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Neuropathischer Schmerz – Klassifizierungen und Behandlungsoptionen

11.10.2004  00:00 Uhr
.Pharmakotherapie

Neuropathischer Schmerz – Klassifizierungen und Behandlungsoptionen

von Arne Kulm, Jan Müller, Tobias Schatton und Holger Stark, Frankfurt am Main

In Abgrenzung zum nozizeptiven Schmerz, dem bei Verletzungen oder bei Reizungen und Entzündungen von gesundem Gewebe vermittelten Schmerz als physiologischem Warnsignal, ist der neuropathische Schmerz auf Läsionen, Fehlfunktionen oder Entzündungen von Nerven zurückzuführen. Ihm liegen Reizphänomene durch Übererregbarkeit dieser geschädigten Nerven zu Grunde. Der neuropathische Schmerz wird überdurchschnittlich häufig schlecht diagnostiziert und therapiert.

Von neuropathischen Schmerzen sind in den Industrienationen unabhängig von Geschlecht, Rasse oder sozio-ökonomischen Status circa zwei bis vier Prozent der Bevölkerung betroffen. Mit zunehmendem Alter steigt die Prävalenz auf circa acht Prozent. Die Reizphänomene des neuropathischen Schmerzes sind durch (nicht-Stimulus-evozierte) Spontanschmerzen sowie Stimulus-evozierte, abnormale Schmerzen wie Hyperalgesie, Allodynie, Parästhesie und Dysästhesie (siehe Glossar) gekennzeichnet, die ein unangenehmes oder schmerzhaftes Empfinden hervorrufen (1). Leichte neuropathische Schmerzen gehen mit stark variierenden Symptomen wie Jucken, Kribbeln, Drücken oder Brennen einher. Sie können ständig präsent sein, aber auch blitzartig einschießen.

 

GlossarAllodynie: ein normalerweise nicht schmerzhafter Reiz ruft starke Schmerzen hervor. Etwa das Tragen von Kleidung wird schon als schmerzhaft empfunden. Im Gegensatz zu anderen Formen von evoziertem Schmerz stellt die Allodynie immer ein zentrales Phänomen dar, welches von dicken myelinisierten Fasern vermittelt wird.

Dysästhesie: Form der Sensibilisierungsstörung, bei der Reize qualitativ anders und unangenehm empfunden werden, ein abnormales, unangenehmes, aber nicht zwingend schmerzhaftes Erlebnis, nur schwer von der Hyperalgesie abzugrenzen. Vermutlich ist sie auf Sensibilisierung von C-Nozizeptoren zurückzuführen.

Hyperalgesie: gesteigerte Schmerzempfindlichkeit; ein Stimulus, der unter normalen Bedingungen einen milden Schmerz hervorruft, wird von einem neuropathischen Patienten als übermäßig intensiv empfunden. In der Regel wird Hyperalgesie durch eine überhöhte zentrale Antwort auf eingehende Signale von Aβ-Fasern in das zentrale Nervensystem erzeugt.

Parästhesie: subjektive Missempfindung, ein abnormales, nicht schmerzhaftes Gefühl, welches auch spontan auftreten kann. Es wird häufig als „Kribbeln“ beschrieben. Die Parästhesie wird hervorgerufen durch spontane Entladungen in afferenten Aβ-Fasern.

 

Zweifache Klassifizierung

Die traditionelle Einteilung der neuropathischen Schmerzen richtet sich nach den ihnen zum Teil zu Grunde liegenden Krankheiten wie viralen Erkrankungen (zum Beispiel Herpes-Zoster- oder HIV-Infektion), mechanischen Nervenverletzungen (zum Beispiel Trauma, Bandscheibenvorfall), neurotoxischen Substanzen (zum Beispiel Zytostatikatherapie, Alkoholabusus), entzündlichen Prozessen (zum Beispiel Vaskulitis, Guillain-Barré-Syndrom) oder metabolischen Erkrankungen (zum Beispiel Diabetes mellitus, Amyloidose) (2, 3). Obwohl diese Einteilung für ein Erkennen der Erkrankung vorteilhaft ist, erweist sie sich meist für eine ursächliche Schmerztherapie als wenig zuverlässig.

Neuere Ansätze gehen dazu über, die Krankheit nach den zu Grunde liegenden pathophysiologischen Mechanismen, also systematisch nach neurologischen und biochemischen Veränderungen zu klassifizieren. Darauf basiert folgende Einteilung:

  • Sympathisch unterhaltenen

Teilgeschädigte Neurone oder Bereiche des proximalen Spinalganglions werden im Gegensatz zum gesunden Gewebe direkt oder indirekt positiv funktionell mit Adrenozeptoren gekoppelt und können so über Catecholamine zur Erregung primärer (somatosensorischer) Afferenzen führen (4).

  • Abnorme Erregbarkeit

Die vermehrte Expression und Fehlverteilung von Kationenkanälen führt zur Spontanaktivität und damit zu Schmerzen. Neben N-Typ-Calciumkanälen sind es insbesondere die langsamen Tetrodotoxin-resistenten Natriumkanäle (TTX-R), die herunterreguliert werden. Dagegen werden die schnellen Tetrodotoxin-sensiblen Natriumkanäle (TTX-S) hochreguliert und auf zentralen oder peripheren Nerven angereichert (5). Der dadurch erhöhte Natriumionen-Einstrom führt zu abnormen Depolarisationsmustern von Axonen und zum Spontanschmerz beziehungsweise zur gesteigerten mechanischen Empfindlichkeit.

