Künstlerisches Zeugnis für ein Reformprogramm der Pharmazie |
08.07.2002 00:00 Uhr |
von Fritz Krafft, Marburg
Der Apothekenerker in Lemgo stellt ein einzigartiges Kunstdenkmal aus der Geschichte der Pharmazie der frühen Neuzeit dar. Zudem legt er Zeugnis ab für das 1609 erstellte Programm einer neuen Medizin und Pharmazie, das zwischen tradierten, auf der Humoralpathologie beruhenden und neuartigen, auf der paracelsisch-crollschen Chymiatrie basierenden Inhalten vermitteln und beide zusammenführen wollte.
Lemgo, die alte, seit 1532 lutherische Hansestadt nördlich von Detmold in der ehemaligen Reichsgrafschaft Lippe, birgt eine weitgehend intakte Altstadtbebauung aus ihrer Blütezeit im 16. und 17. Jahrhundert mit vielen Zeugnissen der Weserrenaissance. Zu deren eindrucksvollsten Profanbauten gehört der Rathaus-Komplex an der Ostseite des Marktplatzes. Im Nordteil seines um 1480 marktseitig angebauten gotischen Saalbaus ist seit 1559 die Rats-Apotheke untergebracht, bis 1623 die einzige öffentliche Apotheke der gesamten Grafschaft. In den Jahren 1611/12 erfuhr diese Apotheke Umbauten und Erweiterungen, zu denen auch ein prunkvoller zweigeschossiger Standerker mit prächtigem Giebel und Figurenfries auf der Marktseite gehört, eine Auslucht (niederdeutsch: Utlucht).
„Wanderer, kommst Du nach Sparta, verkündige dorten, Du habest / uns hier liegen gesehn...“ - diese Worte aus Friedrich Schillers Übersetzung der Grabinschrift des Simonides an den Thermopylen kamen dem Autor sofort in den Sinn, als er zu Beginn des Jahres 1998 erstmals vor der Auslucht stand, über sich zehn in Stein gehauene, in Form eines zwischen den beiden Stockwerken umlaufenden Frieses angeordnete, ausdrucksvolle Porträts. Durch die Kühnheit der Darstellung und die Auswahl der Personen künden diese gleichermaßen von dem Stolz und dem Selbstbewusstsein des Apothekers, der ihn einst errichtete.
Die in der programmatischen Aussage des Apothekenerkers verkörperten Gelehrten (keineswegs ausschließlich Ärzte, wie die von der Medizingeschichte geprägte und von der Pharmaziegeschichte unreflektiert übernommene Bezeichnung „Ärztefries“ suggeriert) scheinen zu fordern, dass man sich ihrer in der neuzeitlichen Kunst der Arzneibereitung und deren Abgabe stets erinnert. Dem soll der folgende Beitrag dienen (1).
Ist Crossmann der Erbauer?
Die Datierung des Erkers und sein künstlerischer Urheber scheinen festzuliegen. Der Giebel trägt die Jahreszahl 1612 und eine Kaminklappe im Inneren der Apotheke die Jahreszahl 1611 und das Meisterzeichen des Lemgoer Steinmetzes Georg Crossmann (Crosmann, gestorben 1612). Obgleich dieses Zeichen am Erker selbst fehlt, galt der Sohn des Lemgoer Steinbruchbesitzers und Steinhauers Ludolf Crossmann lange Zeit unumstritten als Erbauer der Auslucht.
