Potente Wirkstoffe für vielfältige Indikationen |
24.10.2005 00:00 Uhr |
Mit Racecadotril wurde vor einem Jahr der erste peroral verfügbare Enkephalinase-Inhibitor in Deutschland zugelassen. Doch die Vertreter dieser Wirkstoffgruppe können viel mehr als Diarrhöen stoppen. Mehrere Substanzen werden derzeit erprobt mit viel versprechenden Ergebnissen zur Schmerzlinderung und Entzündungshemmung.
Gegenwärtig sind mehrere hundert Neuropeptide in der Peripherie oder im zentralen Nervensystem des menschlichen Organismus identifiziert. Sie werden zu Peptidfamilien zusammengefasst. So kennt man die Neurokinine, die gastrointestinalen Polypeptide oder die Enkephaline. 1973 wurden die ersten zentralen Opioidrezeptoren nahezu gleichzeitig von Simon in New York, Snyder in Baltimore und Terenius in Schweden entdeckt. Bisher sind drei Rezeptorsubtypen bekannt: µ-,δ- und κ-Rezeptoren. Sie sind unterschiedlich im Organismus verteilt. Der Schluss lag nahe, dass der Organismus auch körpereigene Opioide produziert, wenn er schon über spezielle Rezeptoren verfügt. Die Entdeckung der endogenen Opioide dazu gehören Enkephaline, Endorphine und Dynorphine gelang 1975 in Aberdeen durch die Arbeitsgruppen um Hughes und Kosterlitz.
Endogene Opioide sind dafür verantwortlich, dass der Körper unter bestimmten Umständen, zum Beispiel in Stresssituationen, mit einer deutlichen Unterdrückung der Schmerzreaktion antwortet. Sie beeinflussen aber auch Stoffwechselvorgänge und andere körpereigene Regulationsmechanismen. Die Enkephaline, Endorphine und Dynorpine sind Liganden an den Opioidrezeptoren und induzieren unterschiedliche Effekte (Tabelle).
Rezeptortyp Agonist Antagonist Wirkungen µ-Rezeptor β-Endorphin, Morphin, Pethidin, Methadon, Fentanyl, Buprenorphin Naloxon, Naltrexon, Pentazocin, Nalbuphin Analgesie, Euphorie, Abhängigkeit, antitussive Wirkungen, Erbrechen, Bradykardie, Obstipation δ-Rezeptor Leu-Enkephalin, Met-Enkephalin, β-Endorphin Naloxon, Naltrexon Analgesie, Verhaltensänderungen κ-Rezeptor Dynorphin, Pentazocin, Nalbuphin Naloxon, Naltrexon, Buprenorphin Analgesie, Sedierung, Dysphorie
Eine perorale Applikation von Enkephalinen ist auf Grund des schnellen Abbaus nicht möglich. Um ihre Wirkungen dennoch therapeutisch zu nutzen, hat man versucht, die körpereigenen Opioide vor dem Abbau zu schützen und so deren Wirksamkeit zu verlängern oder zu verstärken. Dieser Ansatz führte zur Entwicklung von Enkephalinase-Inhibitoren. Im September 2004 kam mit Racecadotril der erste peroral bioverfügbare Enkephalinase-Inhibitor auf den Markt. Er ist zur Behandlung von Durchfallerkrankungen bei Kleinkindern zugelassen.
Klinische und experimentelle Studien der letzten Jahre weisen auf weitere Einsatzmöglichkeiten von Enkephalinase-Inhibitoren hin. So konnte die Wirksamkeit bei Schmerzen, Depressionen, Angstzuständen und Morbus Parkinson belegt werden. Inwieweit diese Wirkstoffe auch therapeutisch genutzt werden können, wird sich in naher Zukunft zeigen.
Enzym Enkephalinase
Die Enkephalinase, auch als Neutrale Endopeptidase (NEP), Neprilysin oder EC 3.4.24.11 bezeichnet, ist ein integrales Membranenzym in Säugetierzellen, das als Zink enthaltende Endopeptidase die lokale Konzentration von Peptiden und die dazu gehörenden Peptid-vermittelten Signalübertragungsprozesse steuern kann. Sie ist nicht spezifisch für ein Substrat, sondern erkennt die Aminosäuren in der Umgebung der potenziellen Hydrolysestelle. Die Enkephalinase spaltet bevorzugt Glycin-Phenylalanin-Bindungen. Das Enzym kommt in hohen Konzentrationen unter anderem in Niere, ZNS, Lunge, Prostata, Gefäßwand und Gastrointestinaltrakt vor.
