Praxisorientierte Empfehlungen zur Prävention und Therapie |
30.06.2003 00:00 Uhr |
Eine gesunde, vollwertige Ernährung mit einem hohen Anteil an pflanzlichen Lebensmitteln hat einen hohen Stellenwert für die Prävention von Krebserkrankungen. In der akuten Phase der Tumorerkrankung gelten dagegen spezielle Richtlinien. Eine den spezifischen Bedürfnissen des Patienten angepasste Ernährungstherapie sollte essenzieller Bestandteil der medizinischen Versorgung sein. Frühzeitig begonnen kann sie die Symptomatik der krankheitsbedingten Auszehrung verbessern, tumor- und therapiebedingte Beschwerden lindern und einen guten Ernährungsstatus sichern helfen.
Zahlreiche praxisorientierte Empfehlungen sollen dazu dienen, ein initiales Beratungsgespräch in der Apotheke mit dem Klienten führen zu können. Dabei sollte sich die beratende Person jedoch stets der Grenzen ihrer Fachkompetenz und Erfahrung bewusst sein und gegebenenfalls rechtzeitig auf professionelle Ernährungstherapeuten wie Diätassistenten, Diplom-Ökotrophologen und Ernährungsmediziner und zur Abklärung medizinischer Befunde auf Fachärzte verweisen.
Krebserkrankungen rangieren in der bundesdeutschen Mortalitätsstatistik mit 210.000 Todesfällen pro Jahr nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen an zweiter Stelle. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es Vermutungen, dass die Ernährung bei der Entstehung von Krebs eine bedeutende Rolle spielt. Mittlerweile liegen weltweit mehr als 4500 Studien vor, die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Tumoren und bestimmten Ernährungsgewohnheiten erklären können. Schätzungen zufolge wären je nach Tumorart bis zu 75 Prozent der bösartigen Neubildungen durch eine „optimale Ernährung“ vermeidbar. Allein bei den in Deutschland häufigen Tumorarten des Dickdarms, der weiblichen Brust und des Magens könnten etwa 62.000 Neuerkrankungen jährlich verhindert werden (15).
Neben dem Tabakkonsum ist das Ernährungsverhalten (das heißt, was und wie viel man isst) der bedeutendste Einflussfaktor auf das Krebsrisiko. Einen wesentlich geringeren Einfluss haben dagegen die genetische Prädisposition und die Exposition gegenüber Schadstoffen wie Pestiziden, Schwermetallen und Nitrat. In der Beratungspraxis sollten diese Fakten unbedingt vermittelt werden, da hier die große Chance liegt, durch den persönlichen Lebensstil das Tumorrisiko erheblich zu beeinflussen („gesunde Ernährung als Schutz vor Krankheit“).
1997 veröffentlichte der World Cancer Research Fund (WCRF) zusammen mit dem American Institute for Cancer Research (AICR) den umfangreichsten Report zum Thema Ernährung und Krebsprävention (39). Darin wurden 23 ernährungsassoziierte Faktoren und ihre Wirkung auf insgesamt 18 solide Tumorentitäten identifiziert. Der Bericht unterscheidet je nach Anzahl, Qualität und Konformität der Studien zwischen überzeugenden, wahrscheinlichen, möglichen und unzureichenden Belegen für eine Risikosenkung oder -erhöhung eines ernährungsassoziierten Faktors. Die wichtigsten Ergebnisse sind in Abbildung 1 dargestellt.
Abbildung 1: Zusammenhang zwischen Ernährung und Krebs; aufgeführt sind risikosenkende und -erhöhende Faktoren (modifiziert nach 15, 39)
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Obst und Gemüse senken das Risiko
Der wichtigste nutritive Faktor zur Senkung des Erkrankungsrisikos ist eine hohe Obst- und Gemüsezufuhr. Für die Mehrzahl der untersuchten Tumorlokalisationen wird eine Risikominderung zumindest für möglich gehalten, für Tumoren der Brustdrüse, des Kehlkopfes und des Pankreas ist sie wahrscheinlich. Für eine Schutzwirkung vor Krebs der Mundhöhle und des Rachens, der Speiseröhre, des Magens, Dickdarms sowie der Lunge gibt es überzeugende Belege (39). Neuere Arbeiten bestätigen diese Befunde (18).
Die tumorprotektive Wirkung eines hohen Obst- und Gemüseverzehrs wird in Zusammenhang mit einer hohen Aufnahme an antioxidativen Substanzen gesehen. Zahlreiche Untersuchungen zeigten, dass hohe Plasmakonzentrationen an Antioxidanzien wie Vitamin C, E und Betacarotin invers mit dem Krebsrisiko korrelieren (16, 33, 38).
Neben den antioxidativen Vitaminen gibt es Tausende von sekundären Pflanzenstoffen - chemisch sehr unterschiedliche Substanzen -, die in experimentellen Studien zum Teil eine hoch potente Tumorinhibition zeigen. Ihr Wirkungsspektrum im Tumorgeschehen ist äußerst vielfältig. Abbildung 2 zeigt stark vereinfacht die Haupt-Substanzgruppen und ihre Angriffspunkte in der Tumorgenese.
Abbildung 2: Sekundäre Pflanzenstoffe als potenzielle Tumorinhibitoren und ihre Angriffspunkte in der Tumorgenese (modifiziert nach 38)
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Mittlerweile sind mehrere Forschergruppen der Ansicht, dass die tumorprotektive Wirkung einer hohen Obst- und Gemüsezufuhr durch die vielfältigen Wechselwirkungen und Synergismen der Einzelsubstanzen verursacht wird (17).
