Von Säften zu Transmittern |
15.07.2002 00:00 Uhr |
von Peter Nuhn, Halle
Das Krankheitsbild der Depression dürfte so alt sein wie die Menschheit selbst. In der Antike beschrieben die Ärzte die Melancholie als ein Ungleichgewicht der Säfte mit Überwiegen der „schwarzen Galle“. Heutige Konzepte gehen von einer Dysbalance von Neurotransmittern im Gehirn aus. Hier setzen die modernen Arzneistoffe an.
Für die Lebensqualität hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO; 1) gemeinsam mit der Weltbank und der Harvard School of Public Health (2) ein Maß entwickelt, das als DALY (disability adjusted life year), als verlorenes Jahr eines gesunden Lebens, bezeichnet wurde. DALY ergibt sich aus der Summe der durch vorzeitigen Tod und durch Krankheit verlorenen Jahre (YLL: years of life lost) und der mit gesundheitlichen Einschränkungen verbrachten Jahre (YLD: years lost due to disability) (3, 4).
Nach dem Jahresbericht 2000 der WHO (1) gehen weltweit 12 Prozent aller DALYs (Europa: 20 Prozent, Amerika: 24 Prozent) und 31 Prozent aller YLDs (in Europa und Amerika je 43 Prozent) auf neuropsychiatrische Erkrankungen zurück. An der Spitze stehen die verschiedenen Formen der Depression, Alkoholismus und Schizophrenie.
Allein die Depression löst erhebliche gesundheitliche und soziale Probleme aus. Im Jahre 2000 gingen etwa 4,4 Prozent aller DALYs unabhängig von Geschlecht und Alter auf Depressionen zurück, bei Frauen zwischen 15 und 44 Jahren sogar 10,6 Prozent. Bei den YLDs stehen die Depressionen bereits an der Spitze aller Erkrankungen mit 11,9 Prozent geschlechts- und altersunabhängig und mit 18,6 Prozent bei Frauen zwischen 15 und 44 Jahren.
Die Mischung der Säfte
Depressionen dürften so alt sein wie die Menschheit, wenngleich sie früher als Melancholie, im 18. Jahrhundert ausgehend von Frankreich als Hypochondrie und in England als Spleen bezeichnet wurden (35). Melancholie wird heute meist als endogene Depression interpretiert (22).
Der Begriff Melancholie (Schwarzgalligkeit, Trübsinn, Schwermut) lässt sich als „schwarze Galle“ übersetzen. Die Bezeichnung geht auf die Viersäfte-Lehre des Altertums zurück, von der sich die Humoralpathologie ableitet. Die Säfte gelbe Galle, Blut, Phlegma und schwarze Galle sind danach in jedem Menschen ungleich verteilt, woraus sich je nach Mischung die vier Temperamente (Choleriker, Sanguiniker, Phlegmatiker und Melancholiker) ergeben. Als Krankheitsursachen wurden Anomalien der Säfte vermutet. Den vier Körpersäften entsprechen die vier Elemente, die Himmelsgegenden, die Einteilung des Tages und des Lebens.
Dem Melancholiker wurde ein schwarzgalliges Temperament zugesprochen. Melancholie wurde als Introvertierung, Manie als Extrovertierung verstanden.
Galen spricht als Erster von hypochondrischer Melancholie. Als Produktionsort der schwarzen Galle, den „Hypochondrien“, vermutete man die Milz; so entstand die Bezeichnung Milzsucht (Spleen) für Hypochondrie. Die Ansicht, dass die schwarze Galle Ursache der Melancholie sei, hielt sich bis ins 18. Jahrhundert. Im Unterschied zu den anderen Körpersäften war die Suche nach der schwarzen Galle allerdings erfolglos. Der bekannte philosophisch-medizinische Traktat „Anatomie der Melancholie“ des Engländers Robert Burton (auch Democritus Junior) bezieht die Schwarzgalligkeit auf die ganze Menschheit (11).