Seit den 1950er Jahren wird ihm dieses Werk abgesprochen. Die Ausführung soll seine künstlerischen Fähigkeiten und Ausdrucksmöglichkeiten überschreiten, für die seine relativ flachen und plakativen Reliefs der Freien Künste von 1589/91 zum Maßstab genommen wurden. Die Lemgoer Kunsthistoriker Otto Gaul (2) und Karl Meier(-Lemgo) (3) schlugen an seiner Stelle die Lemgoer Steinmetzmeister Vater und Sohn Hermann und Johann Roleff vor; später gingen sie noch weiter und benannten einen der aus Hildesheim stammenden Brüder Hans und Jonas Wolf als Urheber des Erkerfrieses (4). Dieser Meinung schloss man sich weitgehend an (5). So heißt es in dem offiziellen Lemgo-Stadtführer von 1993 (6): „... erbaut von Hermann und Johann Roleff. Die Mehrzahl der Porträts werden den Brüdern Hans und Jonas Wolff zugeschrieben.“
Aber wenn so viele Hände nach und nach an dem Bauwerk mitgewirkt hätten, wäre der Erker notwendig das Produkt des Zufalls einander willkürlich mit neuen Ideen ablösender Steinmetze. Mir hingegen scheint er künstlerisches Monument eines in sich schlüssigen neuen Programms der Medizin und Pharmazie zu sein. Das setzt einen einheitlichen Plan voraus, der zum einen das Wissen eines Insiders, zum anderen einen erfahrenen und bewährten Steinmetz und Bildhauer erforderte. Einen solchen stellt der für die inneren Ausbauten der Apotheke für 1611 bezeugte Georg Crossmann dar (7). Immerhin schuf er als steinerne Hochreliefs unter anderem 1587 das Epitaph des Obristen Moritz von Donop (gestorben 1585) in der Lemgoer Nikolai-Kirche nach einer Holzschnittvorlage des „Gesetz und Gnade-Schemas“ aus weißem Obernkirchener Sandstein sowie die aus dem gleichen Material bestehende Taufe von 1597, ebenfalls in der Nikolai-Kirche.
Crossmann war nach seiner Lehre in Lemgo und Gesellenzeit in Rostock 1585 in den väterlichen Betrieb eingestiegen und hatte unter anderem bereits 1588 bis 1591 maßgeblich an der Ausgestaltung der Rathauserweiterung mitgewirkt. Von ihm stammt beispielsweise eindeutig die neue Ratsstube am Südende der Marktfront mit ihrem doppelgiebeligen erkerförmigen Vorbau, der 1589 fertiggestellt wurde (die Relieftafel mit der Justitia über dem mittleren Erkerpfeiler schuf er 1593). Ebenso eindeutig führte er die Neugestaltung (1589 bis 1591) des Nordgiebels des Rathauskernbaus mit seinen schlanken Fenstern und dem erkerförmigen Aufbau über der laubenartigen Vorhalle sowie reichverziertem Giebel und einer Brüstung mit den Reliefs der sieben Freien Künste nach graphischen Vorlagen aus.
Den Ausgangspunkt für die Skepsis hatte der Figurenfries der Auslucht gebildet Die ausdrucksstarken Porträtreliefs wurden Crossmann nicht zugetraut. Nun ist aber gerade der stilistische Übergang von der strengen Renaissance des Frieses der sieben Freien Künste und der frühbarocken Dynamik und Ornamentik des Apothekenerkers durch andere Werke Crossmanns dokumentiert. Die künstlerische Ausdrucksfähigkeit spräche keineswegs gegen Crossmann als Urheber.
Die Hildesheimer Bilderfolge
Bei den 1961 begonnenen Restaurierungsarbeiten am Erker hatte sich herausgestellt, dass nur zwei Brüstungsfelder des Frieses aus demselben heimischen roten Sandstein gehauen worden waren wie die übrige Auslucht, nämlich an der Frontseite das zweite von links mit Claudius Galenus und das zweite von rechts mit R[aimundus] Lullus Hispanus. Die anderen acht bestehen aus weißem Oberkirchener Sandstein. Dieser „auswärtige“ Stein veranlasste Gaul dann auch, nach einem „auswärtigen“ Steinmetzen zu suchen, der ihn mitgebracht hätte. Auf einen der Hildesheimer Brüder schloss er, weil sie beim Landesherrn des Oberkirchener Steinbruchs, Graf Ernst von Schauenburg, auf Schloss Bückeburg tätig gewesen waren (wenn auch nicht zu der fraglichen Zeit) und es in Hildesheim das einzige vergleichbare Beispiel gegeben habe.
