NPY-Rezeptoren als Zielstrukturen für neue Arzneistoffe |
12.06.2000 00:00 Uhr |
NEUROPEPTID Y
Neuropeptid Y, einer der häufigsten peptidischen Neurotransmitter im zentralen und peripheren Nervensystem, ist an vielen biologischen Wirkungen beteiligt. So beeinflusst NPY hormonelle Regelkreise, den zirkadianen Rhythmus, das Sexualverhalten, den Blutdruck und gastrointestinale Funktionen, wirkt anxiolytisch, analgetisch und antikonvulsiv, verbessert die kognitiven Fähigkeiten und ist der stärkste bekannte Stimulator der Nahrungsaufnahme. Da diese Effekte durch mindestens sechs Rezeptorsubtypen vermittelt werden, sind selektive Agonisten und Antagonisten erforderlich, um die physiologische Rolle des Peptids zu klären - eine Herausforderung für die pharmazeutisch-chemische Forschung und eine Chance zur Entwicklung neuer Arzneistoffe.
Neuropeptid Y wurde erstmals 1982 von Tatemoto aus Schweinehirn isoliert (1). Zusammen mit dem Pankreatischen Polypeptid (PP) und dem Peptid YY (PYY) gehört NPY zur Familie der Pankreatischen Polypeptide, wobei NPY wahrscheinlich das älteste und PP das jüngste dieser Peptide ist (2 - 5). Im Einbuchstabencode steht "Y" für die Aminosäure Tyrosin. Peptid YY erhielt seinen Namen auf Grund der Tyrosinreste an N- und C-Terminus, ähnlich ergab sich die Bezeichnung für das später entdeckte Neuropeptid Y.
Gemeinsames Merkmal der strukturverwandten tyrosinreichen Peptide ist eine Sequenz von 36 Aminosäuren mit einem C-terminalen Tyrosinamid. NPY verkörpert eines der am besten konservierten Peptide überhaupt. So unterscheiden sich NPY von Mensch und Schwein nur in einer einzigen Aminosäure (hNPY: Met17, pNPY: Leu17). Selbst im NPY von entwicklungsgeschichtlich so weit entfernten Spezies wie dem Rochen Torpedo marmorata, einem Vertreter der Knorpelfische, sind 33 der 36 Aminosäuren mit denen des humanen Peptids identisch (2 - 4).
Während NPY als Neurotransmitter im zentralen und im peripheren Nervensystem fungiert, haben PYY (hauptsächlich aus intestinalen endokrinen Zellen) und PP (vorwiegend aus dem Pankreas) Hormoncharakter (6 - 8). Im peripheren Nervensystem wird NPY in erster Linie in sympathischen Neuronen synthetisiert, zusammen mit Noradrenalin gespeichert und als Cotransmitter freigesetzt (6, 9, 10). Im menschlichen Gehirn werden beispielsweise in den Basalganglien, im Nucleus accumbens, der Amygdala, im Hypothalamus und im Hippocampus hohe und mittlere NPY-Spiegel gefunden (11). In der Großhirnrinde und im Vorderhirn kommt es zusammen mit Somatostatin und GABA, in anderen Hirnarealen mit Noradrenalin vor (12 - 14). Im Hypothalamus wurde seine Koexistenz mit dem ebenfalls Appetit steigernden Agouti-gene-related Protein (AGRP) nachgewiesen (15, 16).
Dreidimensionale Struktur
Modelle basieren vor allem auf der Röntgenstrukturanalyse für das pankreatische Polypeptid des Truthahns (avian pancreatic polypeptide, aPP) (17 - 19). Man geht auf Grund der Homologie davon aus, dass sich Sekundärstruktur und Faltung des aPP auf NPY übertragen lassen. Gestützt auf Molecular Modelling schlugen Allen und Mitarbeiter ein Modell vor, bei dem die N-terminale Polyprolin-Helix (Aminosäuren 1 - 8) antiparallel über einen b-Turn (Aminosäuren 9 - 14) mit einer a-Helix (Aminosäuren 15 - 32) verbunden ist. Während die beiden Helices durch hydrophobe Interaktionen eng assoziiert sind, ist der C-Terminus relativ frei beweglich (21).
Dieses als "PP-Faltung" bezeichnete haarnadelförmige Motiv scheint für die ganze Peptid-Familie charakteristisch zu sein. Dafür sprechen neben den Homologien in der Primärstruktur auch 2D-NMR-Studien (22, 23). Andere NMR-Untersuchungen deuten auf eine amphiphile a-helikale Struktur des C-Terminus (einschließlich Tyr36) und einen unstrukturierten N-terminalen Bereich (24) oder auf das Vorliegen eines Dimers in Lösung hin (25).