Die Enkephalinase katalysiert den Abbau von Enkephalinen. Aber auch andere Substanzen mit kardiovaskulärer Wirkung dienen ihr als Substrate. Beispielsweise spaltet sie sowohl vasodilatatorische Peptide wie die Natriuretischen Peptide, Substanz P und Bradykinin als auch vasokonstriktorische Peptide wie Endothelin-1 und Angiotensin II zu unwirksamen Fragmenten (1).
Die Hemmung der Enkephalinase durch endogene Inhibitoren wie Sialorphin ein exokriner und endokriner Signalmediator bewirkt eine verstärkte Aktivierung von Opioidrezeptoren und spielt bei der Schmerzverarbeitung eine Rolle. Die physiologische Bedeutung des Enzyms beschränkt sich aber wahrscheinlich nicht auf das Schmerzsystem, da Untersuchungen an Enkephalinase-defizienten Tieren (NEP-Knockout-Mäuse) zeigten, dass allergische Reaktionen verstärkt sind (22).
Da strukturelle Ähnlichkeiten mit der katalytischen Untereinheit des Angiotensin-Converting-Enzyms (ACE) bestehen, werden beide Enzyme unter dem Begriff Vasopeptidasen zusammengefasst. Seit einiger Zeit werden Vasopeptidase-Inhibitoren entwickelt, die gleichzeitig die Neutrale Endopeptidase (Enkephalinase) und das ACE hemmen. Erstaunlicherweise hatten diese in klinischen Phase-1-Studien geringe Nebenwirkungen. Nach einer Einmalgabe traten bei Probanden leichte Kopfschmerzen und ein Abfall des diastolischen Blutdrucks auf (23). Deshalb erhofft man sich von diesen Wirkstoffen Fortschritte bei der Behandlung des Bluthochdrucks.
Der bekannteste Vertreter dieser Substanzgruppe ist Omapatrilat, dessen Wirksamkeit in mehreren Studien belegt ist. Durch die zusätzliche Hemmung des Abbaus der Natriuretischen Peptide konnte der Blutdruck stärker gesenkt werden als bei der Monotherapie mit ACE-Hemmern. Bei der Behandlung der Herzinsuffizienz waren beide Therapien gleichwertig. Jedoch traten unter Vasopeptidase-Inhibitoren vermehrt Angioödeme auf, deren klinische Bedeutung weiter abgeklärt werden muss (2). Deshalb steht auch die Zulassung von Omapatrilat (Handelsname: Vanlev®) durch die FDA noch aus.
Neue Therapie bei Diarrhö
Diarrhöen sind ernst zu nehmende Erkrankungen mit einer weltweiten Inzidenz von etwa 4 Milliarden Fällen pro Jahr. 60 bis 70 Prozent der Durchfälle bei Kindern werden von Rotaviren ausgelöst, die vorwiegend durch Schmierinfektion über den Stuhl, unsauberes Wasser oder Lebensmittel, aber auch als Tröpfcheninfektion durch den Speichel übertragen werden. In Afrika, Asien und Lateinamerika erkranken jährlich etwa 500 Millionen Kinder an Durchfall, 600.000 bis zu einer Million sterben daran.
Von einer Diarrhö spricht man, wenn häufiger als dreimal pro Tag Stuhl abgeht und das Stuhlvolumen mehr als 200 g/Tag beträgt. Durch einen sehr hohen Wassergehalt von 75 bis 85 Prozent ist die Konsistenz breiig bis flüssig. Da das intravasale Volumen bei Kleinkindern in Bezug zum Körpergewicht deutlich kleiner als bei Erwachsenen ist, sind die Kompensationsmechanismen bei Flüssigkeitsverlust rasch erschöpft. Um der zunehmenden Austrocknung (Exsikkose) entgegenzuwirken, sind die Verkürzung der Diarrhö und eine schnelle Erregerausscheidung hilfreich (3).