Beurteilung von Getreide schwierig
Der Großteil des Getreides wird in westlichen Ländern als raffiniertes und damit ballaststoff-, vitamin- und mineralstoffarmes Getreide verzehrt. Aussagen über den Gesundheitswert von Vollkornprodukten sind dadurch schwer möglich. Eine hemmende Wirkung auf Magenkarzinome wird für möglich gehalten (39); protektive Effekte werden auch für das Kolonkarzinom vermutet (8).
Fleisch und Wurst
Ein hoher Konsum an Fleisch, insbesondere roten Fleischsorten (Rind, Schwein, Lamm, Wild) sowie Fleisch- und Wurstwaren (gepökelt, geräuchert) soll das Risiko vor allem für kolorektale Karzinome (Zusammenhang wahrscheinlich) (25, 39), aber auch für Mamma- und Prostatakarzinome (Zusammenhang möglich) erhöhen (39).
Mögliche Ursachen sind prokanzerogene heterozyklische Amine, die beim gewöhnlichen Braten (nicht erst beim Anbrennen) entstehen, sowie eine hohe Zufuhr von Eisen, das die Bildung von genotoxischen Hydroxylradikalen fördert. Weiterhin wurden Nitrat und Nitrit aus Pökelsalz (können im Körper in N-Nitroso-Verbindungen umgewandelt werden) und polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (vor allem Benzo(a)pyren, das beim Heißräuchern entsteht) als Prokanzerogene identifiziert. Durch den Verzehr von ungepökelten (aus Öko-Landbau) und luftgetrockneten Fleisch- und Wurstwaren lässt sich die Aufnahme dieser Substanzen senken.
Die Hauptquelle für Nitrat ist allerdings Gemüse. Während kritische Pestizidrückstände heutzutage nur noch selten in konventionellem Gemüse gefunden werden, werden häufig erhöhte Nitratwerte gemessen. Daher ist es sinnvoll, saisonale Produkte sowie solche aus ökologischem Anbau zu bevorzugen, die signifikant weniger Nitrat enthalten. Vitamin C in Lebensmitteln kann die Umwandlung von Nitrat zu Nitrit effektiv hemmen.
Risikofaktoren Alkohol und Fett
Während es für Herz-Kreislauf-Erkrankungen eine U-förmige Beziehung zwischen Risiko und Menge der Alkoholaufnahme gibt (Risiko am geringsten bei moderatem Alkoholkonsum), steigt das Risiko für Tumorerkrankungen dosisabhängig bereits bei geringen Mengen zunächst linear und bei sehr hohem Konsum exponenziell an. Für Tumoren des oberen Gastrointestinaltrakts (Mundhöhle, Rachen, Kehlkopf, Speiseröhre) sowie für Leberkrebs ist die Datenlage überzeugend, für Tumoren des Dickdarms und der Brustdrüse wahrscheinlich. Eine Risikoerhöhung für Lungenkrebs wird für möglich gehalten (39).
Eine positive Korrelation zur Fettaufnahme besteht möglicherweise für Tumoren in Lunge, Dickdarm, Brust und Prostata. Gesättigte und tierische Fette steigern möglicherweise das Gebärmutterkrebs-Risiko (39). Für eine Risikoerhöhung bei den hormonabhängigen Tumoren (Brust, Gebärmutter, Prostata) wird vor allem der den Estrogenspiegel erhöhende Effekt einer hohen Fettzufuhr diskutiert.
Seit einigen Jahren sieht man auch Wechselwirkungen zwischen hohen Estrogenspiegeln und einer besonders bei Adipositas bestehenden Insulinresistenz. Eine fortgeschrittene Insulinresistenz erhöht unabhängig die Estrogenspiegel (20).
Ballaststoffe können schützen
Eine hohe Ballaststoffaufnahme schützt möglicherweise vor Pankreas-, Dickdarm- und Brustkrebs (39). Verschiedene Mechanismen, die ineinander greifen, konnten in experimentellen Studien nachgewiesen werden. Im Dickdarm entstehen durch die Vergärung von Ballaststoffen kurzkettige Fettsäuren, die den pH-Wert im Darmlumen senken und damit die Bindung von Mutagenen an Ballaststoffe fördern. Vor allem Butyrat wirkt zusätzlich per se antiproliferativ auf maligne Zellen.
Weiterhin wird durch eine hohe Ballststoffzufuhr die Transitzeit des Chymus erhöht und damit die Kontaktzeit von kanzerogenen Substanzen mit der Darmwand verringert (38). Dies gilt vor allem für sekundäre Gallensäuren, die natürlicherweise bei der Verdauung entstehen, aber auch exogen zugeführte Mutagene.
Empfehlungen und Realität
Die zentralen Empfehlungen des World Cancer Research Fund (WCRF) und des American Institute for Cancer Research (AICR) decken sich in etwa mit denen anderer Organisationen (13, 39, 41). Im Mittelpunkt dieser Richtlinien stehen Empfehlungen zur deutlichen Erhöhung der Gemüse-, Obst- und Kohlenhydratzufuhr sowie einer Reduktion der Fett- und Alkoholaufnahme (siehe Kasten).
Ernährungsempfehlungen des World Cancer Research Fund zur Primärprävention von Krebserkrankungen [modifiziert nach 39]
Die Ernährung in Deutschland zeigt leider ein anderes Bild. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt, täglich mindestens 650 g Obst und Gemüse zu essen (13). Hierzulande liegt der Obst- und Gemüseverzehr nach den Daten der europaweiten prospektiven EPIC-Studie mit rund 320 bis 400 g pro Tag deutlich darunter (32). Im spanischen Kollektiv der Studie wurde eine Obst- und Gemüsezufuhr von 590 bis 620 g/d gemessen. Dabei verzehrten 74 Prozent der spanischen Probanden mehr als 400 g Obst und Gemüse pro Tag (1; nähere Informationen unter www.iarc.fr).