Neuropeptid-Y-Rezeptoren und -Wirkungen
NPY, PYY und PP interagieren mit der selben Familie von Rezeptoren. Die unterschiedlichen, teils gegensätzlichen biologischen Effekte von NPY (Tabelle 1) werden durch verschiedene Rezeptorsubtypen vermittelt (Tabelle 2). Die erste pharmakologische Differenzierung der Rezeptoren (Y1- und Y2-Subtyp) basierte darauf, dass für bestimmte Wirkungen (Y1) wie die Konstriktion der Gefäße das vollständige Peptid mit intakten Termini erforderlich ist, während für die präsynaptische Hemmung der Neurotransmitterfreisetzung (Y2) C-terminale Fragmente wie NPY3-36 oder NPY13-36 ausreichen (26, 27). Durch Austausch von Glu34 gegen Prolin ([Pro34]NPY) oder von Ile31 und Glu34 gegen Leucin und Prolin ([Leu31,Pro34]NPY) im kompletten Peptid konnte Y1-Rezeptorselektivität erzielt werden. Damit standen für Y1- und Y2-Rezeptoren selektive Agonisten zur pharmakologischen Charakterisierung zur Verfügung.
In den letzten Jahren ist die Klassifizierung jedoch wesentlich komplexer geworden. Man unterscheidet derzeit sechs NPY-Rezeptorsubtypen (Tabelle 2) (Übersicht in (28)), fünf davon sind bereits kloniert (Y1, Y2, Y4, Y5 und y6) (29 - 36). Für die Existenz eines vorläufig als Y3 bezeichneten Rezeptors gibt es bislang nur Indizien auf Grund pharmakologischer Untersuchungen.
NPY-Rezeptoren 1
Biologische Wirkungen (Beispiele) Pharmakologische Differenzierung mittels Agonisten (Aktivitätsreihen von Peptiden)
Y1 Peripherie: Vasokonstriktion,
Blutdruck á,
ZNS: Nahrungsaufnahmeá, Anxiolyse, Sedierung NPY (0,2 nM) ³ PYY (0,7 nM) >> NPY13-36
>> PP (100 nM)
selektive Agonisten: [Leu31,Pro34]NPY, [Leu31,Pro34]PYY, [Pro34]NPY, [Pro34]PYY
Y2 präsynaptische Hemmung der Neurotransmitterfreisetzung
NPY » PYY (0,7 nM) > NPY13-36 >> PP
(> 1000 nM)
selektive Agonisten: NPY3-36, PYY3-36,
NPY13-36, PYY13-36
Y3 1 präsynaptische Hemmung der Neurotransmitterfreisetzung NPY ³ [Pro34]NPY ³ NPY13-36 >> PYY, PP
Y4 (PP1) gastrointestinale und zentrale Effekte PP (0,05 nM) > oder >> NPY » PYY
Agonist: GW 1229 2
Y5 (Y1-like) ZNS: Nahrungsaufnahme á ('feeding receptor'), antikonvulsive Wirkung
NPY (0,6 nM) ³ PYY (1 nM) ³ NPY2-36
³ hPP >> rPP
y6 (Y5, Y2b, PP2)
(zentrale Effekte bei Mäusen 3)
NPY » PYY » NPY2-36 >> hPP 1) Mit Ausnahme des vorläufig als Y3 bezeichneten Rezeptors sind alle Rezeptoren kloniert; in Klammern frühere Bezeichnungen
2) in der Literatur auch als 1229U91 oder GR 23118 bezeichnet
3) wird bei Primaten nicht in funktionsfähiger Form exprimiert (Pseudogen)
Alle bislang bekannten NPY-Rezeptoren gehören zur Superfamilie der G-Protein-gekoppelten heptahelikalen Membranrezeptoren und interagieren mit Pertussistoxin-sensitiven G-Proteinen (Gi, Go) (28). In fast allen untersuchten Geweben und Zellarten sowie nach heterologer Expression der klonierten Rezeptorsubtypen wurde eine Hemmung der Adenylylzyklase gefunden (37, 38). In bestimmten Zellen führt NPY zur Freisetzung von Ca2+-Ionen aus intrazellulären Speichern (39 - 41). Daneben sind weitere Signaltransduktionswege beschrieben, so die Hemmung von Ca2+-Kanälen in Neuronen (42, 43) und die Modulation von K+-Kanälen in Kardiomyozyten (44). Zudem scheinen NPY-Rezeptoren Ca2+-Kanäle im Gefäßsystem zu stimulieren (45, 46). Auch eine Aktivierung des MAP-Kinase-Weges (47) durch Y1- und Y2-Rezeptoren wurde nachgewiesen (48, 49). An der Y1-Rezeptor-vermittelten Potenzierung der Wirkung von Vasokonstriktoren wie Noradrenalin, die über Gq/11 die Phospholipase C aktivieren, sind die Untereinheiten b und y des G-Proteins beteiligt (50, 51).