Racecadotril (Tiorfan®, Trommsdorff) wurde im September 2004 in Deutschland zur symptomatischen Behandlung der akuten Diarrhö bei Säuglingen (über drei Monate) und Kindern eingeführt. Der Wirkstoff soll ergänzend zu einer oralen Rehydratation und den üblichen unterstützenden Maßnahmen eingesetzt werden (4, 5). Bereits seit 1999 ist die Wirksubstanz in Frankreich und Spanien zugelassen, in Frankreich auch zur Bekämpfung der Diarrhö bei Erwachsenen.
Racecadotril ist ein Prodrug, das nach peroraler Einnahme rasch resorbiert und zu Thiorphan, dem aktiven Metaboliten, hydrolysiert wird. Damit ist es erstmals möglich, einen Enkephalinase-Inhibitor peroral zu verabreichen. Thiorphan inhibiert die Enkephalinase, die im Dünndarmepithel lokalisiert ist, so dass die im Gastrointestinaltrakt physiologisch aktiven Enkephaline vor dem Abbau geschützt werden. Daraus resultiert eine vermehrte Stimulation der Opioidrezeptoren, wodurch sich der antisekretorische Effekt der endogenen Opioide verlängert. Racecadotril verringert die durch Choleratoxine und Entzündungen bedingte intestinale Hypersekretion von Wasser und Elektrolyten. Es hat keinen Effekt auf die basale Sekretion. Das Gleichgewicht zwischen Resorption und Sekretion wird wieder hergestellt. Die Substanz wirkt im Darm antisekretorisch und hat keinen Einfluss auf die Darmmotilität (im Gegensatz zu Loperamid).
Die Dosierung richtet sich nach dem Körpergewicht. Üblich sind 1,5 mg/kg pro Einnahme, 6 mg/kg als Tagesdosis sollten nicht überschritten werden. Die Behandlung wird bis zur Normalisierung des Stuhlgangs fortgesetzt, aber nicht länger als sieben Tage.
Nach peroraler Gabe wird Racecadotril schnell resorbiert. Allerdings werden nur etwa 1 Prozent der verabreichten Dosis im Gewebe verteilt. Daraus ergibt sich eine bevorzugte Wirkung an den Epithelzellen des Dünndarms. Die Zeit bis zur Hemmung der Plasma-Enkephalinase nach Einnahme des Medikaments beträgt 30 Minuten, der maximale Effekt wird nach etwa zwei Stunden erreicht. Die Wirkung kann bis zu acht Stunden andauern. Die Halbwertszeit beträgt etwa drei Stunden. Racecadotril und seine Metaboliten werden hauptsächlich renal eliminiert.
Der Wirkstoff ist gut verträglich und kann die Dauer des Durchfalls erheblich reduzieren. Der Bedarf an Elektrolytlösungen zur Wiederherstellung des natürlichen Mineralhaushalts (Rehydratation) im Körper wird vermindert. Als häufigste Nebenwirkungen wurden Erbrechen und Fieber beschrieben, gelegentlich treten verringerte Kaliumgehalte (Hypokaliämie), Darmverschluss (Ileus) und Bronchialkrampf (Bronchospasmus) auf. Nach Markteinführung wurde bei Kindern vereinzelt über Hautausschlag berichtet.
Auf Grund fehlender klinischer Studien ist Racecadotril zur Anwendung bei Frauen im gebärfähigen Alter, bei schwangeren und stillenden Frauen sowie bei Säuglingen unter drei Monaten nicht zugelassen.
Interaktionen mit anderen Wirkstoffen sind beim Menschen bisher nicht bekannt. Da das Fertigarzneimittel Saccharose enthält, ist es bei Patienten mit vererbter Fructoseintoleranz, Glucose-Galactose-Malabsorption oder Saccharose-Isomaltase-Mangel kontraindiziert (5).
Die Wirksamkeit von Racecadotril auf die Dauer und Intensität von Durchfällen wurde in klinischen Studien gezeigt. In einer randomisierten Doppelblindstudie wurden Kinder mit Racecadotril oder Placebo zusätzlich zur standardisierten oralen Rehydratationstherapie behandelt. Im Vergleich zu Placebo verringerte das Verum die Stuhlmenge in den ersten zwei Tagen um 40 bis 50 Prozent und verkürzte signifikant die Diarrhödauer. In der mit Racecadotril behandelten Gruppe dauerten die Durchfälle etwa 28 Stunden, unter Placebo zwischen 52 und 72 Stunden, je nachdem ob es sich um Rotavirus-positive oder -negative Patienten handelte. Auch die Erholungsphase war nach Gabe von Racecadotril kürzer (1 versus 2 bis 3 Tage). Außerdem besserten sich Begleitsymptome wie Bauchschmerzen und Blähungen (6).