Obwohl die Fettzufuhr in Deutschland in den letzten 15 Jahren gesunken ist, liegt sie mit derzeit 36 Prozent der Energiezufuhr (23) über der Empfehlung von höchstens 30 Prozent (13), ebenso die Verzehrsmengen für Fleisch und Wurst. Sie liegen vor allem bei Männern mit durchschnittlich 170 g weit über der Empfehlung des WCRF von 80 g/d.
Fünf am Tag: eine Formel mit Evidenz
Um den tumorprotektiven Nutzen einer obst- und gemüsereichen Ernährung gesundheitspolitisch umzusetzen, hat die DGE zusammen mit verschiedenen Organisationen und der Lebensmittelindustrie im Jahr 2000 die Aktion „5 am Tag“ lanciert (37). Diese Gesundheitskampagne, die bereits seit 1991 in den USA existiert, beschreibt auf einfache Weise die wichtigste Empfehlung zur Reduktion des Krebsrisikos: Täglich sollte man fünf Portionen Obst und Gemüse essen. Eine Portion entspricht einem Stück Obst oder Gemüse, bei Salaten und zubereiteten Gemüsen (geraspelte Rohkost, Obstsalat, Sauerkraut) einer Handvoll oder auch einem Glas reinem Obst- oder Gemüsesaft. Didaktisch hat diese Formel den Vorteil, dass man zur Orientierung weder eine Waage noch Haushaltsmaße braucht. Auch die unterschiedlichen Empfehlungen für Geschlecht, Alter und Körpergröße entfallen.
Der schrittweise Weg zu einer gesunderhaltenden vollwertigen Ernährung, die auch das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen senkt, erfolgt am besten über eine langsame und schrittweise Mengenverschiebung der Lebensmittel hin zu den Risiko senkenden Produkten.
Essen oder Pillen schlucken?
Die Einnahme von Vitaminsupplementen und anderen Nahrungsergänzungsmitteln ist en vogue und ein bedeutender wirtschaftlicher Faktor auch in der Apotheke. Bereits 1997 wurden in Deutschland allein für Vitaminpräparate mehr als 550 Millionen Euro bezahlt. Knapp ein Drittel der Deutschen gibt monatlich bis zu 25 Euro für frei verkäufliche Vitamin- und Mineralstoffpräparate aus (11).
Bisher ist der zusätzliche Nutzen einer Supplementierung von Nährstoffen über den Tagesbedarf hinaus für den Gesunden in klinischen Studien nicht belegt. Im Gegenteil: Bei starken Rauchern wurden bereits bei einer Zufuhr von 20 mg Betacarotin pro Tag gesundheitsschädigende Wirkungen beobachtet. Dies führte dazu, dass der wissenschaftliche Lebensmittelausschuss der Europäischen Union im Jahr 2000 den bisher geltenden ADI-Wert (acceptable daily intake) von 5 mg/kg KG pro Tag zurückzog und das US-amerikanische Food and Nutrition Board empfiehlt, auf Betacarotin-Supplemente völlig zu verzichten.
Neben den Empfehlungen für den Bedarf inclusive Sicherheitsspannen zur Berücksichtigung der individuell unterschiedlichen Resorption existieren seit einigen Jahren Empfehlungen für eine optimale Zufuhr an Antioxidanzien (Tabelle 1). Diese liegen maximal beim Doppelten des Bedarfswerts und sind ohne weiteres mit einer vollwertigen Ernährung, wie sie von der DGE oder dem WCRF zur Krebsprävention postuliert wird, erreichbar. Es liegt unter anderem in der Verantwortung des Apothekenpersonals, Kunden auf die möglichen Gesundheitsrisiken einer Überdosierung von Vitamin- und Mineralstoffpräparaten hinzuweisen und ihnen die Vorteile einer gesunden Ernährung „schmackhaft“ zu machen.
Tabelle 1: Empfohlene Zufuhr, erforderliche Zufuhrmenge zur Erreichung optimaler Plasmaspiegel sowie tatsächliche Aufnahme von antioxidativ wirksamen Substanzen bei Erwachsenen (5, 6, 13, 14)
AntioxidansEmpfehlung DGE (mg/d) *Optimale Zufuhr (mg/d) Tatsächliche Zufuhrhöhe* (mg/d) Vitamin C 100 ca. 75 bis 150 84,3 (83,6) Vitamin E 14 (12) ca. 15 bis 30 11,4 (10,1) Betacarotin 2 (Richtwert) 2 bis 4 2,2 (2,2)*) Männer (Frauen), 25 bis 50 Jahre
Dennoch ist das Interesse an Nahrungsergänzungen in der Bevölkerung sehr groß. Einige Hersteller behaupten, dass die heutige Ernährung keinen optimalen Schutz der Zellen mehr gewährleiste und deshalb die Supplementierung von Antioxidanzien notwendig sei. Mittlerweile stehen auch in der Apotheke Schnelltests zur Messung von reaktiven Sauerstoffspezies (ROS), insbesondere von Hydroperoxiden, im Kapillarblut zur Verfügung. Diese Methoden wurden bisher noch nicht hinreichend in Bezug auf ihren Stellenwert für die Beratung evaluiert (12).
Die Klinik für Tumorbiologie Freiburg hat im Mai 2003 ein Antioxidanzien-Programm gestartet (24). Ziel ist es, eine rationale Grundlage für die Antioxidanzienberatung und -empfehlung in der Praxis zu schaffen. Dazu sollen im ersten Schritt in einer epidemiologischen Verbundstudie über ein Netzwerk von Apotheken bundesweit ROS-Statuswerte von gesunden Personen mit und ohne Einnahme von Präparaten erhoben werden. Interessierte Apotheken können über den Autor Kontakt aufnehmen.