Das Unerklärliche der Schwermut
Die Beschreibung der Ursachen der Melancholie oder Depression und ihre Behandlung spiegeln den Erkenntnisstand der jeweiligen Epoche wider. Nach Ficino (28) geht die Melancholie auf drei Ursachen zurück: eine himmlische, die von der astrologischen Konstellation, vor allem von Merkur und Saturn, abhängt, eine natürliche (schwarze Galle) und eine menschliche. Das Gleichgewicht der Mischung der Säfte kann danach beim Melancholiker nach zwei Richtungen abdriften. Eine kalte Mischung der schwarzen Galle macht träge und depressiv, eine warme Mischung macht toll.
Als Therapie empfiehlt Burton Diätetik, körperliche und geistliche Übungen oder tröstliche Betrachtungen (11). Um Herz, Gehirn und Seele von den Sinnen betäubenden Nebeln zu befreien, werden Borago, Helleborus (Borretsch und Nieswurz) empfohlen. Extrakte der schwarzen Nieswurz (Helleborus niger) sollen die schwarzgalligen Säfte austreiben.
Im Unterschied zur Trauer ist bei der Melancholie (Schwermut) der Grund der Verstimmung unbekannt. So schreibt Kierkegaard:
„Es liegt in Schwermut etwas Unerklärliches. Wer Leid oder Kummer hat, weiß, weshalb er traurig oder bekümmert ist. Fragt man einen Schwermütigen, was der Grund seiner Schwermut sei, was als Last auf ihn drücke, so wird er antworten: ich weiß es nicht, ich kann es nicht erklären. Darin liegt die Unendlichkeit der Schwermut. Jene Antwort ist durchaus richtig; denn sobald der Mensch den Grund weiß, ist die Schwermut behoben. Dahingegen ist bei dem Trauernden das Leid ganz und gar nicht damit behoben, daß er weiß, weshalb er Leid trägt.“
Sigmund Freud weist in seinem Essay „Trauer und Melancholie“ auf die Suizidgefährdung hin:
„Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine tief schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Erwartung der Strafe steigert... Erst dieser Sadismus löst uns das Rätsel der Selbstmordneigung, durch welche die Melancholie ... so gefährlich wird.“
Gegenwärtig verüben etwa 15 Prozent der depressiven und manisch-depressiven Menschen Selbstmord, bei einer wahrscheinlich recht hohen Dunkelziffer.
Konzept der depressiven Episode
Die diagnostische Konzeption der Depression hat sich in den letzten 200 Jahren verändert (5). Der Begriff selbst geht auf den englischen Arzt Cullen (6) zurück, der in der Tradition des englischen Sensualismus die Krankheit auf eine Minderung des Säftetonus des Gehirns zurückführte. Die Bezeichnung Depression im heutigen Sinn hat Heinroth 1818 eingeführt (7). 1913 hat Kraepelin im Rahmen seiner triadischen nosologischen Systematik die endogene Depression eingeführt (8), bei der depressive und manische Phasen abwechseln können (bipolare Zyklothymie).
Heute dient das Konzept der depressiven Episode der ICD-10 (International Classification of Diseases der WHO; 9) als neue diagnostische Hauptkategorie. Beim Übergang von ICD-9 zu ICD-10 wurde die Unterteilung in endogene und neurotische Depressionen aufgegeben.
Depressionen gehören in der ICD-10 zu den affektiven Störungen (Mood/Affective Disorders). Als Leitsymptome werden beschrieben: Verstimmung und Verminderung des Antriebs, verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit, vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Schuldgefühle und Gefühle der Wertlosigkeit, negative und pessimistische Zukunftsperspektiven, Neigung zu Selbstverletzungen und Suizidhandlungen, Schlafstörungen und verminderter Appetit.
Abhängig von der Anzahl und Schwere der Symptome werden leichte (mild), mäßige (moderate) und schwere (severe) Formen differenziert. Die Klassifizierung als leichte depressive Episode erfolgt, wenn zwei oder drei der genannten Symptome auftreten, die Person darunter leidet, aber ihre meisten Aktivitäten fortsetzen kann. Eine mäßige depressive Episode liegt vor, wenn ständig vier oder mehr Symptome auftreten und der Patient große Schwierigkeiten hat, ihren normalen Beschäftigungen nachzugehen. Bei einer schweren depressiven Episode leidet der Patient an mehreren Symptomen; Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sind stark vermindert, und es treten Gedanken über Selbstverletzungen und Suizidhandlungen auf.
