der Apotheken, sondern auch die des Großhandels. Die
Gegenstrategien der Großhändler scheinen zur Zeit in europaweiten
Fusionen zu liegen. Es lag deshalb nahe, den in Europa umsatzstärksten
Großhändler, die Gehe AG, zu fragen. Jürgen Ossenberg, Mitglied des
Gehe-Vorstandes, stellte sich den Fragen der Pharmazeutischen Zeitung.
PZ: Herr Ossenberg, zur Zeit wird sehr intensiv das Engagement des Discounters
Aldi in Apothekerkreisen diskutiert und über die Auswirkungen auf die
Apothekenumsätze spekuliert. Wie sieht der Großhandel diese Aktivitäten, denn
indirekt sind auch seine Umsätze tangiert. Wie kann er reagieren, oder kann er
überhaupt reagieren?
Ossenberg: Der Großhandel kann darauf reagieren, indem er dem Apotheker ein
Angebot unterbreitet, das ihn in diesem Bereich wettbewerbsfähig werden läßt. Die
Gehe macht es. Sie bietet den Apotheken zum Beispiel ein preisgünstiges
Spezialsortiment im Vitaminbereich an. Nur glaube ich, daß der Apotheker nicht den
Wettbewerb auf der Preisschiene mit Aldi suchen sollte, sondern daß er seine ganze
Kompetenz im Bereich Beratung und bei apothekenexklusiven Produkten einsetzen
sollte. Das heißt, auf der einen Seite ein preisgünstiges Angebot, um den
Verbraucher nicht notgedrungen in die Arme von Aldi zu treiben, auf der anderen
Seite muß die gesamte Kompetenz mit den entsprechenden Angeboten des
Apothekers übereinstimmen.
Das, was hier letztendlich passiert, ist ein Verdrängungswettbewerb zwischen
Vertriebsformen außerhalb der Apotheken. Aldi war, auch in der Vergangenheit,
der größte Anbieter von Multivitaminpräparaten und tritt jetzt gegen andere
Supermärkte beziehungsweise Drogeriemärkte an, um seinen Umsatz in diesem
Bereich zu steigern. Der Umsatz dieser Produkte, also nichtapothekenpflichtiger
Arzneimittel, liegt in den Apotheken bei 1,5 Prozent. Ich sehe deshalb nicht die
große Gefahr einer Abwanderung von Umsätzen aus der Apotheke durch das
Aldi-Engagement. Ich befürchte vielmehr, daß undifferenziert über den Begriff
Arzneimittel in der Öffentlichkeit diskutiert wird, ohne zu wissen, um welche
Produktgruppen es sich dabei handelt. Beim Verbraucher könnte so der Eindruck
entstehen, demnächst auch Aspirin oder andere apothekenexklusive Produkte beim
Discounter kaufen zu können. Dieser Diskussion muß Einhalt geboten werden.
PZ: Ein ganz anderer Bereich ist das Preisbildungssystem bei Arzneimitteln. Der
Großhandel und auch Sie als Gehe haben sich entschieden gegen die
festbetragsspezifischen Festzuschläge und gegen die Drehung der
Arzneimittelpreisverordnung ausgesprochen, wie sie von der ABDA vorgeschlagen
wurde. Die jetzt zwischen Krankenkassen, Großhändler und Apothekerschaft
gefundene "kleine Lösung" sieht eine Kappung vor mit einer Kompensation bei
Rezepturpreisen und der Nachttaxe. Können Sie mit dieser Lösung leben, obwohl
auch die Aufschläge des Großhandels im hochpreisigen Bereich gekappt wurden,
allerdings ohne Kompensation? Wird die "neue" Arzneimittelpreisverordnung damit
nicht zwangsläufig Auswirkungen auf die Vertragsgestaltung zwischen Großhandel
und Apotheke haben?
Ossenberg: Ich glaube, daß der jetzt gefundene Kompromiß das kleinste Übel aller
möglichen Lösungen ist. Der Bundesverband des pharmazeutischen Großhandels -
Phagro, dessen Vorsitzender ich damals war, war ein Gegner des
festbetragsspezifischen Festaufschlages und der Drehung der
Arzneimittelpreisverordnung, nicht weil wir gemeint haben, das sei nicht sinnvoll, nein
wir hatten aufgrund vieler Hinweise aus der Politik und der Industrie die
Befürchtung, ein Anfassen der Arzneimittelpreisverordnung könnte bei anderen
Beteiligten Gelüste wecken, etwas völlig anderes aus der Preisverordnung zu
machen. Deshalb wollten wir nicht daran rühren. Ich glaube heute, daß wir mit der
Einstellung recht hatten, denn die Forderungen aus Industrie und Krankenkassen
gingen weit über das hinaus, was die Apotheker vorgeschlagen hatten. Mein
Vorschlag für alle Beteiligten ist, sich in der Zukunft rechtzeitiger abzustimmen und
nicht isoliert eigene Konzepte auf den Tisch der politischen Diskussion zu legen. Mit
der kleinen Lösung haben wir es aus meiner Sicht "5 vor 12" gerade noch geschafft,
schlimmeres zu verhindern. Es gibt, das ist richtig, keine Kompensation für den
Großhandel. Der Phagro hat ausgerechnet, daß das bis 12 Millionen DM weniger
Ertrag für den Großhandel bedeutet. Dies allein ist und darf für den Großhandel
allerdings kein Argument sein, bundesweit in große und flächendeckende
Rabattkürzungen einzusteigen.