  • Disinhibition von Nozizeptoren

Physiologisch werden sekundäre, im Hinterhorn des Rückenmarks lokalisierte Neurone durch primäre Afferenzen stimuliert und durch Noradrenalin und Serotonin, insbesondere aber durch γ-Aminobuttersäure (GABA) und Glycin inhibiert. Durch Nervenläsionen kommt es zur Abschwächung der Inhibition und zur Senkung der Konzentration der Schmerzinhibitoren (6). Ferner reduziert eine gesteigerte Ausschüttung des Neuropeptids Cholezystokinin die Dichte von antinozizeptiven µ-Opioidrezeptoren. Ein weiterer Grund wird im Untergang inhibitorischer Interneurone gesehen, der durch toxische Stoffwechselprodukte oder vielfache Übererregung durch exzitatorische Aminosäurerezeptoren verursacht wird.

  • Zentrale Sensibilisierung

Ein anhaltender Einstrom von Schmerzsignalen aus der Peripherie verstärkt die Erregbarkeit sekundärer Neurone. Die sich steigernde Sensibilisierung als Antwort auf die abnorme zeitliche Summation sich wiederholender C-Faser-Stimulationen wird als „wind-up-Phänomen“ bezeichnet. In der Folge reagiert das Neuron mit erhöhter Depolarisationsfrequenz, wodurch auch nicht schmerzhafte Reize als Schmerz empfunden werden (Allodynie). Diese Phänomene sind im Wesentlichen über exzitatorische glutamaterge Rezeptoren vermittelt. Über Subtypen ionotroper Glutamatrezeptoren, zunächst über α-Amino-3-hydroxy-5-methyl-4-isoxazol-Propionsäure- (AMPA)- und dann über N-Methyl-D-Aspartat- (NMDA)-Rezeptoren erfolgt ein vermehrter Kationen-Einstrom und damit eine erhöhte Erregbarkeit der Hinterhornneurone (7). Dies führt, gleichbedeutend mit einer Ausbreitung von hyperalgetischen Symptomen, zu einer Vergrößerung von rezeptiven Feldern in der Peripherie.

  • Periphere Sensibilisierung

Periphere Nervenläsionen führen zu Degenerationen sowie zu entzündlichen Prozessen. Unter Beteiligung von Entzündungsmediatoren, Zytokinen, Neuropeptiden und Wachstumsfaktoren wird die Erregungsschwelle von intakten Schmerzfasern herabgesetzt. Im Verlauf dieser Sensibilisierung wird dies durch die Induktion von neurogenen Entzündungsreaktionen und der damit einhergehenden Radikalbildung weiter verstärkt (8). Durch Wachstumsfaktoren kommt es zum vermehrten Sprießen afferenter Fasern und zur Ausbildung von Synapsen, die als sekundäre Afferenzen zu einer Signalverstärkung führen. Dadurch können neben den induzierten neurogenen Entzündungsprozessen weitere Potenzierungen des Schmerzempfindens resultieren (9).

  • Anatomische Reorganisation

Durch Absterben nozizeptiver C-Afferenzen werden im Hinterhorn des Rückenmarks die freigewordenen Synapsen von dick myelinisierten Aβ-Berührungsfasern besetzt. Der somit von sensorischen, nicht-schmerzvermittelnden Fasern erlangte Anschluss an das aufsteigende schmerzvermittelnde System führt zu Schmerzen durch harmlose Berührungsreize (mechanische Allodynie). Die diesem Prozess vorangehenden Vorgänge sind eine andere Form des „wind-up“ (10). Darüber hinaus erlangen die ursprünglich sensorischen Fasern zusätzlich Eigenschaften schmerzempfindlicher Neurone. Sie exprimieren zum Beispiel Nozizeptoren und beginnen mit der Produktion und Ausschüttung von Neuropeptiden wie Substanz P, die im Folgenden zu einer verstärkten zentralen Sensibilisierung führen können (11).

Therapeutische Möglichkeiten

Die Mechanismen der neuropathischen Schmerzentstehung sind vielfältig. Mit den wenigen zurzeit in der Neuropathie zugelassenen Arzneimitteln ist oft nur eine Behandlung der Symptome möglich. Die überwiegende Zahl der eingesetzten Medikamente wurde ursprünglich für andere Indikationen entwickelt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Nebenwirkungen häufig sehr ausgeprägt sind. In den letzten 50 Jahren wurden Arzneistoffe eingesetzt, von denen nur einige zur Therapie neuropathischer Schmerzen zugelassen sind.

Hier sind Antidepressiva (zum Beispiel Amitryptilin, Maprotilin, SSRIs), Antiepileptika (zum Beispiel Carbamazepin, Phenytoin, Gabapentin, Lamotrigin, Clonazepam), Lokalanästhetika und Antiarrhythmika (zum Beispiel Lidocain, Mexiletin), am Sympathikus angreifende Stoffe (zum Beispiel Guanethidin, Clonidin), NMDA-Rezeptorantagonisten (zum Beispiel Ketamin, Amantadin, Memantine, Dextromethorphan), GABA-Agonisten (zum Beispiel Baclofen), topisch angewandte Arzneistoffe (zum Beispiel Capsaicin), Opioide (zum Beispiel Tramadol, Morphin, Oxycodon) sowie NSAIDs und Glucocorticoide (zum Beispiel Ibuprofen, Diclofenac, Methylprednisolon) aufzuführen (12).

Im Folgenden soll die klinische Effektivität der genannten Arzneistoffgruppen näher erläutert werden. Generell muss festgestellt werden, dass nur ein gewisser Prozentsatz der Patienten nach Behandlung mit den beschriebenen Pharmaka eine Verbesserung der neuropathischen Symptome erfährt.