Frühe Antidepressiva
Als erste Antidepressiva, die unserem heutigen Verständnis von Arzneistoffen entsprechen, wurden Mitte des 20. Jahrhunderts Lithiumsalze in die Therapie eingeführt. Die Entdeckung der antidepressiven Wirkung geht auf den Australier John Cade zurück (14, 15a). Lithiumcarbonat wird heute noch eingesetzt, allerdings nur zur Prophylaxe chronisch therapieresistenter Depressionen. Die therapeutische Breite ist gering, und die Anwendung erfordert sorgfältige Serumkontrollen.
Der Wirkungsmechanismus ist unklar. Als wahrscheinlicher molekularer Angriffspunkt wird die Inositol-Monophosphatase (EC 3.1.3.25) angesehen, die eine entscheidende Rolle beim Phosphatidylinositol-Signalweg spielt.
Aufschlussreiche Nebenwirkungen
Wesentliche Therapiefortschritte waren erst in Zusammenhang mit neuen Erkenntnissen zur Regulation der Neurotransmitter und zur Neurobiologie der Depression möglich (12). Deutliche Hinweise auf eine biochemische Komponente bei der Pathogenese erhielt man durch die Beobachtung von Nebenwirkungen einiger Arzneistoffe, die gegen andere Erkrankungen eingesetzt werden.
Das betraf zunächst Reserpin, das nach der Isolierung 1951 im Jahre 1953 von Ciba als Serpasil® auf den Markt gebracht und als Tranquilizer, Antihypertonikum und Neuroleptikum (heute obsolet) eingesetzt wurde. Als zentrale Nebenwirkungen traten schwere Depressionen mit erhöhter Suizidgefahr auf. Die Wirkung des Reserpin konnte damit erklärt werden, dass der Arzneistoff die Neurotransmitter-Konzentration (biogene Amine, insbesondere Dopamin und Noradrenalin) in den Speichergranula der postganglionären Nervenendigungen der Nebenniere sowie des ZNS reduziert. Als Kontraindikationen gelten daher heute unter anderem Depressionen, Morbus Parkinson und Vorbehandlung mit MAO-Hemmern.
Auch die Nebenwirkungen von Iproniazid wiesen auf eine Beteiligung von biogenen Aminen an der Pathobiochemie der Depression hin. Iproniazid (Marsilid®) wurde 1952 ausgehend von dem Tuberkulostatikum Isoniazid entwickelt (16, 17). Es hellte bei den ansonsten eher depressiv eingestellten Lungenkranken die Stimmung auf. Die antidepressive Wirkung geht auf eine Hemmung der Monoaminoxidase (MAO) zurück (23), wodurch die biogenen Amine länger wirksam sind. Zur Tagung der American Psychiatric Association in Syracuse, New York, im April 1957 stellte George Crane vom Montefiore Hospital in New York die antidepressive Wirkung von Iproniazid vor. E. A. Zeller entdeckte, dass Iproniazid in vitro und in vivo die MAO hemmt. (Literatur in 32, 33).
Erste MAO-Hemmer
1960 wurden die unselektiven, also an beiden MAO-Isoformen angreifenden MAO-Hemmer Isocarboxazid (Hoffmann-La Roche: Marplan®) und Tranylcypromin (29) (Parnate®, Jatrosom®) sowie 1965 Phenelzin (Warner-Lambert: Nardil®) als Antidepressiva eingeführt. Wegen schwer wiegender Nebenwirkungen der Hydrazinderivate (Iproniazid, Isocarboxazid, Phenelzin) ist heute nur noch das Nicht-Hydrazin Tranylcypromin, ein Cyclopropylamin, auf dem deutschen Markt (Tabelle 1).