Y1-Rezeptor vermittelt Vasokonstriktion
Die Y1-mRNA wird im Gehirn (Hippocampus, Thalamus, Amygdala, Cortex), in verschiedenen peripheren Organen wie Herz, Niere, Milz und Lunge sowie in der Skelettmuskulatur exprimiert (52). In der Peripherie ist der Y1-Rezeptor hauptsächlich postsynaptisch an Blutgefäßen lokalisiert (53). Seine Aktivierung löst eine lang anhaltende Vasokonstriktion aus und verstärkt die Wirkung anderer konstriktorischer Stimuli (54). Bei Y1-Rezeptor-defizienten (Y1-Knockout) Mäusen lässt sich mit peripher appliziertem NPY kein Blutdruckanstieg auslösen (55). Bei Patienten mit hohem Blutdruck, Herzinsuffizienz, Angina pectoris und Myokardinfarkt sowie unter Stressbedingungen werden erhöhte NPY-Spiegel im Plasma gefunden (56, 57). Es ist leicht vorstellbar, dass die Vasokonstriktion durch NPY zum klinischen Bild dieser kardiovaskulären Erkrankungen beiträgt (45, 58), ein kausaler Zusammenhang ist jedoch nicht bewiesen.
Die ZNS-vermittelten Wirkungen Anxiolyse und Sedation werden offenbar ebenfalls über Y1-Rezeptoren ausgelöst (59). Dafür sprechen anxiogene Effekte, die an Ratten nach zentraler Injektion von Antisense-Oligonucleotiden gegen Y1-Rezeptor-mRNA (60) oder nach Applikation von Y1-Antagonisten (61, 62) beobachtet wurden. Außerdem scheint der Y1-Rezeptor neben anderen Subtypen die Nahrungsaufnahme zu regulieren.
Die humanen Zell-Linien SK-N-MC (Neuroblastom-Zellen) und HEL (humane Erythroleukämie-Zellen) exprimieren Y1-Rezeptoren konstitutiv und dienen als Y1-Standardmodelle.
Y2-Rezeptor-Subtyp dominiert im ZNS
Der Y2-Rezeptor gilt als der dominierende NPY-Rezeptorsubtyp im Gehirn (63, 64). Er wird vor allem im Hippocampus in hoher Dichte gefunden. Zahlreiche über ihn vermittelte Effekte beruhen auf der Hemmung der Transmitterfreisetzung. So hemmt NPY durch Angriff an präsynaptischen Y2-Rezeptoren die Freisetzung von Glutamat im ZNS (65), was etwa für die antikonvulsiven Wirkungen von NPY (66, 67) bedeutend sein könnte, oder von Noradrenalin (68) und Acetylcholin (69, 70) im peripheren Nervensystem. Die Expression von Y2-Rezeptoren wurde auch an sensorischen Neuronen nachgewiesen (71 - 74). Die analgetische Wirkung von NPY soll unter anderem auf Y2-Rezeptor-Stimulation beruhen (75).
Y2-selektive Peptide beeinflussen regional die Durchblutung durch Hemmung der Acetylcholin-Freisetzung aus parasympathischen Neuronen (76, 77). Tierexperimentell lässt sich das beispielsweise zur Abschwellung der Nasenschleimhaut nutzen (78 - 80). Diese Wirkung löst NPY jedoch auch durch eine Y1-Rezeptor-vermittelte Vasokonstriktion aus (81). Kürzlich konnte zudem durch lokale Anwendung eines Templat-gebundenen NPY21-36 beim Schwein und an Probanden gezeigt werden, dass sich Histamin-induzierte nasale Obstruktion und Bronchokonstriktion mit einem Y2-Agonisten mildern lassen (79). Daneben werden Y2-Rezeptoren auch postsynaptisch an der glatten Muskulatur, so an der Vena saphena des Hundes, sowie in Kardiomyozyten gefunden (82 - 84).
Y3-Rezeptor: Existenz noch nicht bewiesen
Aus pharmakologischen Ergebnissen wurde die Existenz eines NPY-Rezeptorsubtyps postuliert, an dem im Gegensatz zu den anderen Subtypen PYY weniger als ein Zehntel der Affinität von NPY aufweist. Er wurde im Nebennierenmark des Rindes (85), im Myokard der Ratte (86), in bovinen chromaffinen Zellen (87) und im Nucleus tractus solitarius (NTS) der Ratte lokalisiert. Die Injektion von NPY in den NTS hemmt den Barorezeptorreflex, moduliert Glutamateffekte und führt zu Hypotonie und Bradykardie (88, 89). Neuronen des NTS haben eine höhere Sensitivität gegenüber NPY als gegenüber PYY (90, 91).
Da die derzeitigen Belege jedoch noch nicht zur Definition eines neuen Rezeptorsubtyps ausreichen, hat das IUPHAR-Nomenklaturkomitee vorgeschlagen, bei mindestens zehnfacher Affinität von NPY gegenüber PYY von "mutmaßlichen" ("putativen") Y3-Rezeptoren zu sprechen (28).
Y4-Rezeptor an Magen-Darm-Funktionen beteiligt
Typischerweise besitzt das Pankreatische Polypeptid (PP) an NPY-Rezeptoren eine niedrigere Affinität als NPY und PYY. Der Y4-Rezeptor wurde dagegen ursprünglich als PP1-Rezeptor bezeichnet (32), weil hier das PP der gleichen Spezies eine sehr hohe Affinität mit Ki-Werten < 100 pM besitzt. Das PP einer anderen Spezies kann dagegen 50- bis 100fach weniger affin sein (28), wie zum Beispiel Truthahn-PP (92) und Ratten-PP (93) am humanen Y4-Rezeptor. PP ist vermutlich der primäre endogene Y4-Ligand (28).