  • Antidepressiva

Die Wirksamkeit von Antidepressiva bei neuropathischem Schmerz steht außer Frage. Vor allem Trizyklika (TCA) zeigen große Potenz bei der Schmerzlinderung mancher Formen der Neuropathie. Amitryptilin ist für die Indikation neuropathischer Schmerz zugelassen. Eine Verbesserung der Symptome wird bei 60 bis 70 Prozent der Patienten und hier vor allem bei denen mit zentralen Schmerzsymptomen, Polyneuropathien und postherpetischer Neuralgie beobachtet (14).

Zahlreiche TCAs sind effektive Natriumkanal-Inhibitoren und wirken so der NaTTX-S-up-Regulation entgegen. Außerdem sind sie Antagonisten der NMDA-Rezeptoren, die eine bedeutsame Rolle bei der zentralen Sensibilisierung und Schmerzentstehung spielen. Auch im Falle einer sympathisch unterhaltenen Neuropathie haben Antidepressiva durch Eingriff in das monoaminerge System schmerzlindernde Effekte.

Der große Nachteil der Trizyklika liegt in ihrem hohen Nebenwirkungsprofil. Als anticholinerge Nebenwirkungen sind starke Mundtrockenheit und kardiovaskuläre Störungen wie Blutdrucksenkung oder Tachykardie bekannt. Die Natriumkanal-Blockade kann zu Überleitungsstörungen führen. Auch zentralnervöse Störungen, etwa Tremor oder anhaltender Schwindel, werden beschrieben.

Selektiven Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRIs) wie Fluoxetin, die sich durch ein deutlich besseres Nebenwirkungsprofil auszeichnen, mangelt es an ausreichender Potenz in der Therapie von Neuropathien. Ihr alleiniger Einsatz als Monotherapeutikum führt meist nicht zu den erwünschten schmerzlindernden Effekten.

  • Antiepileptika

In der Therapie der Neuropathie findet am häufigsten Einsatz das Antikonvulsivum Carbamazepin, das den größten analgetischen Effekt bei Trigeminal-(Gesichts-)Neuralgien zeigt. Eine Verbesserung der Symptome wird vor allem bei Spontanschmerzen beobachtet (15). Auch Carbamazepin ist für die Indikation „neuropathischer Schmerz“ zugelassen.

Auf Grund der strukturellen Ähnlichkeit gleicht sein Wirkspektrum dem der TCA. Allerdings überwiegt die Natriumkanal-Blockade deutlich. Zu den ohnehin schon starken Nebenwirkungen, wie sie auch die Trizyklika zeigen, kommt erschwerend noch die Möglichkeit einer Leukopenie hinzu, die ständige Blutbildkontrollen und gegebenenfalls den Abbruch der Therapie erforderlich macht.

Der Wirkmechanismus von Phenytoin entspricht dem von Carbamazepin. Phenytoin zeigt jedoch ein ungünstigeres Langzeitwirkungsprofil. Hinzu kommen schwere Nebenwirkungen wie Kleinhirnatrophie, Osteoporose und Gingivahyperplasie (16). Die Daten zu Lamotrigin sind widersprüchlich. Einige Studien belegen die Wirksamkeit des Antiepileptikums bei HIV-assoziierter und diabetischer Neuropathie (17). In anderen Studien hingegen konnte keine signifikante Schmerzreduktion festgestellt werden. Zu den zweifelhaften Studienergebnissen kommt auch hier das recht häufige Auftreten unerwünschter Arzneimittelwirkungen hinzu.

Als relativ neue Verbindung bindet Gabapentin, das ursprünglich als GABA-Analogon entwickelt wurde, aber keine GABAerge Wirkung zeigt, an die α2δ-Untereinheit spannungsabhängiger N-Typ-Calciumkanäle. Dadurch wird die Spontanaktivität geschädigter Axone unterdrückt. Ferner wird zumindest teilweise eine Natriumkanal-Blockade beobachtet. Die Depolarisation der präsynaptischen Membran wird erschwert, wodurch zusätzlich die physiologische Freisetzung von Glutamat in den synaptischen Spalt vermindert wird. Zu den vielfältigen Wirkmechanismen von Gabapentin zählt darüber hinaus die teilweise Blockade spannungsabhängiger Kaliumkanäle (18).

Im Vergleich zu den anderen in der Behandlung der Neuropathie eingesetzten Substanzen weist das zur Therapie des neuropathischen Schmerzes zugelassene Gabapentin vermutlich die beste Datenlage auf. Zahlreiche Studien belegen seine Wirksamkeit vor allem bei postherpetischer Neuralgie, Poly- und speziellen diabetischen Neuropathien (19). Von großem Vorteil sind geringere Nebenwirkungen wie Nystagmus und leichter Schwindel, die von Patienten im Allgemeinen gut toleriert werden.

  • Lokalanästhetika

Bei sympathisch unterhaltenen Schmerzen gelten Lokalanästhetika als Off-label-use-Alternative. Sie wirken durch Blockade von Spontanschmerzen in peripheren Nerven und im Hinterhornganglion. Vor allem in schwerwiegenden Fällen und bei unzureichendem Erfolg durch Sympathikusblockade, etwa durch Guanethidin, kann die kontinuierliche Plexusanästhesie mit Lidocain an den oberen Extremitäten zu einem Therapieerfolg führen. Es gibt jedoch nicht genug kontrollierte Studien, die die dauerhafte Effizienz dieser Therapieform belegen (1).

Nachteilig bei Lidocain ist die Notwendigkeit der parenteralen beziehungsweise topischen Applikation. Eine Alternative stellt das oral bioverfügbare Antiarrhythmikum Mexiletin dar. Allerdings ist dessen Wirksamkeit bei erhöhtem Risiko von Nebenwirkungen deutlich geringer.