Ernährung bei akuter Erkrankung
Während die Empfehlungen zur Prävention standardisierbar sind, ist die Ernährungstherapie bei einer aktiven Krebserkrankung, besonders aus Sicht des Patienten, in hohem Maß von individuellen Problemen geprägt. Deshalb sind neben der Kenntnis von Therapieprinzipien auch viel Einfühlungsvermögen, Geduld und Flexibilität des Beratenden gefragt. Ein gut funktionierendes Team aus Arzt, Psychologe, Ernährungstherapeut und weiteren Fachleuten wie Ergo- oder Stomatherapeut wäre nicht nur in der Klinik, sondern auch in der ambulanten Betreuung wünschenswert.
Da diese Strukturen vor Ort häufig fehlen, kann der Apotheker als Ansprechpartner auch für Ernährungsfragen eine wichtige Vermittlerrolle spielen und ein Erstgespräch führen. Für eine umfangreiche und länger notwendige ernährungsmedizinische Betreuung sollte er auf erfahrene professionelle Ernährungstherapeuten (Diätassistenten, Diplom-Ökotrophologen, Ernährungsmediziner) verweisen. Die wichtigsten Ziele der Ernährungstherapie sind im folgenden Kasten zusammengefasst.
Ziele der ernährungstherapeutischen Betreuung von Tumorpatienten in der akuten Phase
Tumorkachexie behandeln
Häufig leiden die Patienten unter körperlicher Schwäche, Anorexie, Appetitverlust, vorzeitiger Sättigung, Nahrungsmittelaversionen und Antriebslosigkeit. Dieser Symptomkomplex wird als Tumorkachexie bezeichnet und ist ein multifaktorielles Geschehen. Wesentliche Ursachen sind eine durch den Tumor induzierte veränderte Stoffwechsellage, eine verminderte Resorption und/oder Digestion durch Organbeeinträchtigung sowie eine durch die Begleitumstände der Erkrankung verminderte Nahrungsaufnahme.
Ein Drittel der Patienten hat einen erhöhten Energieverbrauch, der nicht unbedingt mit der Tumorgröße korreliert. Der Muskelproteinabbau ist gesteigert, die hepatische Proteinsynthese und die Gluconeogenese sind erhöht. Im Fettstoffwechsel findet eine vermehrte Lipolyse mit Dyslipidämie (VLDL erhöht, LDL und HDL erniedrigt) und verminderter Lipoproteinlipaseaktivität statt.
Als diagnostische Kriterien einer Mangelernährung gilt ein ungewollter Gewichtsverlust von fünf Prozent in den letzten drei Monaten oder von zehn Prozent seit der Erstdiagnose. Häufig verändern sich die Körperkompartimente, was bei alleiniger Gewichtskontrolle nicht unbedingt erkannt wird (Abbildung 3). Deshalb sollten zusätzlich regelmäßig die Muskelmasse und das Extrazellulärwasser (Ödemneigung beim Protein-Energie-Mangelsyndrom) mit der bioelektrischen Impedanzanalyse (BIA) kontrolliert werden. Die Tumorkachexie hat eine erhebliche prognostische Bedeutung, zumal bei schätzungsweise 20 bis 25 Prozent der Patienten in späteren Stadien die Tumorkachexie und die damit verbundene allgemeine Schwächung des Organismus die unmittelbaren Todesursachen sind (21).
Abbildung 3: Körperzusammensetzung bei gesunden Probanden und Patienten mit katabolen Erkrankungen (modifiziert nach 22)
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Im Kampf gegen die metabolische Ursache der Tumorkachexie gibt es bisher erst wenige Erfolg versprechende medikamentöse Ansätze. Anabole Medikamente wie Steroide, Dronabinol, Megestrolacetat und Thalidomid können zwar zu einer Gewichtszunahme führen, haben aber ohne Muskeltraining keine Wirkung auf die Muskelmasse und zum Teil erhebliche Nebenwirkungen.
Effektiv scheint dagegen die Gabe von langkettigen Omega-3-Fettsäuren in Form von Fischöl zu sein, wobei nur die Eicosapentaensäure (EPA) wirksam zu sein scheint. Verschiedene Studien bei Patienten mit inoperablem Pankreaskarzinom zeigten in der Interventionsgruppe einen Abnahmestillstand und eine leichte Zunahme des Gesamtgewichts, der Muskel- und Fettmasse, während die Kontrollgruppe weiter an Gewicht verlor (40).
Diätetische Therapie der Kachexie
Bei drohender Kachexie ist aus ernährungsmedizinischer Sicht das Hauptaugenmerk auf eine iso- bis leicht hyperkalorische Ernährung zu legen. Diese sollte gleichzeitig eine hohe Mikronährstoffdichte besitzen (siehe Kasten). Die normale Kost kann man, sofern der Patient es toleriert, mit Öl, Sahne, Butter oder anderen fettreichen Lebensmitteln kalorienanreichern. Empfehlenswert ist auch der Einsatz von Maltodextrin 19®, einem geschmacksneutralen Kohlenhydrat in Pulverform, das man problemlos in vielen Speisen und Getränken unterrühren kann.
Empfehlungen zur Energie und Fett angereicherten Ernährung bei Kachexie
In kontrollierten Studien aus den 1980er und frühen 1990er-Jahren mit voll bilanzierten Trinknahrungen wurde oft keine signifikante oder nur eine geringe Gewichtszunahme beobachtet (34). Die Produkte waren häufig hydrolysiert und schmeckten schlecht. Am ehesten zeigte sich ein positiver Effekt bei Tumoren des Hals-Rachen- und des Gastrointestinalbereichs, was auf einen Nutzen vor allem bei eingeschränkter Nahrungsaufnahme hindeutet. Mit modernen nährstoffdefinierten vollbilanzierten, viel besser schmeckenden Trinknahrungen können dagegen zusätzlich 200 bis 300 kcal pro Packung (200 ml) aufgenommen werden. Mittlerweile gibt es eine breite Palette von Geschmacksrichtungen, die vor allem bei Dauerindikation von Anfang an unbedingt voll ausgenutzt werden sollte, um keine Ablehnung infolge Geschmackseintönigkeit zu induzieren. Ebenso sollte der Patient selbst nach seinen persönlichen Vorlieben und nicht das Budget oder eine Herstellerbindung über die Produktauswahl entscheiden.