Y4-Rezeptoren scheinen vor allem gastrointestinale Funktionen zu beeinflussen (94 - 96). Die mRNA des humanen Y4-Rezeptors wurde im Kolon, im Dünndarm, im Pankreas und in der Prostata, aber auch - in geringerem Ausmaß - in verschiedenen Regionen des ZNS detektiert (32). Nach neuen Untersuchungen mit der Substanz GW 1229, einem kombinierten Y1-Antagonisten/Y4-Agonisten, wird die durch NPY induzierte Stimulation der Gonadotropin-Freisetzung über Y4-Rezeptoren vermittelt (97).
Y5-Rezeptor: wichtig für den Appetit?
Die Y5-mRNA wurde bei der Ratte vor allem im Gehirn nachgewiesen, insbesondere in Arealen, die für die Appetitregulation und die Modulation Krampf auslösender Stimuli wichtig sind (35, 98 - 100). In der Peripherie konnte, mit Ausnahme eines schwachen Signals im Hoden, keine mRNA detektiert werden.
Die für den Y5-Rezeptorsubtyp charakteristische Aktivitätsreihenfolge der Peptide (Tabelle 2) (28, 98, 101) wurde auch für die NPY-Rezeptor-vermittelte Steigerung der Nahrungsaufnahme beobachtet (35). Der Y5-Rezeptor scheint mit dem früher als "Y1-like"-, "food-intake"- oder "feeding"-Rezeptor bezeichneten Subtyp identisch zu sein (28). Daneben sind "Y5-ähnliche" Rezeptoren auch an anderen Effekten beteiligt (102). Dazu zählen die antiepileptische Aktivität des NPY (67, 103), die Verminderung von Morphin-Entzugssymptomen (104) und möglicherweise die Hemmung der Freisetzung des luteinisierenden Hormons (LH) (105).
Da zahlreiche Untersuchungen über physiologische NPY-Wirkungen aus einer Zeit stammen, als nur zwei Rezeptorsubtypen unterscheidbar waren, müssen auf Grund der heutigen Kenntnisse frühere Zuordnungen überprüft werden. Für die NPY-induzierte Steigerung der Diurese und Natriurese (106, 107) sowie die Erniedrigung des Glucose-Spiegels wird neuerdings die Beteiligung von Y5-Rezeptoren diskutiert (102, 108).
y6-Rezeptor: beim Menschen nicht funktionsfähig
Dieser Subtyp wurde zunächst als Y5-, Y2B- oder PP2-Rezeptor bezeichnet (109 - 111). Nur bei der Maus und beim Kaninchen wurde bisher ein funktionsfähiges Rezeptorprotein nachgewiesen. Dagegen handelt es sich beim y6-Gen des Menschen um ein "Pseudogen". Eine Basenpaardeletion führt hier zu einem vorzeitigen Stopcodon. Dadurch entsteht ein ab der sechsten transmembranären Domäne verkürztes, nicht funktionsfähiges Rezeptorprotein aus nur 290 Aminosäuren (110, 111). Auf Vorschlag des IUPHAR-Nomenklaturkomitees wird daher die Bezeichnung y6-Rezeptor (mit kleingeschriebenem "y") verwendet.
Selektive Rezeptorliganden als potenzielle Arzneistoffe
Als "pharmakologische Werkzeuge" zur Klärung der physiologischen und pathophysiologischen Rolle von NPY sowie als potenzielle Arzneistoffe (112 - 115) werden - nicht zuletzt aus pharmakokinetischen Gründen und im Hinblick auf die zahlreichen ZNS-vermittelten Effekte - vor allem nicht-peptidische Liganden benötigt. Ein breites Spektrum von Indikationen ist vorstellbar (Tabelle 3). Zentral wirksame Y1- und Y5-Antagonisten könnten gegen Übergewicht und Fettleibigkeit wirken. Dagegen ist das Interesse an peripher wirksamen Y1-Antagonisten, die wegen ihrer kardiovaskulären Wirkung als Antihypertensiva dienen könnten, etwas in den Hintergrund getreten.
Tabelle 3:Mögliche therapeutische AnwendungMögliche Indikation
NPY-Ligand
Antagonisten
Hypertension
Herzinsuffizienz
Adipositas
Y1, peripher
Y1/Y3, peripher
Y5 und/oder Y1, zentral
Agonisten
Schwere sekretorische Diarrhoe
Anxiolyse, Sedation
Analgesie
Epilepsie
Kognitive Dysfunktion (Morbus Alzheimer)
Y1/Y2, peripher
Y1, zentral
Y2, zentral
Y2 oder Y5, zentral
Y2, zentral
Außerhalb des Arzneimittelsektors wird die Blockade von NPY-Rezeptoren der Adipozyten als eines der Wirkprinzipien eines Mittels gegen Cellulite propagiert (Lipofactor®) (116). NPY hemmt die Lipolyse und steigert die Aktivität der Lipoproteinlipase, so dass die Fettspeicherung zunimmt.