  • Sympatholytika

Der Einsatz Sympathikusaktivität-hemmender Substanzen erscheint beim sympathisch unterhaltenen Schmerz sinnvoll. Jedoch konnten alle systemischen Therapieversuche mit oral oder intravenös applizierten α-Rezeptor-inhibierenden Substanzen wie Phentolamin oder β-Rezeptorblockern wie Metoprolol in Therapiestudien nicht überzeugen. Im Gegenteil: Sie beeindrucken eher durch Nebenwirkungen als durch Schmerzreduktion (20). Lediglich die intravenöse Sympathikusblockade mit dem indirekten Sympatholytikum Guanethidin konnte zur Besserung der Beschwerdesymptomatik führen.

Einen schmerzstillenden Effekt bei verschiedenen neuropathischen Symptomenkreisen zeigen α2-Rezeptoragonisten wie Clonidin oder Dexmedetomidin. Der zu Grunde liegende Wirkmechanismus ist völlig ungeklärt (21).

  • NMDA-Antagonisten

Wie bereits aufgeführt, spielen N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptoren als wichtige Untergruppe der glutamatergen exzitatorischen Aminosäurerezeptoren bei der Vermittlung der zentralen Sensibilisierung eine entscheidende Rolle. Bei NMDA-Rezeptoren handelt es sich um Ionenkanäle, die aus mehreren unterschiedlichen Untereinheiten zusammengesetzt sind. Der Unterschied zu anderen Glutamatrezeptoren (AMPA, Kainat oder metabotropen Glutamatrezeptoren) besteht in einer höheren Durchlässigkeit für Calciumionen sowie in längeren Öffnungszeiten und einer spannungsabhängigen Magnesiumion-Blockade (7).

Die pathologisch gesteigerte Depolarisationsfrequenz von C-Fasern beim neuropathischen Schmerz bewirkt eine übersteigerte Glutamatfreisetzung. Unter diesen Bedingungen werden nicht nur die AMPA-Rezeptoren aktiviert. Postsynaptisch kommt es auch zur Aufhebung der spannungsabhängigen Magnesiumblockade der NMDA-Rezeptoren und dadurch zu einem erhöhten Calciumionen-Influx. Der Rezeptor wird aktiviert und infolge dessen der übertragene Reiz von C-Fasern auf das sekundäre Neuron zusätzlich verstärkt (22).

Unter physiologischen Bedingungen stellt dieser Prozess die Grundlage für Lernprozesse dar. Eine bedeutende Rolle spielt hierbei die so genannte synaptische Plastizität. Bei pathophysiologischen Prozessen wie der Neuropathie kommt es zur Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses. NMDA-Rezeptoren nehmen dabei eine Schlüsselrolle ein. Über zahlreiche kompetitive und allosterische Bindungsstellen wird dieser Ionenkanal durch verschiedene Stoffe beeinflusst.

Einer der bekanntesten Vertreter mit einer Aminstruktur ist das Injektionsnarkotikum Ketamin. Als am besten untersuchter NMDA-Rezeptorantagonist bei Neuropathien zeigt Ketamin signifikante schmerzlindernde Effekte bei Phantomschmerzen, Spontanschmerz und postherpetischer Neuralgie (23). Bei oraler Applikation ist bei nicht unerheblichen Nebenwirkungen wie Halluzinationen die Schmerzreduktion nur niedrig ausgeprägt. Daher wird das Medikament parenteral angewendet.

Ein weiterer Vertreter der NMDA-Antagonisten ist das Amantadin. Der anti-parkinsonerge nicht-kompetitive Hemmstoff zeigt Schmerzreduktion bei Spontanschmerzen, postherpetischer Neuralgie und evozierten Schmerzen (24). Die schwache Datenlage mit nur einer randomisierten Studie zu Neuropathien schränkt den Einsatz trotz der nicht deutlich höheren Nebenwirkungsrate stark ein.

Ebenso verfügt das bei Morbus Alzheimer eingesetzte Antidementivum Memantine nur über eine widersprüchliche Datenlage. Oral eingenommen zeigt es geringe Erfolge bei Patienten mit diabetischer Neuropathie. Bei postherpetischer Neuralgie konnte keine signifikante Verbesserung im Vergleich zu Placebo festgestellt werden (25).

Hingegen zeigt Dextromethorphan, ein weiterer ursprünglich als Antitussivum entwickelter, nicht-kompetitiver NMDA-Rezeptorantagonist gute Wirksamkeit bei neuropathischen Schmerzen nach Rückenmarksischämie und bei diabetischer Neuropathie (26). Bei Trigeminusneuralgien und postherpetischen Neuralgien konnten keine guten Erfolge erzielt werden (27).

Alle genannten NMDA-Rezeptorantagonisten weisen zumeist ein hohes Nebenwirkungsprofil auf. Zu nennen sind hier vor allem unerwünschte zentralnervöse, aber auch gastrointestinale und cardiovaskuläre Effekte. Die aufgeführten Substanzen zeigen nur eine abgeschwächte Affinität zur Kanal- beziehungsweise Polyamin-Bindungsstelle der NMDA-Rezeptoren. Daher spricht man in diesem Zusammenhang von „moderate-affinity-Antagonisten“. Ihr Einsatz in hohen Dosen ist dennoch hauptsächlich wegen der zentralen Nebenwirkungen und Effekten an anderen Ionenkanälen eingeschränkt. Auch ist ihre ausreichende Effektivität für diese Indikation klinisch nicht belegt, sodass diese Arzneistoffklasse bei neuropathischen Schmerzen nur off-label eingesetzt wird.