Er beruft sich dazu auf Karl Meier, der 1958 geschrieben hatte (8): „Diese Bilderfolge [des Lemgoer Frieses] kommt meines Wissens sonst nirgends vor. Eine ähnliche, aber nur in drei Personen mit der Lemgoer übereinstimmend, gab es in Hildesheim an dem im Jahre 1611 von einem Arzte Middendorp erbauten Hause“, das leider 1945 durch Kriegseinwirkungen zerstört wurde. Gaul lässt die Einschränkung auf drei Personen weg, erfindet einen Erker, der wie in Lemgo den Bilderzyklus getragen haben soll, und argumentiert (9): „Nun hat Dr. Karl Meier darauf hingewiesen, daß das einzige vergleichbare Beispiel einer Bilderfolge von Naturforschern und Ärzten sich gerade in Hildesheim an einem Fachwerk-Erker von 1611 befand...“
In der von Meier für seine Angaben genannten Quelle aus dem Jahre 1906 geht es aber nur ganz generell um Bilderzyklen (10), und der ganze Hildesheimer Zyklus stammt aus einem völlig anderen, für den Renaissance-Humanismus typischen Zusammenhang.
Die Abhängigkeit des Lemgoer Frieses von den Ärztedarstellungen in Hildesheim ist nicht nur unwahrscheinlich, sondern wurde dadurch widerlegt, dass für wenigstens vier Porträts (11) eine Vorlage aus ganz anderem Zusammenhang nachgewiesen wurde. Dennoch schließen sich Otto Gauls Meinung mehr oder weniger umfassend die nachfolgende kunsthistorische und pharmaziehistorische Literatur sowie die Reiseführer an, ohne in der Regel die Argumente zu prüfen oder auch nur zu nennen (12).
Gauls Argumentationskette, die von dem weißen Sandstein ausging, bricht vollends zusammen, wenn man bedenkt, dass der recht witterungsbeständige weiße Obernkirchener Sandstein damals ein sehr beliebter Baustoff gewesen ist, der von weit her angefordert wurde. Aus ihm bestehen etwa die Renaissance-Umbauten am Bremer Rathaus (1608 bis 1612); in Kopenhagen wurden Schloss Rosenborg (1610 bis 1626) und die Börse (1619 bis 1640) daraus errichtet; auch am Kölner Dom wurde er verwendet.
Geschätzt war er wegen seiner Härte besonders für feinteilige Reliefdarstellungen; so hat ihn Crossmann ausnahmsweise auch selber für das genannte Epitaph (1587) und die große Taufe in der Nikolai-Kirche (1597) verwendet. Seine Benutzung in Lemgo muss also nicht an eine Person gebunden sein, die ihn aus ihrer Heimat gekannt hätte, zumal er auch schon vor Crossmann in Lemgo benutzt wurde.
Andererseits wurde am Rathaus als Werkstein fast ausschließlich roter Sandstein verwendet. Während sich jedoch der Sandstein der älteren hoch- und spätgotischen Bauteile bis heute als gut haltbar erwies, sind an den zwischen 1588 und 1612 entstandenen Bauteilen erhebliche Verwitterungsschäden aufgetreten, die umfangreiche Erneuerungen erforderlich machten (13). So sind sowohl der Ratsherrenstuben-Erker als auch der Giebel der Apotheken-Auslucht im letzten Jahrhundert einmal eingestürzt. Das Baumaterial dieser Jahre wird aus ein und demselben Steinbruch stammen, wobei es besondere Gründe gegeben haben muss, diesen offensichtlich schon damals als minderwertiger erkannten Sandstein zu verwenden, und das auch nur solange, wie Georg Crossmann die Bauausführung oblag.
Diese besonderen Gründe müssen in seiner Person liegen; und man denkt sofort an den im Familienbesitz befindlichen Steinbruch vor den Türen Lemgos. Crossmann hat jedenfalls bis zu seinem Tode mit wenigen Ausnahmen diesen roten Sandstein verwendet. Die Verwendung für den Apothekenerker ist somit sogar ein positives Indiz für seine Urheberschaft - jedenfalls weitgehend, nämlich bis auf die acht Brüstungsfiguren aus weißem Sandstein.
Der Fries und seine Porträts
Der Fries des Lemgoer Apothekenerkers übernimmt als detailgetreue Bildzitate insgesamt vier Porträtmedaillons von Aegidius Sadelers Titelkupferstich zu Oswald Crolls Werk „Basilica chymica“ von 1609. Es sind - entgegen aller Tradition des Renaissance-Humanismus, was schon einen Einfluss des Hildesheimer Bilderzyklus von vornherein ausschließt - neben Paracelsus und Hermes Trismegistos ein mittelalterlicher und ein arabischer Vorkämpfer der neuen Chymiatrie: Lullus (wie wir sehen werden, vielmehr Roger Bacon) und Geber. Die drei letzteren nehmen die rechte Hälfte der Vorderfront ein.