In einer Vergleichsstudie an Kindern zwischen 2 und 10 Jahren mit akuter Diarrhö hatten Racecadotril und Loperamid vergleichbare Wirkung (7). Allerdings waren Verträglichkeit und Sicherheit des neuen Wirkstoffs besser. Als Nebenwirkung traten bei den Patienten in der Loperamid-Gruppe häufiger Obstipationen auf als in der mit dem neuen Arzneistoff behandelten Gruppe.
In einer weiteren Studie erhielten Kinder im Alter zwischen drei Monaten und drei Jahren eine orale Rehydratation mit oder ohne Racecadotril. Als Parameter für die Schwere der Krankheit diente die Anzahl erneuter Konsultationen nach Beginn der ambulanten Behandlung. Sie war bei Racecadotril-Behandlung deutlich geringer. Wegen mangelhafter Randomisierung und des offenen Designs ist die Studie jedoch methodisch unzureichend und nicht aussagekräftig (4).
Insgesamt steht mit Racecadotril eine neue Behandlungsstrategie der Diarrhö zur Verfügung. Die klinischen Studien zeigen eine gute Wirkung und ein günstiges Nebenwirkungsprofil. Allerdings ist das Auftreten von Obstipationen nicht zu unterschätzen, obwohl der Wirkstoff kein Motilitätshemmer ist. Diese Nebenwirkung mahnt zur Vorsicht beim Einsatz der neuen Substanz, bis Langzeitdaten vorliegen (7). Inwieweit sich Racecadotril gegenüber etablierten Medikamenten durchsetzt, ist noch nicht abzusehen.
Neue Enkephalinase-Inhibitoren
Gegenwärtig versuchen verschiedene Firmen, weitere Inhibitoren zu entwickeln oder natürlich vorkommende Mediatoren mit Enkephalinase-hemmender Aktivität zu isolieren. In der Entwicklung befindet sich eine Reihe von synthetischen Substanzen wie RB 101, RB 120, RB 38A und RB 38B, BI-2401 sowie die endogenen Peptide Spinorphin und Sialorphin und die synthetischen Heptapeptide Selank und Semax. Auch bekannte Arzneistoffe, zum Beispiel die Penicilline, werden auf ihre Enkephalinase-inhibierende Aktivität geprüft.
Einige Substanzen, zum Beispiel RB 101, hemmen nicht nur die Enkephalinase, sondern zusätzlich weitere Enkephalin-abbauende Enzyme. Sie werden deshalb als Misch-Enkephalinase-Inhibitoren bezeichnet.
Daneben wird eine zweite Richtung verfolgt: die Entwicklung von Peptidregulatoren. Bisher sind Livagen (Lys-Glu-Asp-Ala) und Epitalon (Ala-Glu-Asp-Gly) bekannt. In tierexperimentellen Untersuchungen an Ratten beeinflussten beide Peptide nicht die Aktivität der Enkephalinase, sondern hemmten die Aktivität von anderen Enkephalin-spaltenden Enzymen (Dipeptidasen) im Serum. Dadurch erhöhten auch sie die Konzentration von Enkephalinen und beeinflussen das endogene Opioidsystem (8). Sie hatten selbst keine Wirkung an Opioidrezeptoren. Ihr therapeutischer Einsatz ist noch nicht geklärt.
Antinozizeptive Wirkung
Neben der antisekretorischen Wirkung wurde in klinischen Studien mehrfach die analgetische Wirkung von Enkephalinase-Hemmern nachgewiesen. Zu den potentesten derzeit verfügbaren Stoffen zählen endogene Substanzen wie Sialorphin und Spinorphin, aber auch synthetische Verbindungen wie BI-2401 und einige Penicilline.
In einer klinischen Studie aus dem Jahr 2003 wurde das Pentapeptid Sialorphin an Ratten in zwei Schmerzmodellen getestet. Sowohl bei akuten Schmerzen im Nadelstich-Test als auch bei tonischen Schmerzen im Formalin-Test konnte ein analgetischer Effekt gezeigt werden. Sialorphin wurde in Dosen von 100 bis 200 µg/kg intravenös appliziert und blockierte den Abbau von Enkephalinen und Substanz P im ZNS und in der Niere. Dadurch blieb das endogene Opioidsystem länger aktiv und die Analgesie wirkte länger. Es ist denkbar, dass Sialorphin als ein natürlicher systemischer Modulator der Aktivität der Enkephalinase fungiert (9).