  • GABA-Agonisten und Topika

Baclofen ist ein Agonist des GABA-B-Rezeptors, der präsynaptisch an primären afferenten Neuronen sitzt. Durch die GABA-agonistische Wirkung wird der hemmende Effekt des Neurotransmitters verstärkt. Dies wirkt der Disinhibition der Nozizeption entgegen. Nachgewiesen ist die Wirksamkeit von Baclofen bei Trigeminus-Neuralgie (1).

Bei peripherer Sensibilisierung haben sich auch topische Arzneiformen unter anderem mit Capsaicin (Creme mit £0,075 Prozent Gehalt) als wirksam erwiesen. Allerdings kommt es beim erstmaligen Einsatz von Capsaicin zunächst zu einem Brennschmerz, der nach mehrmaliger Anwendung einer Verbesserung der Symptome weicht. Als weitere effektive topische Therapieform stehen transdermale therapeutische Systeme wie Lidocain-Pflaster zur Verfügung. Die topische Applikation von Arzneistoffen bietet sich jedoch nur bei gut lokalisierbaren neuropathischen Schmerzformen wie zum Beispiel der postherpetischen Neuralgie an.

  • Opioide

Bis vor kurzem ging man davon aus, dass neuropathische Schmerzen einer Opioid-Therapie wenig zugänglich sind. Neuere Studien konnten jedoch Teilerfolge aufweisen. Als schwacher Agonist am μ-Opioid-Rezeptor, der zusätzlich die Wiederaufnahme von Noradrenalin und Serotonin hemmt, zeigt vor allem Tramadol eine gute Wirksamkeit bei neuropathischen Schmerzen (29). Auch andere Opioide, wie zum Beispiel Oxycodon, gehen mit einer signifikanten Reduktion von Schmerzen bei neuropathischen Patienten einher. Es scheint, dass Opioide umso effektiver sind, je weiter die Ursache des neuropathischen Schmerzes vom zentralen Nervensystem entfernt ist (21). Auch in der Kombinationstherapie finden Opioide verstärkt Anwendung.

  • NSAIDs und Glucocorticoide

Führen periphere Nervenschäden zur Neurodegeneration und zu Entzündungsprozessen, so ist eine zusätzliche Therapie mit nicht-steroidalen Antirheumatika und Glucocorticoiden indiziert. Zum Einsatz kommen hier vor allem Ibuprofen, Diclofenac und das Steroid Methylprednisolon. Der alleinige Einsatz der aufgeführten Antiphlogistika bewirkt bei neuropathischen Patienten keine merkliche Besserung der Symptome (30).

Lindernd wirken in der Therapie des neuropathischen Schmerzes auch elektrische Stimulationsverfahren. Ihr positiver Effekt wird auf die Stimulation dick bemarkter Berührungsfasern zurückgeführt. Darüber hinaus wird eine zusätzliche analgetische Wirkung durch Induktion einer erhöhten GABA-Konzentration im Rückenmark angenommen.

Zum Einsatz kommen die periphere Nervenstimulation (PNS), die rückenmarksnahe Stimulation (SCS) und die transkutane Elektronervenstimulation (TENS). Während TENS als nicht-invasive Methode schon früh in Kombination mit Medikamenten hilfreich sein kann (31), sollten SCS und PNS erst nach Versagen jeglicher pharmakotherapeutischer Maßnahmen eingesetzt werden, da es sich um invasive Behandlungsmethoden handelt. Grundsätzlich ist es immer sinnvoll, begleitend zur medikamentösen Schmerztherapie auch zu physikalischen Maßnahmen wie Physiotherapie und Bädern zu greifen.

Neue Targets

Die stärker im Fokus moderner Forschung stehenden molekularen und biochemischen Mechanismen zur Entstehung von Neuropathien haben zur Entdeckung einer beachtlichen Zahl neuer Targets und Zielstrukturen geführt.

  • Tetrodotoxin-resistente Kanäle

Wie geschildert, spielen langsame Tetrodotoxin-resistente (TTX-R) und schnelle Tetrodotoxin-sensible (TTX-S) Natriumkanäle bei der abnormen Erregbarkeit geschädigter Axone eine besondere Rolle. TTX-R-Kanäle, die gegen die Blocker „klassischer“ Natriumkanäle resistent sind, werden im Rahmen der beschriebenen pathophysiologischen Prozesse des neuropathischen Schmerzes herunterreguliert, während TTX-S-Natriumkanäle hochreguliert werden.

Vor allem die TTX-R-Kanäle stellen durch ihre Einbindung in der Schmerzentstehung ein interessantes pharmakologisches Target dar. Hierbei werden verschiedene TTX-R-Subtypen unterschieden. Zu nennen sind hier vor allem „sensory neuron specific“- (SNS) Kanäle, insbesondere mit den SNS/PN3- und NaN/SNS2-Kanaluntertypen. Die Unterdrückung der SNS/PN3-Expression mit Hilfe von Antisense-Oligonukleotiden in neuropathischen Modellen verhindert die Ausbildung von Allodynien und Hyperalgesie nach Verletzung von Nerven (32).

Durch Hemmung der NaN/SNS2-Expression konnte kein schmerzverminderter Effekt festgestellt werden. Die viel versprechende Datenlage legt eine gezielte Entwicklung SNS/PN3-Subtyp-spezifischer Antagonisten nahe. Bisher sind diese noch nicht verfügbar. Erfolge konnten jedoch mit nicht-selektiven Blockern von TTX-Kanälen erzielt werden wie beispielsweise der Entwicklungssubstanz NW-109, die nach peroraler Gabe antiallodynische Wirkung aufweist (12).