Die zusätzliche Gabe von Omega-3-Fettsäuren-Kapseln (6 g EPA/d) als Nahrungsergänzung ist wegen ihrer antiinflammatorischen und anabolen Effekte empfehlenswert.
Eine isolierte medikamentöse Therapie der metabolischen Ursachen der Tumorkachexie ist wenig sinnvoll, da diese fast immer mit psychischen Einflussfaktoren auf das Essverhalten sowie physiologischen Veränderungen durch Operationen, Chemo- und/oder Radiotherapie zusammenhängen. Was in diesen Bereichen ernährungsmedizinisch getan werden kann, soll detailliert dargestellt werden.
Psychosozial bedingte Essprobleme
Essen und Trinken sind normalerweise mit Genuss, Freude und Geschmackserleben verbunden. Patienten mit einer Krebserkrankung leiden dagegen oft unter Ängsten, Schmerzen und depressiven Verstimmungen, wodurch die positiven Assoziationen mit dem Essen in den Hintergrund geraten. Gewichtsabnahme und Schwächung des körperlichen Allgemeinzustands mit einem veränderten Körperbild (ausgezehrt/ abgemagert sein = sich schwach und kraftlos fühlen) können die Folge sein. Daher sollte möglichst alles getan werden, dass der erkrankte Mensch die Freude am Essen zurückerlangt. Appetit anregend ist das Essen in Gesellschaft (Angehörige, Freunde, Bekannte). Eine angenehme Atmosphäre, genügend Zeit und optisch attraktiv angerichtete Speisen können ebenfalls viel zu einer Steigerung der Nahrungsaufnahme beitragen.
Tumorbedingte Ernährungsprobleme
Vor allem bei Tumoren im Gastrointestinaltrakt sind Nahrungsdigestion und Nährstoffresorption oft beeinträchtigt. Durch die allgemeine Schwächung des Organismus können vermehrt Infektionen mit Diarrhö und Erbrechen auftreten. Schleimhautentzündungen vermindern die Resorption und können zu Ulzerationen des Magens oder Darms, Stenosen zum Verschluss des Darms, Gallen- oder Pankreasgangs führen. Ein Rückstau der Verdauungssekrete kann eine Hepatitis oder Pankreatitis auslösen.
Schmerzen verleiden das Essen
Auch tumor- und therapiebedingte Schmerzen erschweren eine adäquate Nahrungsaufnahme. Eine an die individuellen Bedürfnisse adaptierte Schmerztherapie kann sich positiv auf das Essverhalten auswirken und damit direkt kachexiepräventiv sein.
Diagnostisch bedingte Ernährungsprobleme
Bereits im Vorfeld einer Operation kann es durch zahlreiche Voruntersuchungen zur Gewichtsabnahme kommen, denn mitunter muss der Patient nüchtern erscheinen, was den Ausfall einer oder mehrerer Mahlzeiten bedeuten kann. Hinzu kommen die Angst vor Befunden, allgemeine Aufregung und Störungen im gewohnten Tagesablauf und der Mahlzeitenfrequenz.
Operationsbedingte Probleme
Unmittelbar nach Operation ist ein sofortiger oraler Kostaufbau nur selten möglich. Die parenterale oder enterale Ernährung muss deshalb die orale Kost adäquat ersetzen. Größere Operationen führen per se zu einer katabolen Stoffwechsellage im Rahmen des Postaggressionsstoffwechsels, was durch Energie-, Makro- und Mikronährstoffzulagen berücksichtigt werden muss.
Bei Operationen im Gastrointestinaltrakt kann es zu massiven Problemen bei der Nahrungsaufnahme sowie der Digestion und Resorption von Nährstoffen kommen. Im Bereich des Mund- und Rachenraums können Geschmacksveränderungen, Kau- und Schluckstörungen sowie Entzündungen der Schleimhäute die Folge sein. Durch unzureichendes Kauen entstehen Blähungen. Eine Ösophagus-Resektion bereitet sowohl organische wie auch psychische Probleme. Neben Appetitlosigkeit und Empfindlichkeit gegenüber sauren und scharfen Speisen und Getränken können auch Erstickungsängste beim Schlucken die adäquate Ernährung erschweren .
Ernährung nach Magen(teil)resektion
Wird der Magen ganz oder teilweise entfernt, so geht dessen Speicherfunktion verloren. Die Folgen sind Störungen in der Appetit- und Sättigungsregulation sowie das Dumping-Syndrom. Die Symptomatik kann durch kleine häufige Mahlzeiten mit einem hohen Anteil an ballaststoffreichen Kohlenhydraten gelindert werden; gegebenenfalls muss man Pektin oder Kleie supplementieren (19).
Die Basisernährung ist die „Leichte Vollkost“, die nach der individuellen Verträglichkeit modifiziert wird. Bei Steatorrhö sollten bevorzugt mittelkettige Triglyceride (MCT) verzehrt werden. Um eine vorzeitige Sättigung durch Getränke zu verhindern, sollte nur zwischen den Mahlzeiten getrunken werden. Bei Lactoseintoleranz sollten gesäuerte Milchprodukte in kleinen Mengen bevorzugt werden. Häufig ist eine bedarfsgerechte Supplementierung von Vitamin B12, D, Folsäure, Calcium und Eisen notwendig (siehe Kasten).