Links davon stehen die drei großen Vertreter der traditionellen humoralpathologischen Schulmedizin: Hippokrates und Galenus sowie als ihr Vermittler an das Abendland der arabische Arzt Rhases. Ergänzt wird die Reihe an der linken Seitenfront durch die antiken Begründer von Pharmazie und Naturwissenschaft, Dioskurides und Aristoteles, während an der rechten Seite die Begründer moderner neuartiger Sehweisen folgen, Andreas Vesalius und Paracelsus.
Alle Porträts sind einheitlich in eine Rundnische gesetzt. Die beigegebenen Sinnsprüche und Attribute sind im Fall der Übernahme aus Sadelers Kupferstich ebenfalls getreue Umsetzungen in das Steinrelief. Von links beginnend sind dargestellt:
Grafische Vorlagen
Schon bei der ersten Erwähnung in der medizinischen und pharmazeutischen Literatur war 1913 vermutet worden, dass die Porträts nach grafischen Vorlagen geschaffen wurden. Arnold C. Klebs fand diese für den Vesalius im Titelkupfer der „Fabrica“ und für den Paracelsus in dem Stich von Hirschvogel (oder einer Kopie davon). Georg Edmund Dann konnte 1960 vier Porträts auf dem Titelkupfer des Prager Hofstechers Ae. Sadeler zu der 1609 postum erschienenen „Basilica chymica“ von Oswald Croll identifizieren, nämlich die Medaillons in den vier Ecken: Hermes Trismegistos, Geber, Lullus und Paracelsus.
Dass die vier Porträts im Apothekenfries nach diesem Titelkupfer (16) geschaffen wurden, wird sehr wahrscheinlich, wenn man bei näherer Betrachtung feststellt, dass nicht nur Haar- und Barttracht, Körperhaltung, Mimik und Kleidung identisch sind, sondern auch die beigegebenen Symbole, die an entsprechender Stelle aus der Laibung der Rundnischen herausgearbeitet wurden. Weiterhin stimmen die lateinischen Sinnsprüche und sogar die Schreibweise (und Abkürzungen) der lateinischen Namen (selbst die griechisch-lateinische Mischform bei Hermes) samt der hinzugesetzten Nationalitätsbezeichnung überein, die sich auf dem Fries auch nur bei diesen vier Porträts findet.
Dass die Quelle für den Lemgoer Fries (und Sadelers Kupferstich) nicht eine andere Darstellung dieser Ahnherren gewesen sein kann, wird abgesichert durch einen so genannten Leitfehler, der sich auf dem Kupferstich eingeschlichen hat. Sadeler ist nämlich eine auf dem Fries wiederholte Verwechslung unterlaufen, indem er den Franziskanermönch und Lehrer der Naturwissenschaften Roger Bacon (um 1219 bis 1292) samt seinem Attribut zum Sinnspruch und Namensschild des katalanischen Edelmannes, Enzyklopädisten, Mystikers und Missionars Raimundus Lullus (1232/33 bis 1315/16) stellte. Richtig wäre für Lullus und den Sinnspruch „Mit dem Feuer söhnt sich schließlich auch das Wasser aus“ der Feuersalamander als Symbol, während zu Bacon und seinen Attributen der Sinnspruch zur Vereinigung der Gegensätze der Elemente im Magisterium passt („Per elementorum conversionem Ternarius purificatus fiat Monas“). Das hat bereits Johann Daniel Mylius im Titelkupfer zu seinem 1620 erschienenen Werk „Antidotarium medico-chymicum reformatum“, das ebenfalls Crolls Frontispiz zitiert, korrigiert.
Am Fries der Vorderfront fällt sofort auf, dass die beiden Quader aus rotem Sandstein sich jeweils in der Mitte zwischen den je drei korinthischen Säulen als den tragenden Elementen des Erkers befinden. Diese bilden die belastbare statische Verbindung zwischen dem Sockel- und dem Brüstungsgesims.