  • N-Typ-Calciumkanäle

Es ist bekannt, dass die Freisetzung von Neurotransmittern durch Calciumionen-Einstrom über spannungsabhängige N-Typ-Calciumkanäle im präsynaptischen Neuron gesteuert wird. Dies lässt darauf schließen, dass durch Calciumkanal-Inhibition die Freisetzung von Glutamat und Substanz P, die an der zentralen Sensibilisierung beteiligt sind, gehemmt werden kann.

Allerdings sind neuronale Calciumkanäle an zahlreichen Prozessen im gesamten Nervensystem beteiligt, sodass eine spezifische Inhibition der Glutamatfreisetzung im sensibilisierten Gewebe bisher schwer zu realisieren scheint. Dennoch zeigt beispielsweise Ziconotide, ein potenter Antagonist von N-Typ-Calciumkanälen, bei verschiedenen Formen der Neuropathie klinische Wirksamkeit. Da es sich bei Ziconotide als synthetisches Derivat des Meeresschlangentoxins ω-Conopeptid um einen peptidischen Wirkstoff handelt, ist eine parenterale Applikation derzeit unumgänglich (33).

Eine viel versprechende Weiterentwicklung des bereits genannten Gabapentins ist dessen Analogon Pregabalin. Die Substanz zeichnet sich durch niedrigere Dosierungen und eine längere Halbwertszeit aus. Von Vorteil sind außerdem die geringere Toxizität und das günstigere Nebenwirkungsprofil. Für das Antikonvulsivum Pregabalin wurde europaweit die Zulassung für die erweiterte Indikation neuropathischer Schmerz beantragt.

  • Bindungsstellen an NMDA-Rezeptoren

NMDA-Rezeptoren stellen hochpermeable Ionenkanäle für monovalente Kationen und Calciumionen dar. Im Zustand des Ruhepotenzials des Kanals ist seine Durchlässigkeit durch extrazelluläres Magnesium2+ blockiert. Kanalöffnung findet nur bei gleichzeitiger Agonisten-Bindung und Depolarisation, welche die Magnesium2+-Blockade aufhebt, statt. Neben den kompetitiven Glutamat- und Glycinbindungsstellen (Koagonist) als Targets für aktuelle Pharmaka gibt es zahlreiche weitere Bindungsstellen wie die allosterische Polyamin-Bindungsstelle.

Die NMDA-Forschung hat ferner eine so genannte Phencyclidin-Site, eine spezifische allosterische Bindungsstelle an der NR2B-Untereinheit innerhalb der Polyamin-Site, sowie mehrere Glycin-Bindungsstellen-Subtypen identifizieren können.

Gesucht werden Strukturen, die die pathologische Aktivierung der Rezeptoren verhindern, dabei jedoch die physiologischen Funktionen nicht beeinträchtigen. moderate-affinity-channel-Blocker wie Memantine zeigen diesen Effekt, jedoch nicht in ausreichend zufrieden stellenden Ausmaßen. Von Neuentwicklungen erhofft man sich ein günstigeres Nebenwirkungsprofil.

Verschiedene selektive Antagonisten befinden sich in klinischer Prüfung. So zeigt der GlycinB-Antagonist MRZ 2/576 bei zehnfach niedrigerer Dosierung als vergleichbare Stoffe eine deutlich verbesserte Wirksamkeit bei bestimmten Hyperalgesieformen, ohne gleichzeitig psychomimetische Effekte hervorzurufen (35). Im Mittelpunkt weiterer klinischer Studien stehen darüber hinaus GlycinB-Antagonisten wie GV 196771A, ACEA-1021 und ZD 9379.

Erfolg könnte sich auch bei Untersuchungen mit NR2B-selektiven Antagonisten abzeichnen. CP-101,606 und Ro 25-6981 zeigen im Tiermodell einen positiven Effekt in der Unterdrückung von Hyperalgesien bei wiederum sehr geringen Dosen und stark verringerten Nebenwirkungen in der Bewegungskoordination (36).

  • Vanilloid-Rezeptoren

Vor einigen Jahren wurde der Vanilloid-Rezeptor VR1 als das molekulare Target für Capsaicin identifiziert (25). Es handelt sich um einen exzitatorischen, nicht-selektiven Calciumionen-präferierenden Kationenkanal, der durch Nozizeptoren exprimiert wird. Er spielt eine wichtige Rolle bei der Detektion und Integration von Schmerz infolge von thermischen (Temperaturen > 43 °C) und chemischen Stimuli. So wird er beispielsweise bei einem niedrigen pH-Wert (durch eine hohe Protonenkonzentration) aktiviert.

Der Agonist Capsaicin produziert über diesen Rezeptor ein initiales, brennendes Gefühl. Erst nach mehrmaliger Anwendung kommt es zur Analgesie. Dieses bereits im Vorfeld beschriebene Phänomen beruht auf Downregulation des Rezeptors nach sich wiederholender Aktivierung. Der duale Effekt führt zu einer schlechten Patientencompliance. Folglich wird nach neuen Substanzen gesucht, die antagonistisch am VR1-Rezeptor angreifen oder zumindest eine verminderte agonistische Wirkung besitzen.

Starke antagonistische Eigenschaften am Vanilloid-Rezeptor zeigt Resiniferatoxin, ein Inhaltsstoff der Kaktus-ähnlichen Pflanze Euphorbia resinifera. Klinischen Studien zufolge zeigt der Einsatz von Resiniferatoxin bei diabetischer Neuropathie ein wesentlich günstigeres Wirkungsprofil als die Gabe von Capsaicin. Die Schmerzlinderung ist wesentlich stärker und die Wirkdauer erhöht. Die initial eintretenden brennenden Oberflächenschmerzen sind deutlich reduziert (37).