Für viele potenzielle Einsatzgebiete sind keine Antagonisten, sondern Agonisten erforderlich. So könnte bei schweren Diarrhoen die Hemmung der cAMP-Kaskade durch Y1- und/oder Y2-Agonisten genutzt werden (117). Deren lokale Anwendung zur Abschwellung der Nasenschleimhaut wäre eine denkbare Alternative zu a-Adrenozeptoragonisten. Vermutlich liegen jedoch die interessantesten Angriffspunkte im ZNS. Durch Stimulation von Y1-Rezeptoren ließe sich ein anxiolytischer und sedativer Effekt auslösen (59, 60, 118). Y2- und/oder Y5-Agonisten könnten neue antiepileptische Wirkprinzipien darstellen (103). In Studien an alkoholsüchtigen und NPY-defizienten Ratten fand man, dass der Alkoholkonsum umgekehrt mit dem NPY-Spiegel im Gehirn korreliert (119). Tiere mit normaler NPY-Expression zeigten eine geringere Präferenz für Alkohol und reagierten sensibler auf dessen sedative/hypnotische Eigenschaften.
Die Entwicklung breit einsetzbarer, zentral wirksamer und selektiver NPY-Rezeptoragonisten ist schwierig. Zum einen sind die strukturellen Anforderungen an einen Agonisten ohnehin strenger als an einen Antagonisten, da eine solche Substanz nicht nur an den Rezeptor binden, sondern wie der natürliche Agonist eine Konformationsänderung auslösen muss, die die Signaltransduktionskaskade aktiviert. Des weiteren sollten solche Agonisten keine Peptide und peroral applizierbar sein sowie die Blut-Hirn-Schranke überwinden. Es gilt also, das 36 Aminosäuren lange NPY durch ein möglichst kleines, ZNS-gängiges, Rezeptor-selektives und agonistisches Nichtpeptid zu ersetzen.
NPY-Agonisten
Bei den bislang aus der Literatur bekannten Agonisten handelt es sich ausschließlich um Peptide. Der systematische Austausch gegen Alanin ("Alanin-Scan") hat gezeigt, welche der 36 Aminosäuren für die Wechselwirkung mit den einzelnen Subtypen besonders wichtig sind (120), und hat zusammen mit der Untersuchung von NPY-Analoga und -Fragmenten an nativen Rezeptoren und an NPY-Rezeptormutanten zu Modellvorstellungen für die Ligand-Rezeptor-Interaktion geführt (74, 121 - 123).
Zur pharmakologischen Klassifizierung der Subtypen werden neben NPY, PYY und PP auch die in Tabelle 2 angegebenen peptidischen Analoga und Fragmente herangezogen. Die Y1-Selektivität zentral verkürzter NPY-Derivate, bei denen zum Beispiel die Reste 8 bis 20 durch eine 6-Aminohexansäure-Brücke ersetzt wurden, stützen die Hypothese, dass für die Interaktion mit dem Y1-Rezeptor N- und C-Terminus des NPY erforderlich sind. Kurze und lange C-terminale NPY-Fragmente werden als Y2-Agonisten verwendet. NPY3-36 bindet auch an Y5-Rezeptoren und stimuliert ebenso wie NPY2-36 im Tierversuch die Nahrungsaufnahme. Die Verschiebung des Bindungsprofils durch Abspaltung N-terminaler Aminosäuren könnte auch in vivo eine Rolle spielen, da NPY3-36 (124) relativ rasch aus NPY durch Metabolisierung mittels Aminodipeptidylpeptidase IV (auch bekannt als CD26) entsteht (125, 126).
Einige zyklische Peptide zeigten selektive Y2-agonistische Wirkung, so das Dodecapeptid [e-Lys28-g-Glu32]NPY25-36 als kürzestes bekanntes Peptid mit voller intrinsischer Aktivität (122, 127, 128). Für die Interaktion mit dem mutmaßlichen Y3-Rezeptor scheinen auch die Aminosäuren im Bereich des b-Turns wichtig zu sein (90). Das vom C-Terminus des NPY abgeleitete zyklische Peptid GW1229 (129), ein starker Y1-Antagonist, wirkt am Y4-Rezeptor agonistisch (130). [D-Trp32]NPY ist zwar Y5-selektiv, jedoch nur schwach wirksam (131).
Y1-Rezeptorantagonisten können Blutdruckanstieg hemmen
Erste nicht-peptidische Y1-Rezeptorantagonisten mit vergleichsweise schwacher und wenig spezifischer Wirkung wurden 1990 publiziert, darunter BU-E-76 (He 90481 (132), ein hoch aktiver Histamin-H2-Rezeptoragonist der Arpromidinreihe (133), und Benextramin, ein unselektiver a-Adrenozeptorenblocker (134, 135).