Zur Baugeschichte
Eine Erweiterung der Ratsapotheke war schon mehrmals von den Lemgoer Apothekern eingefordert worden. Zuletzt hatte 1600 der Betreiber unter Androhung der Aufgabe des Apothekendienstes wegen der nicht ausreichenden Räumlichkeiten vorgeschlagen, die Apotheke in ein anderes städtisches Haus zu verlegen (17). Der Rat wollte jedoch die zentrale Lage nicht aufgeben. Er vertröstete den Apotheker vorerst mit der Bereitstellung von Kellerräumen, kaufte dann aber im Dezember 1604 und Januar 1605 zwei Häuser in unmittelbarer Nähe des Rathauses an der Südseite des Marktplatzes, um sie zu einem zweistöckigen „Mehrzweckhaus“ umzugestalten. Das Untergeschoss sollte als Apotheke und das Obergeschoss als Gastwirtschaft und Festsaal dienen.
Die Pläne von 1606 wurden jedoch später reduziert, so dass der Rat am 3. März 1608 nur noch ein Obergeschoss als „Danzhauß“ über dem hoch gewölbten Kellergeschoss bei Hermann Roleff in Auftrag gab, das spätestens 1610 zum heutigen „Ballhaus“ fertiggestellt wurde (18).
Erst danach konnte die Erweiterung der Apotheke begonnen werden, die umfassende Bauarbeiten erforderlich machte. Sie muss schon während der Umplanung des Ballhauses zwischen 1606 und 1608 vorgesehen gewesen sein, worüber wohl spätestens 1607 diskutiert wurde. Damals scheint jedenfalls der Apotheker seine Androhung wahr gemacht zu haben, so dass 1607 die Einsetzung eines neuen Betreibers der Apotheke erforderlich wurde, zu dem Wolrad Ferber (1577 bis 5. März 1633) gewählt wurde. Warum sollte damals nicht auch Georg Crossmann dazu auserwählt worden sein, nach der Fertigstellung des Ballhauses seinen Rathausumbau zu vollenden? Dies würde jedenfalls erklären, warum er 1609 Hannoversch-Münden vor dem Abschluss der ihm dort 1603 übertragenen Rathausumbauten verließ.
Ein Apothekenerker am nördlichen Ende der Marktfront des Rathauses war möglicherweise bereits zusammen mit dem Apothekenerker geplant gewesen. Zumindest lehnte sich der Entwurf der Apotheken-Auslucht konstruktiv und stilistisch eng an die Säulen- und Fenstergestaltung der von Crossmann zwischen 1588 und 1591 ausgeführten Anbauten an.
Der inhaltliche Entwurf
Die inhaltlichen Vorgaben für die Apotheken-Auslucht werden vom Apotheker selbst stammen. Auf dem Fries befindet sich der Lullus aus rotem Sandstein von Crossmann zwischen Geber und Hermes Trismegistos aus weißem Sandstein von Vater oder Sohn Roleff; alle drei Porträtreliefs sind aber nach derselben Vorlage geschaffen. Entwurf und inhaltliche Ausgestaltung sind also über die durch den Tod Crossmanns 1612 bedingte Zäsur hinweg beibehalten worden.
Wolrad Ferbers Vertrag wurde erst im Januar 1633 von der Stadt Lemgo zu Ostern desselben Jahres aufgelöst, nachdem er eine gewünschte Änderung im Vertrag abgelehnt hatte. Er war also auch nach dem Tod des Baumeisters für die Apotheke verantwortlich und sicher an der Ausführung seiner inhaltlichen Vorgaben interessiert. Offensichtlich war er ein ungewöhnlich hoch gebildeter Mann; widmete doch der Rektor des Lemgoer Gymnasiums (1610 bis 1615), der Theologe Johannes Gisenius, nachdem er als Professor der Theologie an die Universität Gießen berufen worden war, 1615 eine seiner ersten Dissertationen ihm als „D[omino] Wolrado Ferber pharmacopoeio Lemgoviensium dignissimo“ (19), als dem hochwürdigen Herrn Wolrad Ferber, Apotheker der Lemgoer.
Das Programm
Der Fries in Lemgo beruft sich durch sein Bildzitat ausdrücklich auf die „Basilica chymica“ als das Grundlagenwerk der paracelsisch-chymiatrischen Arzneibereitung. Dieses Werk hatte die Bereitung chymischer Arzneien erstmals praktisch ausführbar und lehrbar gemacht (20).