Capsazepin, ein weiterer Antagonist am VR1-Rezeptor, besitzt in verschiedenen Tiermodellen eine analgesierende Wirkung. Zwei partielle Agonisten am Capsaicin-Rezeptor, Nuvanil und Olvanil, haben ebenfalls analgetische und antiinflammatorische Effekte. Von Vorteil ist die Möglichkeit der peroralen Applikation. Nachteilig hat sich vor allem bei Olvanil eine schwerwiegende Hypothermie erwiesen. Insbesondere Nuvanil führt bei thermischen Hyperalgesien und Allodynien zu einer Verbesserung des Schmerzzustandes (12).

  • Cannabinoid-Rezeptoren

Zur Schmerzbehandlung werden seit Jahrhunderten in den verschiedensten Kulturkreisen psychoaktive Bestandteile von Cannabis sativa genutzt. Cannabinoide Substanzen vermitteln ihre Effekte über zwei Typen von G-Protein-gekoppelten Rezeptoren: CB1-Rezeptoren, die hauptsächlich im ZNS exprimiert werden, sowie CB2-Rezeptoren, die vor allem in Zellen des Immunsystems vorkommen.

Als endogene Liganden der Cannabinoid-Rezeptoren wurden einige Fettsäurederivate identifiziert. Deren agonistische Wirkung auf CB1-Rezeptorebene scheint an der physiologischen Regulation von Schmerzprozessen beteiligt zu sein (38). Aus diesem Grund werden sie als interessante Leitstrukturen für die Neuentwicklung von Analgetika auch zur Therapie neuropathischer Schmerzen betrachtet.

Cannabinoide, wie das Antiemetikum Tetrahydrocannabinol (THC) und das Appetitstimulans Nabilon, zeigten in mehreren klinischen Studien moderate Schmerzlinderung (37).

Neuentwicklungen, wie die CB1-Agonisten WIN55,212-2, CP-55,940 und HU-210, führten bei Ratten mit Spinalnerv-Ligation zur Aufhebung von Allodynien und Hyperalgesien. Die Beteiligung von CB1-Rezeptoren an der Pathophysiologie des neuropathischen Schmerzes wird untermauert durch Tierversuche mit dem CB1-Antagonisten SR 141716A. Nach dessen Gabe konnte eine Steigerung von Hyperalgesie und Allodynie beobachtet werden. Ferner konnte eine up-Regulation von CB1-Rezeptoren im Thalamus nach peripherer Nervenschädigung nachgewiesen werden (12). CB1-Rezeptoren kommen in großer Häufigkeit in Aδ- und Aβ-Neuronenfasern vor. Cannabinoid-Rezeptoragonisten scheinen deshalb ein viel versprechender Ansatz vor allem bei anatomischen Reorganisationsvorgängen zu sein.

  • P2X-Rezeptoren

Als endogener Neurotransmitter, der an Nozizeptionsvorgängen beteiligt ist, depolarisiert Adenosintriphosphat (ATP) vor allem primäre, sensorische Neurone und sekundäre Neurone im Hinterhorn des Rückenmarks. Es existieren verschiedene Subtypen von ATP-Rezeptoren, die in ionotrope P2X- und metabotrope P2Y-Rezeptoren eingeteilt werden können. Infolge von ATP-Bindung kommt es zu einer gesteigerten Freisetzung von Glutamat und Substanz P in Hinterhornneuronen, deren Beitrag an neuropathischen Schmerzvorgängen bereits diskutiert wurde.

Den ionotropen Subtypen P2X2/3 und vor allen Dingen P2X3 wird eine signifikante Mitwirkung bei neuropathischen Mechanismen zugesprochen. So konnte in Tiermodellen gezeigt werden, dass Agonisten an den aufgeführten Rezeptoren zu mechanischer Allodynie und thermaler Hyperalgesie führen können. Der erste nicht-nukleotidische Antagonist mit hoher Affinität zu P2X3/P2X2/3-Rezeptoren, A-317491, wirkt in neuropathischen Tiermodellen antinozizeptiv. Intraplantare und intrathekale Injektion des Antagonisten reduzieren thermale Hyperalgesie und mechanische Allodynie bei Nagern (39). Die exakten Mechanismen der Beteiligung von ATP-Rezeptoren an der Schmerzvermittlung müssen noch genauer ermittelt werden. Auf Grund dieser Ergebnisse könnten selektive ATP-Antagonisten zukünftig Einzug in die Therapie der Neuropathie erhalten (40).

Prüfung weiterer Ansätze

Nicotinische Acetylcholinrezeptoren sind auf verschiedenen Ebenen im neuronalen System lokalisiert. Die Aktivierung dieser Rezeptoren kann durch Inhibition und Hemmung anderer Neurotransmitter im Hinterhorn zu analgetischen Effekten führen (21).

Hinsichtlich entzündlicher Prozesse sind nahe liegende Untersuchungen mit Cyclooxygenase-Inhibitoren durchgeführt worden, die bisher jedoch wenig erfolgreich verliefen. Viel versprechend hingegen sind Untersuchungen mit Prostaglandin-E-Rezeptorantagonisten, obwohl derzeit unklar ist, welcher der drei Rezeptorsubtypen für Schmerzempfindungen verantwortlich ist (21). Ebenso ist es nicht eindeutig, welcher Adenosinrezeptor-Subtyp in das Schmerzgeschehen eingreift. Die Verabreichung von Adenosinrezeptoragonisten beziehungsweise von Adenosin-Kinase-Inhibitoren zeigt in einigen Fällen ein Ansprechen auf schwere Allodynie (21).