Tabelle 1: Einteilung der aktuellen Antidepressiva
Wirkstoffgruppe Arzneistoffe Tri- und tetracyclische Antidepressiva Imipramin, Desipramin, Clomipramin, Trimipramin, Lofepramin, Amitriptylin, Amitriptylinoxid, Nortriptylin, Doxepin, Dosulepin, Opipramol, Dibenzepin, Maprotilin, Mianserin, Mirtazapin Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (Selective Serotonin Reuptake Inhibitors: SSRI) Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin, Citalopram Selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (Selective Noradrenalin Reuptake Inhibitors: SNRI) Reboxetin Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) Venlafaxin Serotonin-Wiederaufnahmehemmer und
Beide MAO-Isoformen sind sowohl im ZNS als auch in peripheren Organen lokalisiert. MAO-A kommt vorwiegend in dopaminergen und noradrenergen Neuronen, MAO-B in serotoninergen Neuronen vor.
MAO-Hemmer repräsentieren die Gruppe der Thymeretika, also der hemmungslösenden und antriebssteigernden Antidepressiva. Die ersten Wirkstoffe hemmen die MAO unselektiv und irreversibel. Der therapeutische Wert ist durch Nebenwirkungen wie hypertone Blutdruckkrisen eingeschränkt. Gefährlich sind Interaktionen mit indirekten Symphathomimetika, die Noradrenalin aus den Speichern freisetzen oder die Wiederaufnahme hemmen, sowie Tyramin-haltigen Nahrungsmitteln, zum Beispiel altem ausgereiften Käse. Tyramin, das durch die MAO-B abgebaut wird, steigert den Blutdruck. In Einzelfällen und nach Absetzen von Tranylcypromin können Halluzinationen, Verwirrtheitszustände und Schlafstörungen auftreten.
Als erster selektiver und reversibler MAO-A-Hemmer wurde 1990 Moclobemid (Aurorix®) eingeführt (Tabelle 1). Ursprünglich sollte der Stoff als Lipidsenker entwickelt werden. Moclobemid gehört zur Gruppe der Benzamide, von denen sich Sulpirid und Metoclopramid bereits als neuroleptisch wirksam erwiesen hatten. Nebenwirkungen wie Schlafstörungen, Schwindel, Kopfschmerzen oder gastrointestinale Beschwerden können auftreten. MAO-Hemmer bekommen vor allem die Patienten, bei denen andere Wirkstoffgruppen (Tricyclika, atypische Antidepressiva) versagen.
Imipramin weist den Weg
Einen weiteren Hinweis auf eine wesentliche Rolle biogener Amine lieferten Untersuchungen zum Wirkungsmechanismus des Imipramin. Dieser erste Vertreter der basisch substituierten Tricyclika leitete die Entwicklung der modernen Antidepressiva ein.
Die Entwicklung neuroleptisch und antidepressiv wirkender, basisch substituierter Tricyclen ging von den Antihistaminika aus. Nachdem Paul Ehrlich feststellte, dass das Phenothiazin-Derivat Methylenblau schwach wirksam gegen Malariaerreger war, synthetisierte Paul Charpentier neue, basisch substituierte Phenothiazine als mögliche Antimalariamittel (Rhone-Poulenc). Da das Dimethylaminoethyl-Derivat (3015 RP, Fenethazin) wie ein überbrücktes Antihistaminikum aussah (Phenbenzamin), wurde diese Verbindung auf ihre antihistaminerge Wirkung getestet.
Als stärker und länger wirksam erwies sich das Dimethylaminoisopropyl-Derivat, das unter dem Namen Promethazin (Phenergan®) als Antihistaminikum eingeführt wurde. Nachteilig war seine stark sedierende Wirkung, die beim Übergang zum Dimethylamino-n-propyl-Derivat noch stärker wurde und zur Entdeckung der neuroleptischen Wirkung dieser Verbindungsklasse führte. Mit Chlorpromazin wurde die Entwicklung der modernen Psychopharmaka eingeleitet.