Als erster starker und Y1-selektiver NPY-Antagonist mit Y1-Rezeptoraffinität im nanomolaren Bereich wurde das D-Argininderivat BIBP 3226 (136 - 141) beschrieben, das Strukturanalogien zum C-terminalen Dipeptid von NPY (Arg35-Tyr36-amid) aufweist. Das Enantiomer mit natürlicher Argininkonfiguration ist wirkungslos (136). Mit Hilfe von BIBP 3226 gelang der Nachweis Y1-Rezeptor-vermittelter Wirkungen in zahlreichen Geweben (140). Interessanterweise beeinflusst BIBP 3226 den basalen Blutdruck kaum, hemmt aber den durch exogenes NPY, Sympathikusstimulation oder Stress induzierten Blutdruckanstieg (140, 141). Berichte über den Einfluss der zentral applizierten Substanz auf die NPY-stimulierte Nahrungsaufnahme sind widersprüchlich (142, 143). Die Analogsubstanz BIBO 3304 besitzt noch etwas höhere Y1-Rezeptoraffinität und wirkt im Tierversuch anorektisch (144). Auch andere D-Argininderivate sind stark und Y1-selektiv wirksam (138, 145, 146). Bei bestimmten Substitutionsmustern kann sich jedoch die Selektivität zugunsten des Y5-Rezeptors verschieben (146).
Die Wirkstofffindung und -entwicklung unter Einsatz des Rezeptor-Modellings wird dadurch erschwert, dass wahrscheinlich die flexiblen extrazellulären Schleifenregionen des Rezeptorproteins wesentlich an der Ligandbindung beteiligt sind (139, 147). Die Ansätze des rationalen Wirkstoffdesigns orientieren sich daher häufig an der vom aPP abgeleiteten mutmaßlichen 3D-Struktur des natürlichen Agonisten, wobei besonderes Augenmerk auf die Aminosäuren Arginin-33 und Arginin-35 gelegt wird, denen eine Schlüsselfunktion zukommt. Beispielsweise wurden, ausgehend von Substanzen wie BU-E-76 (148), auf der Basis eines entsprechenden Pharmakophormodells (149, 150) Y1-Antagonisten hergestellt, die im Bauplan gewisse Analogien zu BIBP 3226 aufweisen, darunter auch Guanidin-freie Verbindungen (151). Sofern die Substanzen zwei basische Zentren besitzen, wobei sich ein Abstand von 7 bis 8 Å als optimal erwiesen hat (152), könnten die Guanidingruppen der Arginine 33 und 35 des NPY imitiert werden.
In diese Modellvorstellung passen auch andere Y1-Antagonisten wie das Benzamidinderivat SR 120819A (153), das in seiner Struktur an Thrombininhibitoren wie NAPAP erinnert. Die Substanz ist ein starker Y1-selektiver NPY-Antagonist und im Gegensatz zu den Argininderivaten oral wirksam. Basisch substituierte Indole (154) (Beispiel LY 357897, Formel 6, Ki 0,75 nM) und Benzimidazole (155, 156) erreichen teilweise Affinitäten im subnanomolaren Bereich und sind die derzeit stärksten nicht-peptidischen Y1-Antagonisten (156). Weitere potente Y1-Antagonisten wurden in Reihen von Chinolinen (157), Phenylpiperazinen (158), Benzodiazepinen (159), Benzazepinen (160), Bis(dihydrotriazinen) (161) und Benzothiophenen (162) gefunden.
Antagonisten an anderen NPY-Rezeptorsubtypen
Selektive Y2-Antagonisten sind bislang nicht allgemein zugänglich. Derzeit ruhen die Hoffnungen auf einer Substanz mit dem Laborcode BIIE 0246, die erst kürzlich als hoch aktiv vorgestellt wurde (163, 164).
Während für Y3- und Y4-Rezeptoren bislang keine selektiven Antagonisten zur Verfügung stehen, finden sich in der Literatur seit der ersten Beschreibung der Y5-Rezeptoren im Jahre 1996 (165) in zunehmendem Maß Substanzen mit Y5-antagonistischer Aktivität. Die Strukturen sind sehr unterschiedlich. Während die ersten publizierten Verbindungen im µM-Bereich wirken (165, 166), erreichen das Y5-selektive Aminochinazolin CGP 71683A (167, 168) und strukturverwandte Sulfonamide mit zentralem Cyclohexylen-Spacer (169) nanomolare Affinität. CGP 71683A ist der bislang am besten untersuchte Y5-Antagonist. Im Tierversuch wurde eine Hemmung der Futteraufnahme gezeigt (168). In der Patentliteratur sind ferner heterocyclische Ketone (170), Stickstoff-freie Verbindungen (171) sowie Aminopyrazole und Aminopyridine (172, 173) beschrieben.
Zentrale Rolle bei der Regulation der Nahrungsaufnahme
Herausragend unter den Wirkungen von Neuropeptid Y ist die enorme Steigerung des Appetits, insbesondere der Kohlenhydrataufnahme, die selbst bei satten Tieren durch Injektion von NPY in den Hypothalamus oder durch intracerebroventrikuläre Applikation ausgelöst wird (175 - 177). Zudem hemmt NPY die Thermogenese im braunen und steigert die Fettspeicherung im weißen Fettgewebe. Chronische NPY-Applikation führt bei Versuchstieren zu Übergewicht und Fettleibigkeit.