In einer 2001 veröffentlichen Studie wurde die Wirkung des Heptapeptids Spinorphin, eines Inhibitors des Enkephalin-abbauenden Enzyms Dipeptidyl-Peptidase III, und Leu-Enkephalin nach intrathekaler Gabe an Mäusen verglichen. Neben der analgetischen Wirkung konnten antiinflammatorische Effekte und eine Hemmung der Kontraktion der glatten Muskulatur nachgewiesen werden. Beide Substanzen erhöhten bei thermischer und mechanischer Schmerzreizung die Schmerzschwelle. Außerdem verstärkte Spinorphin die schmerzhemmende Wirkung von Leu-Enkephalin.
Nach intrazerebroventrikularer (i.c.v.) Gabe zeigte Spinorphin selbst keinen analgetischen Effekt, verstärkte jedoch wieder die Wirkung von Leu-Enkephalin. Auch die alleinige i.c.v. Gabe von Leu-Enkephalin erhöhte die Schmerzschwelle bei mechanischer Reizung und Hitze. Da beide Effekte durch Naloxon antagonisiert wurden, wird eine Modulation des endogenen Opioidsystems durch Spinorphin postuliert (10).
Auch zahlreiche Arzneistoffe wie Penicilline haben eine Enkephalinase-inhibitorische Aktivität. Einige Penicilline sind kompetitive reversible Hemmstoffe dieses Enzyms. In Bindungsstudien hatte Carfecillin die stärkste Wirkung, Ampicillin, Nafcillin und Carbenicillin zeigten moderate Wirkungen, während Benzylpenicillin unwirksam war. Die Hemmung konnte ebenfalls durch den Opioidrezeptor-Antagonisten Naloxon aufgehoben werden. Mit Carfecillin könnte eine neue Leitstruktur für die Entwicklung von stark wirksamen Enkephalinase-Inhibitoren zur Verfügung stehen (11).
Interessanterweise können Enkephalinase-Inhibitoren auch synergistisch zu herkömmlichen Schmerzmitteln wirken. Dazu untersuchte man an Mäusen die Substanz RB 101 in Kombination mit Acetylsalicylsäure, Ibuprofen und Morphin in sehr niedrigen Dosen in unterschiedlichen Schmerz- (Hot-plate-, Tail-flick-Test) und Entzündungsmodellen (Formalin-Test) sowie an polyarthritischen Ratten. Im Formalin-Test verstärkte RB 101 die schmerzlindernde Wirkung von Acetylsalicylsäure und Ibuprofen. Im Hot-plate- und Tail-flick-Test wurde die dosisabhängige schmerzlindernde Wirkung von RB 101 deutlich durch eine unwirksame Dosis von Morphin (0,5 mg/kg) verstärkt. Die Kombination mit Acetylsalicylsäure und Ibuprofen zeigte bei diesem Versuch keinen Effekt. Diese Befunde sprechen dafür, dass die Schmerzleitung und nicht die Schmerzentstehung durch die Enkephalinase-Inhibitoren beeinflusst wird.
Daraus ergeben sich sehr attraktive Möglichkeiten für die Schmerztherapie. Wenn schon mit sehr geringen Morphin-Dosen ein deutlich analgetischer Effekt erzielt wird, können nicht nur die Dosen gesenkt, sondern auch die typischen Nebenwirkungen wie Atemdepression, Obstipation und Übelkeit vermindert werden (12). Im Entzündungsmodell begünstigen sich beide Substanzen durch unterschiedliche Wirkungsmechanismen.
Ein weiterer Hemmstoff der Enkephalinase, BI-2401, hatte nach peroraler Einnahme nicht nur antinozizeptive, sondern auch antidepressive Effekte. Diese konnten an Mäusen im Schwimmtest nachgewiesen werden und stehen ebenfalls in Verbindung mit dem endogenen Opioidsystem. Beide Effekte waren durch Naloxon antagonisierbar. Für die Wirkungen ist das aktive Stoffwechselprodukt BI-2240 verantwortlich, das in vitro selektiv die Enkephalinase hemmt. Die orale Gabe von BI-2401 verminderte die Aktivität der Enkephalinase im Striatum von Mäusen und potenzierte den antinozizeptiven Effekt von intrazisternal (in den Liquor) verabreichtem (D-Ala2, Met5)-Enkephalin (12).