Nachdem das Dibenzazepin bereits seit 1899 bekannt war (Thiele, Holzinger), wurden 1948 zahlreiche basisch substituierte Derivate synthetisiert (Hafliger, Schindler), darunter das Imipramin. Auf Grund ihrer chemischen Ähnlichkeit zu Phenothiazinen (Chlorpromazin) wurden diese Verbindungen auf ihre antipsychotische Aktivität getestet. 1956 berichtete Roland Kuhn von der kantonalen Psychiatrischen Klinik in Munsterlingen (Schweiz) auf dem Zweiten Internationalen Psychiatrie-Kongress in Zürich über die antidepressive Wirkung von Imipramin, das 1958 von Geigy als Tofranil® auf den Markt gebracht wurde (18).
Imipramin war das erste Antidepressivum aus der Gruppe der basisch substituierten Tricyclen. Wegen ihrer sedierenden Komponente werden diese Verbindungen auch als Thymoleptika bezeichnet. Andere Firmen folgten mit ähnlichen Verbindungen: Trimipramin (1961; Stangyl®), Desipramin (1962; Pertofran®) und Clomipramin (1968; Anafranil®). 1958 wurde das Thioxanthen-Derivat Chlorprothixen (Truxal®) als Tranquilizer eingeführt (20, 21). Amitriptylin (1961; LaroxylR, Saroten®) war das erste Dibenzocycloheptadien. Damit wurden innerhalb relativ kurzer Zeit die wesentlichen Vertreter der basisch substituierten Tricyclen auf den Markt gebracht.
Als Verbindung mit einer rigiden Seitenkette wurde 1966 in den Niederlanden das Mianserin entwickelt. Die Entwicklung ging vom Antihistaminikum Phenbenzamin aus. Mianserin (Tolvin®) und das chemisch verwandte Azamianserin (Mirtazapin, Remergil®) wirken daher auch als H1-Antihistaminika. Mirtazapin blockiert 5-HT2- und 5-HT3-Rezeptoren und verstärkt damit die serotoninerge Signalübertragung durch die 5-HT1-Rezeptoren (Tabelle 2). Die Wirkung wird vor allem auf eine Blockade der präsynaptischen a2-Adrenozeptoren zurückgeführt.
Tabelle 2: Arzneistoffe, die an 5-Hydroxytryptamin-Rezeptoren angreifen
5-HT-Rezeptor-Subtyp Agonisten Antagonisten 1° Anxiolytika: Buspiron Antidepressiva 1B 1B/1D-Agonisten 1D Migränemittel: Triptane 2A 2A/2B-Antagonisten 2B Antidepressiva (Wirkung über 1A-Agonismus): Risperidon, Mirtazapin 3 Antiemetika: Metoclopramid, Setrone 4 Prokinetika: Metoclopramid, Cisaprid, TegaserodBislang sind keine Arzneistoffe etabliert, die an den 5-HT-Rezeptorsubtypen 1E, 1F, 5A, 5B, 6 und 7 angreifen.
Maprotilin (Ludiomil®), bei dem der mittlere Ring des Tricyclus mit einer Ethylengruppe überbrückt ist, wurde 1975 als weiteres tetracyclisches Antidepressivum eingeführt.
Serotonin als zentraler Mediator
Untersuchungen zum Wirkungsmechanismus von Imipramin wiesen darauf hin, dass Imipramin wie die MAO-Hemmer zum Anstieg von Catecholaminen im Gehirn führt. Daraus entstand in den sechziger Jahren die Catecholamin-Hypothese für Gemütskrankheiten (24, weitere Darstellungen in 25, 26). Inzwischen verdichteten sich die Hinweise auf einen Noradrenalin-Mangel an Hirn-Synapsen bei Depressiven. 1965 vermutete man bereits eine Beteiligung von Serotonin (5-Hydroxytryptamin, 5-HT) (27).