Ernährungsempfehlungen bei totaler und partieller Gastrektomie
Ernährung nach Pankreas(teil)entfernung
Eine tumorbedingte Pankreasresektion hat sowohl für dessen endokrine wie auch exokrine Funktion Konsequenzen. Bleibt mehr als ein Drittel des Organs erhalten, kann der verbleibende Teil den Verlust in der Regel metabolisch voll kompensieren. Bei einem kleineren Restorgan sind vor allem die eingeschränkte Fettverdauung (mangelhafte Lipase-Sekretion) und die diabetische Stoffwechsellage durch ungenügende Insulinproduktion diätetisch zu behandeln.
Wie bei der Gastrektomie ist keine spezielle Schonkost, sondern eine adaptierte Leichte Vollkost die Basisversorgung (siehe Kasten). Kleine, häufige, fettarme und eventuell fettmodifizierte (MCT-Fette) Mahlzeiten können die Steatorrhö und die Insulinantwort verbessern helfen. Da die Lipase fehlt oder nur eingeschränkt sezerniert wird, muss dieses Enzym zum Essen eingenommen werden.
Ernährungsempfehlungen bei totaler und partieller Pankreatektomie
Ernährung nach Darmresektion
Resektionen des Dünndarms führen zum Kurzdarmsyndrom und schränken die Resorption der Nährstoffe ein. Dies ist generell nach Entfernen von mehr als 50 Prozent der Darmlänge der Fall. Bei Verlust des Jejunums kann das Ileum die Nährstoffresorption größtenteils übernehmen, nicht jedoch umgekehrt. Ein Verlust von 50 cm Ileum führt zu einem Vitamin B12-Mangel und durch unzureichende Rückresorption der Gallensäuren zur chologenen Diarrhö, bei 100 cm Resektion des Ileums kommt es zur Fettmalabsorption. Bleiben weniger als etwa 50 cm Dünndarm-Restlänge übrig, ist eine orale Ernährung nicht mehr möglich. Auch bei längerem Restdarm kann eine enterale Ergänzung der Nahrungszufuhr indiziert sein.
Nach Dickdarmresektion sind Wasser- und Elektrolyt-Rückresorption gestört; es kommt zu Verlusten an Mineralstoffen, Diarrhöen sowie Lebensmittelintoleranzen. Dies sollte in der Energie- und Nährstoffbilanz berücksichtigt und eventuell Supplemente verabreicht werden.
Enterale und parenterale Ernährung
Kann sich der Patient auf oralem Wege nicht mehr ausreichend ernähren, sollte ergänzend eine enterale Ernährung beginnen. Diese ist absolut indiziert bei Resektion oder massiven Resorptionsstörungen des proximalen Dünndarms. Sie ist der totalen parenteralen Ernährung so lange wie möglich vorzuziehen, da sie die Darmintegrität bewahrt. Eine ballaststoffreiche Sondennahrung verhindert eine Zottenatrophie sowie den Übertritt von Bakterien und Pilzen vom Darm in die Blutbahn mit der Folge einer Sepsis und erhält die Darmmotilität (29).
Die enterale Ernährung erfolgt meist durch die perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG), gelegentlich mit der Feinkatheter-Jejunostomie. Nasogastrale Sonden werden nur noch selten, zum Beispiel bei kurzfristiger Sondenernährung, eingesetzt. Die kontinuierliche Nahrungszufuhr über eine Pumpe ermöglicht eine bequeme und unauffällige Ernährung, die die Mobilität des Patienten bewahrt. Die enterale Sondennahrung ist grundsätzlich voll bilanziert, das heißt sie enthält alle essenziellen Nährstoffe in bedarfsdeckender Menge. An Nährstofflösungen kommen heute fast ausschließlich die physiologisch und Kosten günstigeren nährstoffdefinierten Nahrungen aus Polysacchariden, Polypeptiden und Trigyceriden zum Einsatz.
Sinnvoll für den Kachexie-gefährdeten Tumorpatienten sind hochkalorische (1,5 kcal/ml), fettreiche (etwa 50 Prozent Fett), mit Ballaststoffen angereicherte Präparate. Sie sind arm an Omega-6-Fettsäuren und reich an Omega-3-Fettsäuren, die antiinflammatorisch wirken und eine anabole Wirkung bei einigen Tumoren demonstrieren konnten. Eine zusätzliche Anreicherung mit den antioxidativen Vitaminen A, C, E und Betacarotin (maximal ein- bis dreifache Tagesdosis) ist auf Grund des erhöhten oxidativen Stresses sinnvoll.
Ist die Ernährung auf oralem oder enteralem Weg nicht mehr sicher gestellt, kann eine parenterale Ernährung ergänzend oder auch ausschließlich notwendig werden. Über einen zentralvenösen Port kann eine solche Ernährung vor allem in der palliativen Phase der Erkrankung das Leben verlängern und die Lebensqualität verbessern.
Eine enterale oder parenterale Zusatzernährung kann auch einen nicht zu unterschätzenden psychologischen Nutzen bieten. Besonders in der palliativen Situation haben viele Patienten Sorgen und Ängste, nicht genügend essen zu können und dadurch weiter an Kraft zu verlieren: physische und psychische Kraft im Kampf gegen den Tumor. Auch wenn kontrollierte Studien bisher nur selten signifikante Vorteile in Bezug auf Lebensdauer, Überlebensraten sowie Verminderung von chemo- oder radiotherapiebedingten Nebenwirkungen gezeigt haben (7, 26, 36), ist aus ethischen und psychologischen Gründen eine künstliche Zusatzernährung angezeigt. Wird diese rechtzeitig verabreicht, können die Patienten auch schneller in eine heimenterale oder -parenterale Situation entlassen werden.