NPY wird in allen Hirnregionen synthetisiert, kommt jedoch in hoher Konzentration besonders im Hypothalamus, dem Zentrum für die Regulation der Nahrungsaufnahme, vor. Fastende Tiere haben ebenso wie fettleibige, Leptin-defiziente ob/ob-Mäuse erhöhte NPY-Spiegel im Hypothalamus (178). Die NPY-Spiegel im Plasma liegen bei adipösen Patienten über dem Normalbereich (179). Die regional hohe NPY-Konzentration scheint zu einer Down-Regulation von Y5-Rezeptoren zu führen (180, 181). Sollte sich die Hoffnung bestätigen, dass NPY eine Schlüsselsubstanz in der hypothalamischen Regulation der Energie-Homöostase und des Körpergewichts von Vertebraten ist, könnte man NPY-Antagonisten als neue Arzneistoffe gegen Fettleibigkeit entwickeln (Übersicht in 113).
Die zentrale Regulation der Nahrungsaufnahme ist durch ein hohes Ausmaß an Redundanz gekennzeichnet (182) und die Beteiligung von NPY und NPY-Rezeptoren außerordentlich komplex. Auch wenn NPY unter physiologischen Bedingungen eine zentrale Rolle spielt, ist bei der Vielzahl der beteiligten Neurotransmitter leicht vorstellbar, dass mit Ausfall eines Stimulationsweges kompensatorisch verstärkt alternative Signalwege aktiviert werden. Da NPY in Neuronen des Hypothalamus beispielsweise zusammen mit Agouti-related Protein (AGRP) vorkommt (15), ist dieser Appetit steigernde endogene Melanocortin-MC4-Rezeptorantagonist einer von vielen denkbaren Kandidaten, die den Verlust des Neurotransmitters auffangen könnten (183).
Die Expression von NPY wird durch Insulin und das Fettgewebshormon Leptin gehemmt (184, 185). Beide Hormone verstärken das Sättigungssignal von peripherem Cholecystokinin. Die NPY-Spiegel werden durch Leptin sowohl direkt als auch über die Zunahme der Konzentration anderer Neuropeptide wie CART, Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH), Melanocortin oder GLP-1 reduziert (186). Möglicherweise spielt NPY bei der Entwicklung einer Resistenz gegen Insulin und Leptin eine Rolle (187) und wirkt dabei mit Glucocorticoiden zusammen (188 - 191). Daneben gibt es Hinweise auf eine Beteiligung an Ess-Störungen wie Bulimie und Anorexia nervosa (192 - 195).
Welche NPY-Rezeptoren sind beteiligt ?
Zunächst nahm man wegen der etwas von der Y1-typischen Reihenfolge abweichenden Aktivität peptidischer Agonisten an, ein Y1-ähnlicher ("Y1-like") Rezeptor ("atypischer" Y1-Rezeptor) sei für die Appetit steigernde Wirkung von NPY verantwortlich (196). So besitzt NPY2-36 zwar eine wesentlich niedrigere Y1-Affinität, stimuliert aber die Nahrungsaufnahme stärker als NPY selbst. Später wurde eine hohe Affinität dieses Peptids am Y5-Rezeptor (35) nachgewiesen. Auch die Y1-Aktivität der verschiedenen anderen NPY-Analoga und -Fragmente stimmte im wesentlichen mit der Appetit steigernden Wirkung überein (197), der postulierte Feeding-Rezeptor schien identifiziert.
Studien mit zentral applizierten Antisense-Oligonukleotiden gegen Y1- oder Y5-Rezeptor-mRNA brachten unterschiedliche Ergebnisse (198 - 201). Mit selektiven Y5-Antagonisten ließ sich die Nahrungsaufnahme nach NPY-Gabe bei zuvor fastenden normalgewichtigen Ratten und bei genetisch bedingt fettleibigen Tieren (obese Zucker-Ratten, ob/ob-Mäuse) hemmen. Aber auch Y1-Antagonisten hemmen die Nahrungsaufnahme von Nagern (144, 202 - 204). Diese Befunde sprechen für eine Beteiligung von Y1- und Y5- Rezeptoren.
Untersuchungen an Knockout-Mäusen, deren Gen für NPY (205), für den Y1- (55) oder den Y5-Rezeptor (206, 207) ausgeschaltet worden war, haben dagegen die Bedeutung von NPY als Schlüsselsubstanz in der Regulation der Nahrungsaufnahme in Frage gestellt. Weder NPY- noch Y1- oder Y5-Rezeptor-defiziente Tiere verlieren an Körpergewicht. Paradoxerweise nahmen Y1- und Y5-Knockout-Mäuse mit zunehmendem Alter sogar an Gewicht und Körperfett im Vergleich zum Wildtyp zu (55, 206).
Die Vielzahl der beteiligten Neurotransmitter und Rezeptoren eröffnet letztlich ausreichend Möglichkeiten, dem durch Gen-Knockout angelegten Selektionsdruck auszuweichen. Wahrscheinlich beschränkt sich auch der Effekt von NPY nicht auf die Subtypen Y1 und Y5 und auf die Steigerung des Appetits (208). So wurde kürzlich der Y2-Rezeptor als eine physiologische inhibitorische Komponente in der zentralen Regulation der Nahrungsaufnahme und des Körpergewichts beschrieben (209, 210).