Serotonin wurde zunächst in der Peripherie als vasokonstriktorischer Faktor gefunden, woher sich der Name ableitet („Serum tonisch„). Inzwischen sind über 14 verschiedene 5-HT-Rezeptoren gefunden, kloniert und in der Struktur aufgeklärt (Literatur in 34). Etliche Wirkstoffgruppen greifen zentral und peripher an den verschiedenen 5-HT-Rezeptoren an (Tabelle 2). 5-HT1A-Agonisten sind als Antidepressiva von Interesse (34).
Die Inaktivierung der biogenen Amine Noradrenalin, Dopamin und Serotonin erfolgt neuronal im wesentlichen auf zwei Wegen: durch enzymatischen Abbau (Monoaminoxidase) und weitaus ökonomischer durch Wiederaufnahme (Re-uptake) in die Speicher mittels spezieller Transportproteine (Amin-Pumpen, Neurotransmitter-Transporter; 30). Eine Hemmung der Wiederaufnahme (Wiederaufnahmehemmer) erhöht ebenso wie eine Blockade des enzymatischen Abbaus (MAO-Hemmer) die Konzentration an biogenen Aminen.
Die antidepressive Wirkung der basisch substituierten Tricyclen beruht auf einer Unterdrückung der Wiederaufnahme. Dabei erwiesen sich tertiäre Amine wie Imipramin, Amitriptylin, Clomipramin, Trimipramin und Doxepin als stärkere Hemmer der Serotonin-Wiederaufnahme, sekundäre Amine (Desipramin, Nortriptylin, Maprotilin) als stärkere Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer. Daneben reagieren tertiäre Amine auch mit a1-adrenergen, muscarinergen und histaminergen Rezeptoren, was die zahlreichen zentralen und peripheren Nebenwirkungen erklärt (Tabelle 3). Eine chronische Einnahme der Tricyclen führt zur Down-Regulation der adrenergen und serotoninergen Rezeptoren.
Tabelle 3: Differenzierte Angriffspunkte tricyclischer Antidepressiva (nach 31)
AntidepressivumWiederaufnahmehemmung Rezeptoraffinität Noradrenalin Serotonin H1-histaminerg muscarinerg a1-adrenerg Amitriptylin * ++ ++++ ++++ +++ Nortriptylin ++ * + ++ + Imipramin + + + ++ ++ Desipramin +++ 0 0 + + Clomipramin + +++ + ++ ++ Trimipramin + 0 +++ ++ ++ Doxepin ++ + +++ ++ ++
Trimipramin hemmt im Gegensatz zum Imipramin die Noradrenalin- und Serotonin-Wiederaufnahme nur schwach, ebenso die b1-Adrenozeptoren. Die Wirkung wird vor allem auf eine Blockade von a1-, D2- und 5-HT2-Rezeptoren zurückgeführt.
Atypische Antidepressiva
Die Entwicklung der atypischen Antidepressiva wurde 1972 mit der Einführung des Trazodon eröffnet, das 1966 in Italien synthetisiert wurde. Trazodon (Desyrel®, Thombran®) hemmt relativ schwach, aber spezifisch die Serotonin-Wiederaufnahme und wirkt gleichzeitig als Antagonist an 5-HT1A-, 5-HT1C- und 5-HT2-Rezeptoren. Damit eröffnete es die Gruppe der dualen serotoninergen Antidepressiva. Es hat in vivo keine anticholinerge und antihistaminerge Wirkung und reagiert nicht mit b-Adrenozeptoren.
Strukturell ähnlich ist Nefazodon (Nefadar®), das 1994 eingeführt wurde. Beides sind Phenylpiperazin-Derivate. Die Wirkung beruht auf einer Serotonin-Wiederaufnahmehemmung und einem 5-HT2A-Antagonismus.
Eine neue Generation von Antidepressiva leitete das Viloxazin ein. Die Entwicklung ging vom Betablocker Propranolol aus. Propranolol und andere lipophile Betablocker erzeugen bei hoher Dosierung als Nebenwirkungen lebhafte Träume und Halluzinationen. Daher begann man 1969, lipophile Derivate zu synthetisieren, bei denen die Hydroxygruppe in einen Morpholinring eingebaut ist. Viloxazin (1974 als Vivalan® eingeführt) war der erste Vertreter der Phenoxypropylamin-Derivate (19), zu denen später Fluoxetin (1987, Fluctin®), Paroxetin (1991, Tagonis®, Seroxat®) und Reboxetin (Edronax®) hinzu kamen.