Daraufhin konnte auch Johannes Hartmann, der wie Croll aus Wetter stammte und 1609 Inhaber der ersten und lange Zeit einzigen Professur für Chymiatrie wurde (21), dieses Werk seinem theoretischen und erstmals auch praktischen Unterricht der Arzneibereitung zugrunde legen. An seinen Kursen an der Universität Marburg nahm eine sehr große Zahl von angehenden und fertigen Medizinern und Apothekern aus vielen Teilen Europas teil (22). Hartmann gab 1611 schon eine zweite Auflage des Crollschen Werkes mit demselben Titelkupfer wie die Editio princeps heraus. In der Medizinalordnung von 1616 und Apothekentaxe von 1617 hat der Landgraf Moritz von Hessen-Kassel, der die Professur eingerichtet und ausgestattet hatte, übrigens dieser Ausbildungsform auch die erforderliche rechtliche und wirtschaftliche Absicherung verschafft, insofern darin die Bereitung chymischer Arzneien ausdrücklich nur den Apothekern selbst sowie chymiatrisch ausgebildeten Ärzten vorbehalten wurde (23). Der Paragraph 12 verpflichtete „den Apotheker keine Materialien von Händlern zu kaufen, die sich als Chymisten ausgaben, sondern dieselben entweder selbst zu bereiten oder von erfahrnen Leuten, die dieses ex fundamentis gelernet und deshalben kundig und bekannt sind“ (24).
Hartmann betonte immer wieder, dass er gemäß den beiden Bestandteilen des Wortes „Chym-iatria“ beide Medizinen lehre und mit einander verknüpfe, die Chymia im Sinne von Crolls Modifizierung paracelsischer Lehren und die Iatria oder Medicina im Sinne hippokratisch-galenischer Humoralpathologie. Diesem neuen Programm schließt sich der Lemgoer Fries durch seine Bildzitate sehr früh eindrucksvoll an.
Biblische Rechtfertigung
Ebenso wie es Paracelsus und Croll taten, wird auch dieses Gesamtprogramm und seine Umsetzung an der Auslucht von einer höheren, nicht anfechtbaren Warte aus abgesichert und gerechtfertigt. Diese Instanz war im 17. Jahrhundert und besonders im lutherischen Protestantismus, den die Stadt Lemgo gegen sämtliche gegenreformatorischen Strömungen des Umlandes für sich als Enklave bewahren konnte, die Heilige Schrift und zwar die Bibel in Martin Luthers Übersetzung. Unterhalb des Giebels läuft ein Schriftband um mit Versen aus dem Anfang des 38. Kapitels der deuterokanonischen Schrift Jesus Sirach, das mit der Aussage endet: „Die Arznei kommt vom Herrn, und der Apotheker bereitet sie“.
Die kunsthistorische Literatur geht auf diesen Text kaum ein. Bereits 1913 hatte aber Klebs bemerkt, dass hier Worte aus dem Ecclesiaticus zitiert werden, jedoch hinzugefügt (25): „Ausgelassen ist der Spruch über den Sünder gegen den Schöpfer, der zur Strafe dann in die Hände des Arztes fallen muß, aber weise hinzugefügt steht es, daß auch die Arznei vom Herrn kommt und in der Apotheke zu haben ist.“ Immerhin hat er hier etwas von einer Apotheke gelesen, was der Erbauer hinzugefügt hätte. Das ist gar nicht so einfach, denn die drei Wörter „apteker / bereit sie“ sind hoch oben im Schatten eines tiefen Gesimses in zwei Reihen übereinander geschrieben und kaum zu erkennen. Fritz Ferchl (1926) und Wolfgang-Hagen Hein (1960 und 1967) lassen den gesamten letzten Halbsatz in ihrer Beschreibung denn auch ganz weg (26). Der Medizinhistoriker Walter von Brunn las 1939 zwar den gesamten Text, meinte dann aber im Sinne von Klebs (27): „Den Nachsatz `und der Apotheker bereit sie´ hat vermutlich damals der Herr Ratsapotheker von Lemgo hinzufügen lassen!“ Entsprechend nennt auch Georg Schwendt noch 1989 diese Ergänzung ein „interessantes Dokument früher Imagepflege“ (28).