PZ: Auch die Diskussion über die Aufhebung des Fremd- und Mehrbesitzverbotes
von Apotheken in Deutschland geht weiter und wird als eine der Lösungen aus der
Finanzkrise der gesetzlichen Krankenkassen angesehen. Gehe besitzt in
Großbritannien eine Apothekenkette. Bereiten Sie sich damit auf Deutschland vor
oder sind die britischen Erkenntnisse eher Motivation, die Kette in Deutschland zu
verhindern?
Ossenberg: Aus gutem Grund sind in Deutschland der Fremd- und Mehrbesitz
verboten. Daran wollen und werden wir nicht rütteln. In England gibt es andere
rechtliche Voraussetzungen, dort ist die Kette seit langem am Markt üblich und wie
Sie wissen, ist die Gehe eingestiegen, als Lloyds zum Verkauf anstand. Im
Vordergrund stand die Absicherung unseres Kerngeschäfts, des Pharmahandels.
Glücklicherweise konnten wir uns gegen den Mitbieter Unichem durchsetzen. Was
wir von Lloyds nach Deutschland übertragen wollen, sind Dinge, die es dem
Apotheker ermöglichen, seine Apotheke selbständig und in eigener Regie
betriebswirtschaftlich besser und sinnvoller führen zu können. Wir möchten ihm die
entsprechenden Hilfeleistungen anbieten, damit er jederzeit als eigener freier
Unternehmer wettbewerbsfähig reagieren kann. Ich bin davon überzeugt, daß die
Vorstellung einiger Krankenkassenvertreter, über Apothekenketten die
Arzneimittelversorgung regeln zu können, schlichtweg falsch sind. Wir wissen
natürlich aus England genau, welcher Aufwand entsteht durch Anmietungen der
Apotheken und durch die Anstellung von Mitarbeitern. In Deutschland ist der
selbständige Apotheker in der Regel ein Selbstausbeuter, indem er die Eigenmiete,
die Eigenkapitalverzinsung, den Unternehmerlohn sowie seine Altersversorgung nicht
in die Kalkulation mit einbezieht. Ein Vergleich der Apothekenspannen in
Deutschland mit anderen Einzelhandelssparten zeigt deutlich, daß diese erheblich
höhere Spannen haben als die Apothekerschaft. Hier sollte man die Politik einmal
fragen, ob sie das Versorgungssystem mit Arzneimitteln in Deutschland verkommen
lassen und ein Apothekensterben in Kauf nehmen will. Das hat ja auch etwas mit der
Versorgungsqualität der Bevölkerung mit Arzneimitteln zu tun.
PZ: Verstehe ich das richtig? Ihr Fazit aus England bedeutet, daß Sie in Deutschland
kein Kettensystem haben wollen?
Ossenberg: So ist es. Schon aus ganz egoistischen Gründen wollen wir in
Deutschland keine Kettenapotheken. Ich verhandle lieber mit 22 000
Individualapotheken als mit irgendwelchen Kettenfürsten, die nur eines kennen, die
Konditionen für uns nach unten zu verhandeln.
PZ: Ein weiterer Punkt, der den Apothekern Sorge und Existenzängste einjagt, ist
der Versandhandel. Er etabliert sich in der Schweiz und in den Niederlanden. Haben
Sie Hoffnung, daß sich diese "Krankheit" nicht auf Deutschland ausbreitet? Was
unternimmt der Großhandel gegen diesen auch für ihn ernst zu nehmenden
Konkurrenten? Hat der Großhandel überhaupt Chancen dagegen zu halten oder
wird er selbst in das Versandgeschäft einsteigen?
Ossenberg: Die Frage, die hier gestellt werden muß, ist: Ist Versandhandel unter
betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten überhaupt durchführbar? Gibt die
Großhandels- und die Apothekenspanne überhaupt soviel her, um den
Versandhandel betreiben zu können und noch Geld einzusparen für die
Krankenkassen? Hier sollten aus meiner Sicht einige Krankenkassenfunktionäre
einmal ihre Hausaufgaben machen und anfangen zu rechnen und nicht
amerikanischen ManagedCare-Systemen das Wort reden oder die Schweiz als
Vergleich bringen. Soweit ich weiß, nehmen dort die Versicherungsgesellschaften
gezielt Verluste in Kauf, um das System des Arzneimittelvertriebes zu verändern.
Auf der anderen Seite sollte man bedenken, wenn Rosinenpickerei stattfindet -
nichts anderes kann Versandhandel sein -, inwieweit eine flächendeckende
Versorgung mit Arzneimitteln auf dem heutigen Niveau überhaupt noch möglich sein
wird. Das wird sicher nicht mehr funktionieren. Das heißt, die Krankenkassen
müssen noch mehr Geld in das System geben. Unter dem Strich macht das
volkswirtschaftlich gesehen also keinen Sinn. Wäre das betriebswirtschaftlich heute
schon sinnvoll, dann wären sicher die Versandhandelsunternehmen entlang der
belgischen, holländischen und französischen Grenzen längst da und würden fleißig
nach Deutschland liefern. Mir muß wirklich einer einmal vorrechnen, ob das mit den
Spannen des Großhandels und der Apotheke überhaupt rentabel machbar ist. Die
Gehe hat ja einen Versandhandel für Lager- und Büroeinrichtungen. Aus diesen
Erfahrungen heraus kann ich nur feststellen, die Spannen reichen nicht aus.
Das Interview führte Hartmut Morck, Eschborn


© 1997 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de