Im Unterschied zu den basisch substituierten Tricyclen haben diese Verbindungen nur eine geringe Affinität zu a- und b-Adrenozeptoren, H1- und Dopamin-Rezeptoren. Fluoxetin, Paroxetin und Fluvoxamin (1985, Fevarin®), Citalopram (1989, Cipramil®) und das Aminotetralin-Derivat Sertralin (1990, Gladem®, Zoloft®) erwiesen sich als selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Die Selektivität steigt in der Reihenfolge Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin, Citalopram an. Einige SSRI wie Fluoxetin und Sertralin regulieren die Dichte der b-Adrenozeptoren herunter. Reboxetin erwies sich als selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer.
Die SSRI werden gegenwärtig als die effektivsten Antidepressiva eingeschätzt. Mit MAO-Hemmern dürfen sie nicht kombiniert werden. Bemerkenswert ist, dass die bisherige Entwicklung der Antidepressiva nahezu ausschließlich durch die Beobachtung von Nebenwirkungen insbesondere der Neuroleptika zustande kam.
Teurer, aber besser verträglich
Die älteren tricyclischen Antidepressiva zeigen vor allem anticholinerge Nebenwirkungen, durch die es zu Kreislauf- und zentralnervösen Störungen kommen kann. Nach Einschätzung der WHO (1) haben die neueren Antidepressiva (und auch Neuroleptika) bei etwa gleicher Hauptwirkung weniger Nebenwirkungen, sind aber deutlich teurer. Die WHO kommt zu dem Schluss (1, S. 61):
„The considerably higher acquisition costs of the newer drugs are, however, offset by a reduced need for other care and treatment. Drugs in the newer class of antidepressants, for example, may represent a more attractive and affordable prescribing option in lower-income countries as their patents expire or where they are already available at a cost similar to that of older drugs.”
Neue Targets für Antidepressiva
Die große Anzahl von Therapieversagern (Statistiken sprechen von 30 bis 40 Prozent) könnte durch eine individuelle Therapie auf der Basis der Pharmakogenetik reduziert werden. Dabei kann die genetische Variabilität sowohl die Pharmakokinetik (Biotransformation) als auch die Pharmakodynamik, zum Beispiel bei einem Polymorphismus der Serotonintransporter-Gene, beeinflussen.
Einen weiteren Zugang bietet die Entwicklung von Arzneistoffen mit neuen Angriffspunkten. Immerhin lässt die Monoamin-Hypothese der Depression noch etliche Fragen offen. Als neue Angriffspunkte deuten sich gegenwärtig Phosphodiesterase-Isoenzyme oder N-Methyl-D-Aspartat (NMDA)-Rezeptoren an. Parenterale Infusionen von Hydrocortison und Thyrotropin-Releasing-Hormon (TRH) zeigten antidepressive Effekte, um nur zwei weitere Ansatzpunkte zu erwähnen. Eines ist jedoch sicher: Ein Breitspektrum-Antidepressivum wird es nicht geben.
Literatur
Alle Handelsnamen sind Beispiele für die genannten Arzneistoffe.
Der Autor
Peter Nuhn schloss sein Studium 1960 mit dem pharmazeutischen Staatsexamen und 1964 mit der Promotion in Leipzig ab. 1970 habilitierte er sich und erhielt 1975 die Dozentur für Naturstoffchemie an der Sektion Biowissenschaften der Universität Leipzig. Seit 1980 hat er die Professur für Pharmazeutische Chemie an der Universität Halle inne. Seine Forschungsgebiete umfassen die Entwicklung von Hemmstoffen von Enzymen des Phospholipid- und des Arachidonsäure-Metabolismus sowie die Synthese und biophysikalische Charakterisierung von Phospho- und Glykolipiden.
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. Peter Nuhn
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
06099 Halle
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