Zur Prüfung des Einflusses proinflammatorischer Neuropeptide wie Substanz P oder Bradykinin sind entsprechende Antagonisten (NK-1-Rezeptorantagonisten beziehungsweise Bradykinin-2-Rezeptorantagonisten) im Versuchsstadium. Auf Grund ihrer Bindung an Ganglioside sind peptidische Prosaposine neuroprotektiv. Der Grund für ihren analgetischen Effekt ist derzeit noch unklar, scheint aber mit der Beeinflussung von Calciumionen und verschiedenen Neurotransmitter-Freisetzungen zu tun zu haben. Die Ergebnisse von Phase II-Studien bei diabetischer Neuropathie stehen noch aus (21).

Fixe Kombinationen

Als ernst zu nehmende therapeutische Strategie wird die Gabe fixer Kombinationen bekannter Arzneistoffe wie die des NMDA-Antagonisten Dextromethorphan mit einem CytochromP2D6-Inhibitor diskutiert. Durch CYP2D6-Inhibition wird die Metabolisierung von Dextromethorphan verlangsamt, was sich in längeren Halbwertszeiten und einer höheren Plasmakonzentration bei niedrigerer Dosierung äußert. Erste Ergebnisse von klinischen Phase-II-Studien bei diabetischer Neuropathie sind viel versprechend (25).

Aus dem Wissen heraus, dass nicht-kompetitive NMDA-Rezeptorantagonisten in der Lage sind, die Entwicklung von Opiod-Toleranzen zu verhindern und sogar bereits vorhandene aufzuheben, resultieren mehrere Kombinationsansätze. Ein Beispiel für den synergistischen Effekt beider Substanzklassen liefert die Kombination von Dextromethorphan mit Morphin. Diese Kombination befindet sich zurzeit in der klinischen Phase-III, speziell für die Indikation des neuropathischen Schmerzes (28). Mit der Substanz Sulfazocin wurden in einem Molekül NMDA- und µ-opioid-antagonistische Eigenschaften vereint.

DREAM im Focus

Die molekularbiologische Forschung liefert ebenfalls neue Angriffspunkte für die Behandlung des neuropathischen Schmerzes. Ein regulatorisches Protein an downstream-Elementen des humanen Prodynorphin-Gens, DREAM (downstream regulatory element antagonistic modulator) ist dabei in den Mittelpunkt des Interesses gerückt.

Dynorphine sind körpereigene Agonisten an Rezeptoren des endogenen, schmerzhemmenden Systems. Bindet DREAM an die DRE-Sequenz (downstream regulatory element) auf der DNA-Ebene, so wird die Expression von Dynorphinen gehemmt. Hohe Calciumkonzentrationen, aktivierte cAMP-response-Element-Modulatoren (CREMα) oder DREAM-Knock-out führen in Tierversuchen zu erhöhten Konzentrationen an Dynorphinen. DREAM-Knock-out-Mäuse zeigen darüber hinaus im Vergleich zum Wildtyp nach Nervenschädigung weniger stark ausgeprägte Formen von Allodynien und Spontanschmerzen (5). Die aufgeführten Erkenntnisse machen auch DREAM zu einem interessanten Target bei Neuropathien.

Eine Mechanismen-orientierte Pharmakotherapie des neuropathischen Schmerzes in der Hand eines erfahrenen Arztes ist für die meisten Patienten die Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung. Das verbesserte Verständnis zur komplexen Ätiologie dieser Erkrankung führt zu zahlreichen neuen Therapieansätzen. Für eine in allen Fällen befriedigende Therapie müssen zukünftig umfangreiche und differenzierte Forschungsanstrengungen durchgeführt werden, die erst beweisen müssen, ob die neuen Wirkprinzipien die in sie gesetzten Hoffnungen tatsächlich erfüllen können.

 

Literatur bei den Verfassern

 

Der Autor

Professor Dr. Holger Stark studierte Pharmazie an der Freien Universität in Berlin. 1991 erfolgte die Promotion über Ligandenentwicklungen bei Histaminrezeptoren bei Professor Dr. Walter Schunack, Berlin. Stark habilitierte sich 1999 mit einer Arbeit über Dopaminrezeptoren. Im Jahr 2000 erhielt er einen Ruf an die Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main, wo er als Professor für Pharmazeutische/Medizinische Chemie tätig ist. Stark ist unter anderem Vorsitzender des Lehr- und Studienausschusses für Pharmazie, stellvertretender Direktor des Instituts für Pharmazeutische Chemie und Vorsitzender der DPhG-Landesgruppe Hessen. Seit kurzem hat er die Position des Editor-in-Chief für das Archiv der Pharmazie übernommen. Seine Forschung zu neuen Wirkstoffen und Therapieprinzipien gilt schwerpunktmäßig den verschiedenen Neurotransmittern und Vorgängen um die Beeinflussungen von solchen Botenstoffen sowie deren Rezeptoren. Dieses betrifft insbesondere spezielle Klassen von G-Protein-gekoppelten Rezeptoren, Kationenkanälen und metabolischen Enzymen. Für seine Arbeiten wurde Stark mehrfach ausgezeichnet.

 

  • Diese Arbeit wurde als Fortführung der studentischen Seminararbeit im Rahmen des Frankfurter Fertigarzneimittelseminars im Wintersemester 2003/04 erstellt.

 

Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. Holger Stark
Johann-Wolfgang-Goethe-Universität
Institut für Pharmazeutische Chemie
Marie-Curie-Straße 9
60439 Frankfurt am Main
h.stark@pharmchem.uni-frankfurt.de
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