Essprobleme diätetisch behandeln
Eine Chemo- und/oder Strahlentherapie kann viele Ernährungsstörungen auslösen. Am häufigsten sind Diarrhöen, Obstipation, Übelkeit, Appetitlosigkeit, Schluckstörungen, Mukositiden und Geschmacksveränderungen. Bei der Radiotherapie kann es, zum Teil erst nach Wochen oder Monaten, zu Spätschäden kommen. Je nachdem, welcher Bereich bestrahlt wurde, können Ulzera, Mundtrockenheit, fehlendes Geschmacksempfinden, chronische Enteritiden und viele andere Erkrankungen auftreten. Neben einer medikamentösen Therapie können diätetische Maßnahmen unterstützend die Beschwerden lindern. So empfiehlt es sich bei Inappetenz, die Mahlzeitenfrequenz zu erhöhen und nur kleine Portionen anzubieten (siehe Kasten). Eine starke mentale Fixierung auf das Essen kann den Appetit beeinflussen, weshalb Ablenkung sinnvoll sein kann. „Das Auge isst mit“: Dieser Satz hat hier besondere Gültigkeit, weshalb die Speisen und Getränke appetitlich angerichtet sein sollten.
Praxisempfehlungen bei therapiebedingter Appetitlosigkeit
Unter Chemotherapie können trotz gleichzeitig infundierter Antiemetika Übelkeit und Neigung zu Erbrechen auftreten. Auch hier sind viele kleine leichte Mahlzeiten sinnvoll (siehe Kasten). Sehr süße und fettreiche Nahrungsmittel werden oft abgelehnt. Lieblingsspeisen sollten eher gemieden werden, damit dagegen keine angelernten Aversionen entstehen. Bei häufigem Erbrechen müssen Wasser- und Elektrolytverluste ausgeglichen werden.
Praxisempfehlungen bei therapiebedingter Übelkeit und Erbrechen
Bei Schluckbeschwerden und Mukositiden im Mund-Rachenraum sollte dickflüssige, pürierte Kost bevorzugt sowie scharfe, sehr salzige und saure Speisen und Getränke gemieden werden. Wenig geeignet sind konzentrierte saure Säfte (Orangen-, Grapefruitsaft), Tomaten und saure Früchte (Orangen, Johannisbeeren). Industriell gefertigte Babynahrung, die meist säure- und kochsalzarm und zudem bereits püriert ist, kann eine Alternative oder Abwechslung bieten, sofern der Patient sie mag.
Bei therapiebedingten Diarrhöen gelten die gleichen Maßnahmen wie für infektionsbedingte Durchfälle: leichte, fett- und ballaststoffarme Kost, ergänzt durch Kräutertees (Fenchel, Kümmel), geriebenen Apfel, Banane sowie Flüssigkeits- und Elektrolytzufuhr. Bei chronischen Diarrhöen ist an eine sekundäre Lactoseintoleranz zu denken und entsprechend lactosearm bis -frei zu ernähren. Eventuelle Calciumdefizite können durch Supplemente oder kohlensäurearme, calciumreiche Mineralwässer (> 300 mg/l) ausgeglichen werden.
Im Mittelpunkt der Ernährungstherapie bei einer akuten Tumorerkrankung sollte der Patient mit seinen spezifischen Problemen stehen. Durch eine „gesteuerte Wunschkost“, die gezielt die individuellen Ernährungsstörungen berücksichtigt, können sowohl die Kachexie beeinflusst als auch die Lebensqualität des Patienten erheblich verbessert werden (27). Die wichtigsten Ziele der Ernährungstherapie zeigt dieser Kasten.
Ernährung und Rezidivrisiko
Nach abgeschlossener Primärtherapie möchten viele Patienten einen eigenen Beitrag zur Gesundung leisten. Nahe liegend ist der Wunsch, die Ernährung umzustellen. Von Ärzten bekommen Patienten nicht selten auf die Frage „Soll ich meine Ernährung umstellen?“ die Antwort: „Leben Sie so weiter wie bisher“. Diese für die Betroffenen völlig unbefriedigende Aussage mag ein Grund dafür sein, weshalb diese häufig nach so genannten „Krebsdiäten“ und bestimmten alternativen Ernährungsformen suchen. In der Tat gibt es bei kaum einer Erkrankung so viele verschiedene Diäten, Empfehlungen und Heilsversprechen wie bei Krebs.
Bisher gibt es keine Kostform, die einen Tumor heilen kann. Einige der praktizierten Ernährungsformen entsprechen jedoch den Prinzipien einer bedarfsdeckenden, mikronährstoffdichten Kost und sind deshalb unbedenklich. Prinzipiell abzulehnen sind stark unterkalorische Diäten wie Saftkuren, längere Fastendiäten und eine einseitige Lebensmittelauswahl. Sie begünstigen das Risiko für die Kachexie und führen langfristig zu Multivitamin- und Mineralstoffmangel mit einer Schwächung der Abwehr.
Wichtig für die Beratung ist es, diese Kostformen zu kennen und nicht alle Konzepte des Patienten vorschnell zu verurteilen. Tabelle 2 erleichtert die rasche Orientierung über häufige Kostformen und die Entscheidung in der Praxis (weiterführende Literatur in (35)).