Antidepressive Wirkung
Pharmakologische, neurochemische und Verhaltensuntersuchungen sprechen für eine Beteiligung endogener Opioide bei Depressionen. Endogene Opioide und ihre m- und d-Rezeptoren sind in hoher Konzentration im limbischen System vorhanden. Sie sind an der Regulation von Stimmung und Verhalten beteiligt (14). Nach Untersuchungen von Pickar und Mitarbeitern (15) haben depressive Patienten ein Defizit und manische Patienten einen Überschuss an endogener Opioidaktivität im Plasma.
Der Misch-Enkephalinase-Inhibitor RB 101 verursachte einen dosisabhängigen antidepressiven Effekt im konditionierten Avoidance-Test an Wistar-Ratten. Die Wirkung war vergleichbar mit einem selektiven Opioidrezeptor-Agonisten und wurde durch Naltrindol antagonisiert. Dies zeigt eine Beteiligung der Opioidrezeptoren bei diesem Enkephalin-kontrollierten Verhalten. Bei der Behandlung von depressiven Patienten, bei denen klassische Antidepressiva unwirksam sind, könnte RB 101 eine mögliche Alternative darstellen (16).
Auch der Misch-Enkephalinase-Hemmstoff RB 38A und der selektive Inhibitor der Enkephalinase RB 38B scheinen antidepressiv wirksam zu sein. Im Test zeigten beide Inhibitoren vergleichbare Effekte wie Imipramin. Entsprechend ihren unterschiedlichen pharmakologischen Potenzialen verursachte RB 38A eine stärkere Hemmung der Enkephalinase. Die Wirkung beider Substanzen wurde von Naloxon antagonisiert. Es wird postuliert, dass die Enkephalinase-Hemmstoffe, die die Blut-Hirn-Schranke überwinden, möglicherweise eine neue Strategie in der Behandlung von affektivem Fehlverhalten eröffnen (17).
Einige Untersuchungen deuten darauf hin, dass ein Zusammenhang zwischen stimmungsaufhellender Wirkung von Antidepressiva und Inhibition von Enzymen besteht, die für den Abbau von Enkephalinen verantwortlich sind. Imipramin hemmt die Enkephalin-abbauende Aminopeptidase in vitro. Kinetische Analysen ergaben, dass das Enzym zwei Bindungsstellen aufweist und Imipramin mit dem Enzym in einer gemischten kompetitiv/nicht-kompetitiven Weise interagiert. Die antidepressive Wirkung könnte also im Zusammenhang mit dem endogenen Opioidsystem stehen, das durch erhöhte Konzentrationen von Enkephalinen verstärkt aktiviert wird (18).
Anxiolytische Wirkung
Auch Angstzustände und phobische Störungen könnten ein weiteres Einsatzgebiet für Enkephalinase-Inhibitoren darstellen. Die synthetischen Heptapeptide Selank und Semax hemmten in klinischen Studien dosisabhängig die Enkephalinase im menschlichen Serum. Der Effekt war stärker als der der Peptidasehemmer Bacitracin und Puromycin (19). Neben den Heptapeptiden besitzen auch ihre Pentapeptide eine solche Wirkung, nicht aber die Tri-, Tetra- und Hexapeptidfragmente.
Die Blockade der Enkephalinase durch Selank ist möglicherweise für dessen anxiolytische Wirkung verantwortlich. Patienten mit verschiedenen Angstsymptomen und phobischen Störungen zeigten eine beträchtliche Verkürzung der Enkephalin-Halbwertszeit und verringerte Gesamtenkephalin-Tätigkeit im Blut während der generalisierten Angst, nicht aber während Panikstörungen.
Vermutlich besteht ein Zusammenhang zwischen der Blutkonzentration an endogenen Enkephalinase-Inhibitoren und Angststörungen, da Patienten mit generalisierten Angstzuständen niedrige Blutspiegel hatten.
Durch die Hemmung der enzymatischen Hydrolyse von Plasma-Enkephalin war Selank hoch effizient in der Therapie von Angst und phobischen Störungen, einschließlich der generalisierten Angststörungen. Typische Nebenwirkungen, die von den meisten Anxiolytika hervorgerufen werden, wurden nicht beobachtet (20).