Wer sich mit dem religiösen Empfinden der Gläubigen in der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg auch nur etwas auskennt, muss aber die Möglichkeit einer solchen, sogar öffentlich geäußerten Verquickung von Eigenreklame und biblischer Aussage insbesondere für die lutherischen Protestanten ausschließen.
Der letzte Teilsatz kann nicht nachträglich angefügt worden sein; denn der ganze Text ist ein durch Bauelemente in vier Sätze unterteiltes Konstrukt, dessen erste Hälfte bis zur Mitte der Vorderfront den religiösen Teil, dessen zweite Hälfte den medizinisch-pharmazeutischen Teil im Sinne lutherischer, aber auch paracelsischer Heillehre umfasst. Jeder der vier Sätze besteht wiederum aus zwei Halbsätzen:
Allerdings hatte der Steinmetz schon im rechten Teil der Vorderfront seine liebe Not, die immer länger werdenden Sätze auf dieselbe Länge zu bringen. Daher zog er schon hier Buchstaben zusammen oder ließ andere weg, während er im vierten Doppelsatz zusätzlich noch die letzten Wörter übereinander schreiben musste. Auch hier beginnt der letzte Halbsatz in ganz normaler Schriftgröße.
Luther hat übrigens erstmals den zu seiner Zeit geläufigen Begriff Apotheker in die Bibel eingeführt (30). Der Lemgoer Apothekenerker ist meines Wissens das erste (und einzige?) Zeugnis dafür, dass daraufhin die Anfangsverse des 38. Kapitels von Jesus Sirach zur biblischen Rechtfertigung nicht nur des Arztberufes und der Anwendung von Gott erschaffener Arznei (wie es auch schon früher geschah), sondern auch der Apothekerkunst und damit des Apothekerberufs benutzt werden können.
Resümee
Der Apothekenerker von Lemgo stellt ein einzigartiges Kunstdenkmal aus der Geschichte der Pharmazie der frühen Neuzeit dar. Gleichzeitig ist er Zeugnis für ein völlig neuartiges, interdisziplinäres Programm zur Reform von Medizin und Pharmazie, das den Beginn ihrer naturwissenschaftlichen Ausrichtung darstellte. Die Zielsetzung dieser Neuorientierung vor fast 400 Jahren bildet noch heute die Basis der Pharmazie. Die damalige Berufungsinstanz ist heute nicht mehr anerkannt; an die Stelle der Bibel ist die Naturwissenschaft getreten. Doch ist die Auslucht ein erstes künstlerisches Zeugnis für eine wissenschaftlich fundierte und religiös gerechtfertigte Professionalität der praktischen Pharmazie, wie sie sich andere Berufsstände nur wünschen können.
Literatur
Die Literatur- und Quellenangaben können beim Verfasser angefordert werden. Für Detail-Nachweise siehe Krafft, F., Die Arznei kommt vom Herrn, und der Apotheker bereitet sie. Biblische Rechtfertigung der Apothekerkunst im Protestantismus: Apotheken-Auslucht in Lemgo und Pharmako-Theologie. Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie, Bd. 76. Stuttgart 1999.
Der Autor
Fritz Krafft hat sich nach dem Studium der Klassischen Philologie, Philosophie und Physik 1968 an der Universität Hamburg für Geschichte der Naturwissenschaft habilitiert. 1970 wurde er Professor für dieses Fachgebiet am Fachbereich Mathematik der Universität Mainz und war von 1988 bis 2000 Professor für Pharmaziegeschichte und Leiter des Instituts für Geschichte der Pharmazie an der Philipps-Universität Marburg. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina und der Académie Internationale d’Histoire des Sciences. Im April dieses Jahres zeichnete ihn die Deutsche Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie mit der Johannes-Valentin-Medaille in Silber aus. Kraffts wissenschaftliche Arbeiten behandeln vor allem die Verankerung der Wissenschaften in der Kultur-, Religions- und Sozialgeschichte und beziehen sich vornehmlich auf Umbruchsituationen und Entstehungsphasen neuer Disziplinen. (http://staff-www.uni-marburg.de/~krafft)
Anschrift des Verfassers:
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