Tabelle 2: Bewertung von häufigen Diäten, Fastenkuren und alternativen Ernährungsformen (A. E.) bei Tumorerkrankungen *
Autor(en)NameArtBewertung Anemueller Grunddiät-System A. E. unbedenklich Bircher-Benner Bircher-Benner-Kost A. E. unbedenklich Bruker Vollwertkost A. E. unbedenklich Buchinger Heilfasten Fastenkur strikt abzulehnen Budwig Öl-Eiweiß-Kost Krebsdiät unbedenklich Burger Instinktotherapie A. E. strikt abzulehnen Gerson Diättherapie bösartiger Erkrankungen Krebsdiät unbedenklich Hay Trennkost A. E. unbedenklich Krebs Stoffwechseltherapie Krebsdiät abzulehnen Kuhl Milchsäuretherapie Krebsdiät unbedenklich Leupold Konservative Krebstherapie Krebsdiät abzulehnen Mayr Milch-Semmel-Kur Fastenkur strikt abzulehnen Moermann Krebsdiät Krebsdiät unbedenklich Ohsawa, Kushi, Acuff Makrobiotik A. E. abzulehnen Breuß Krebskur total Krebsdiät strikt abzulehnen Reckeweg Homotoxinlehre Krebsdiät unbedenklich Schmidt Gesundheitskost Krebsdiät unbedenklich Schroth Schroth-Kur Fastenkur strikt abzulehnen Seeger Rote Bete als Heilmittel Krebsdiät abzulehnen Steiner Anthroposophische Ernährungslehre A. E. unbedenklich Waerland Waerland-Diät A. E. unbedenklich Windstosser Heilkost Krebsdiät abzulehnen Zabel Ernährung des Krebskranken Krebsdiät unbedenklich*) Alternative Ernährungsformen (A. E.) sind von ihren Autoren zur Krankheitsprävention als Dauerernährung konzipiert, werden aber von einigen Patienten gegen ihre Erkrankung als „Diät“ eingesetzt.
Inwieweit die Empfehlungen zur Primärprävention das Rezidivrisiko bei bestimmten Tumorerkrankungen senken können, wird derzeit in mehreren großen Studien untersucht. Besonders problematisch daran ist die Tatsache, dass bis zur Rezidiventstehung unter Umständen viele Jahre oder Jahrzehnte vergehen können, die dauerhafte Einhaltung günstiger Ernährungsmuster über solch einen langen Zeitraum jedoch nur schwer überprüfbar ist. Dies erklärt, neben einigen widersprüchlichen Befunden, die enttäuschenden Ergebnisse von zwei Studien an Patienten mit kolorektalen Adenomen. Unter ballaststoffreicher, fettarmer, obst- und gemüsereicher Ernährung wurde kein signifikanter Unterschied zwischen Interventions- und Kontrollgruppe bezüglich der Häufigkeit von neu aufgetretenen Adenomen gefunden (2, 31).
Eine umfangreiche Übersichtsarbeit über klinische und epidemiologische Studien, die den Einfluss verschiedener Ernährungsfaktoren auf das Rezidivrisiko und die Überlebenszeit nach Brustkrebs untersuchte, kommt zu folgenden Ergebnissen (30):
Ob eine gesunde Ernährung tatsächlich einem Brustkrebsrezidiv vorbeugen kann, lässt sich erst in einigen Jahren nach Abschluss von zwei großen Interventionsstudien sagen (10, 28). Bis dahin erscheint es sinnvoll, die zur Primärprävention von Krebserkrankungen erarbeiteten Empfehlungen auch an Erkrankte nach abgeschlossener Primärtherapie zu vermitteln. Dies ist vor allem ein wichtiger Bestandteil des Selbsthilfekonzepts von Patienten. Zur Umsetzung gehören dabei nicht nur Wissen, sondern vor allem viel Motivationsarbeit und praxisnahe Konzepte. /
Gesund essen lernen nach Krebs – aber wie? In einer kontrollierten Studie wird derzeit in der Klinik für Tumorbiologie, Freiburg, ein intensives interaktives Ernährungstrainingsprogramm als adjuvante Maßnahme bei Patientinnen mit Brustkrebs im Rahmen der Rehabilitation getestet. Das Gruppenberatungsprogramm vermittelt die Empfehlungen des WCRF und wird praxisnah in sechs Sitzungen plus zwei Lehrkücheneinheiten vermittelt. Es enthält neben Wissensteilen vor allem Übungen in Kleingruppen und spielerische Elemente wie Geschmackstests, die den Bezug zum Essen fördern und eine direkte Umsetzung schon während der Reha-Maßnahme und im Alltag erleichtern sollen.
Eine große Hilfe bieten die beiden Auffrischungsseminare drei und sechs Monate nach der Rehabilitation. Dort können sich die Teilnehmerinnen austauschen und gegenseitig unterstützen, wie man Schwierigkeiten bei der Umsetzung im Alltag, vor allem nach dem Wiedereinstieg ins Berufsleben meistern kann. Erste Ergebnisse zeigen einen signifikant höheren Obst- und Gemüseverzehr sowie eine signifikant niedrigere Fettzufuhr in der Interventionsgruppe gegenüber der Kontrollgruppe.
Literatur
Der Autor
Steffen Theobald schloss das Ökotrophologie-Studium (Haushalts- und Ernährungswissenschaften) an den Universitäten Gießen und Wien 1993 mit dem Diplom ab. In der Folge war er als Dozent, Kursleiter und freier Autor im Bereich Ernährungsberatung tätig und erfüllt seit Sommer 1999 einen Lehrauftrag im Fach „Ernährungslehre für Pharmazeuten“ an der Universität Freiburg. Nach mehrjähriger Tätigkeit bei der Deutschen Akademie für Ernährungsmedizin in Freiburg arbeitet er seit April 2000 als wissenschaftlicher Angestellter an der Klinik für Tumorbiologie in Freiburg. Sein Schwerpunkt sind die ernährungsmedizinische Patientenberatung, Vorträge und Workshops sowie die Entwicklung von Materialien für die Patientenberatung und -schulung. Er ist beteiligt an der kontrollierten Interventionsstudie „Ernährungstraining als adjuvante Maßnahme für Patientinnen nach Brustkrebs“, die derzeit an der Freiburger Klinik läuft.
Anschrift des Verfassers:
Diplom-Ökotrophologe Steffen Theobald
Klinik für Tumorbiologie
Breisacher Straße 117
79106 Freiburg
theobald@tumorbio.uni-freiburg.de
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