Einsatz bei Morbus Parkinson
Der mögliche Einsatz von Enkephalinase-Inhibitoren bei Patienten mit Morbus Parkinson wird ebenfalls diskutiert. Die symptomatische Behandlung des Morbus Parkinson basiert derzeit vorwiegend auf einer Dopaminersatztherapie.
Agonisten am δ-Opioidrezeptor weisen einen Antiparkinson-ähnlichen Effekt bei Nagern auf, der mit einer Dopaminersatztherapie vergleichbar ist. Enkephalinase-Inhibitoren, die die Konzentration an Enkephalinen erhöhen, die als δ-Opioidrezeptor-Agonisten wirken, könnten einen neuen therapeutischen Ansatz bei der Parkinsonbehandlung bieten. Allerdings ist dies noch sehr spekulativ und bedarf vieler pharmakologischer und biochemischer Untersuchungen (21).
Zusammenfassung
Racecadotril ist der erste orale Enkephalinase-Inhibitor und seit September 2004 in Deutschland zur ergänzenden symptomatischen Therapie von über drei Monate alten Säuglingen und Kindern mit akuter Diarrhö zugelassen. Ergänzend zu den Rehydratationsmaßnahmen senkt es die Stuhlfrequenz und bessert Bauchschmerzen. Trotz beschriebener Obstipationen hat es bei guter Wirkung ein günstiges Nebenwirkungsprofil. Damit ist die Substanz vor allem für Kleinkinder nützlich, da Loperamid bei Kindern unter zwei Jahren auf Grund ihrer noch nicht ausgereiften Leberfunktion kontraindiziert ist.
Durch die Entwicklung von Racecadotril wurde in vielen Laboratorien das Interesse an Enkephalinase-Inhibitoren geweckt. Heute befinden sich mehrere Wirkstoffe für unterschiedliche Einsatzgebiete in der Entwicklung. Bisher liegen einige präklinische und klinische Studien vor, wobei die Ergebnisse zur antinozizeptiven und entzündungshemmenden Wirkung viel versprechend sind. Ob sich daraus neue therapeutische Einsatzgebiete ableiten lassen, hängt nicht nur von weiteren Studien, sondern auch von neuen hoch wirksamen und selektiveren Verbindungen ab.
Literatur
Die Autoren
Nadin Heubach begann 2001 das Studium am Institut für Pharmazie der Universität Leipzig und legte 2003 das 1. Pharmazeutische Staatsexamen ab. Sie absolvierte das Wahlpflichtpraktikum in der Arbeitsgruppe von Professor Karen Nieber. Gegenwärtig bereitet sie sich auf das 2. Pharmazeutische Staatsexamen vor.
Christine Wohllebe begann ebenfalls 2001 das Pharmaziestudium in Leipzig und legte 2003 das 1. Pharmazeutische Staatsexamen ab. Auch sie absolvierte das Wahlpflichtpraktikum in der Arbeitsgruppe von Professor Nieber. Derzeit bereitet sie sich auf das 2. Pharmazeutische Staatsexamen vor.
Karen Nieber studierte an der Technischen Hochschule in Magdeburg. Nach dem Diplom arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Themenleiterin am Institut für Wirkstoffforschung der Akademie der Wissenschaften und am Forschungsinstitut für Lungenkrankheiten und Tuberkulose in Berlin (Ost). 1981 wurde sie zum Dr. rer. nat. promoviert und erhielt 1990 die Promotion B zum Dr. sc. nat. für das Fachgebiet »Experimentelle Biomedizin«. Von 1991 bis 1995 war sie wissenschaftliche Angestellte am Pharmakologischen Institut der Universität Freiburg. Sie habilitierte sich 1994 im Fach Pharmakologie und Toxikologie und wurde zur Privatdozentin ernannt. 1995 folgte sie einem Ruf auf den Lehrstuhl Pharmakologie für Naturwissenschaftler am Institut für Pharmazie der Universität Leipzig. Sie ist seit 2002 geschäftsführende Direktorin des Instituts für Pharmazie.
Anschrift der Verfasser:
Nadin Heubach, Christine Wohllebe, Professor Dr. Karen Nieber
Universität Leipzig
Institut für Pharmazie, Pharmakologie für Naturwissenschaftler
Talstraße 33
04103 Leipzig
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