Noch ist viel Forschung nötig
Noch ist nicht absehbar, ob die Hoffnungen auf Y5- und/oder Y1-Rezeptorantagonisten zur Adipositas-Behandlung berechtigt sind. Das potenzielle Indikationsspektrum von NPY-Rezeptorliganden reicht jedoch weit über dieses Gebiet hinaus.
Zu den speziellen Problemen bei der Wirkstoff-Findung kommen Schwierigkeiten bei der therapeutischen Anwendung wegen der Beteiligung der NPY-Rezeptoren an zahlreichen zentralen und peripheren Effekten. So könnte die ausgeprägte Y1-Rezeptor-vermittelte Blutdrucksteigerung den Einsatz zentral wirkender Agonisten einschränken, es sei denn, es würden Substanzen mit entsprechender Verteilung zugunsten des ZNS gefunden. Da Y2- und Y5-Rezeptoren für die antikonvulsiven Eigenschaften von NPY, Y1-Rezeptoren dagegen für dessen anxiolytische Wirkung verantwortlich gemacht werden, ist zu klären, ob die Blockade dieser Rezeptoren die Krampfbereitschaft erhöht oder anxiogen wirkt. Auch mit der Beeinflussung der Hormonsekretion (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse) ist zu rechnen.
18 Jahre nach der Entdeckung von Neuropeptid Y durch Tatemoto ist das Wissen auf diesem Gebiet erheblich gewachsen, aber man ist noch weit davon entfernt, seine physiologische und pathophysiologische Rolle vollends zu verstehen. Gerade die Charakterisierung der verschiedenen NPY-Rezeptorsubtypen bietet neue, interessante Herausforderungen für die pharmazeutisch-chemische Forschung und eröffnet gleichzeitig die Chance zur Entwicklung neuer Arzneistoffe.
Literatur bei den Verfassern.
Ausgewählte Übersichtsarbeiten:
Für die Verfasser
Professor Dr. Armin Buschauer
Institut für Pharmazie
Universität Regensburg
93040 Regensburg
E-Mail: armin.buschauer@chemie.uni-regensburg.de
von Armin Buschauer, Günther Bernhardt und Stefan Dove, Regensburg
Neuropeptid Y, einer der häufigsten peptidischen Neurotransmitter im zentralen und peripheren Nervensystem, ist an vielen biologischen Wirkungen beteiligt. So beeinflusst NPY hormonelle Regelkreise, den zirkadianen Rhythmus, das Sexualverhalten, den Blutdruck und gastrointestinale Funktionen, wirkt anxiolytisch, analgetisch und antikonvulsiv, verbessert die kognitiven Fähigkeiten und ist der stärkste bekannte Stimulator der Nahrungsaufnahme. Da diese Effekte durch mindestens sechs Rezeptorsubtypen vermittelt werden, sind selektive Agonisten und Antagonisten erforderlich, um die physiologische Rolle des Peptids zu klären - eine Herausforderung für die pharmazeutisch-chemische Forschung und eine Chance zur Entwicklung neuer Arzneistoffe.
Neuropeptid Y wurde erstmals 1982 von Tatemoto aus Schweinehirn isoliert (1). Zusammen mit dem Pankreatischen Polypeptid (PP) und dem Peptid YY (PYY) gehört NPY zur Familie der Pankreatischen Polypeptide, wobei NPY wahrscheinlich das älteste und PP das jüngste dieser Peptide ist (2 - 5). Im Einbuchstabencode steht "Y" für die Aminosäure Tyrosin. Peptid YY erhielt seinen Namen auf Grund der Tyrosinreste an N- und C-Terminus, ähnlich ergab sich die Bezeichnung für das später entdeckte Neuropeptid Y.
Gemeinsames Merkmal der strukturverwandten tyrosinreichen Peptide ist eine Sequenz von 36 Aminosäuren mit einem C-terminalen Tyrosinamid. NPY verkörpert eines der am besten konservierten Peptide überhaupt. So unterscheiden sich NPY von Mensch und Schwein nur in einer einzigen Aminosäure (hNPY: Met17, pNPY: Leu17). Selbst im NPY von entwicklungsgeschichtlich so weit entfernten Spezies wie dem Rochen Torpedo marmorata, einem Vertreter der Knorpelfische, sind 33 der 36 Aminosäuren mit denen des humanen Peptids identisch (2 - 4).
Während NPY als Neurotransmitter im zentralen und im peripheren Nervensystem fungiert, haben PYY (hauptsächlich aus intestinalen endokrinen Zellen) und PP (vorwiegend aus dem Pankreas) Hormoncharakter (6 - 8). Im peripheren Nervensystem wird NPY in erster Linie in sympathischen Neuronen synthetisiert, zusammen mit Noradrenalin gespeichert und als Cotransmitter freigesetzt (6, 9, 10). Im menschlichen Gehirn werden beispielsweise in den Basalganglien, im Nucleus accumbens, der Amygdala, im Hypothalamus und im Hippocampus hohe und mittlere NPY-Spiegel gefunden (11). In der Großhirnrinde und im Vorderhirn kommt es zusammen mit Somatostatin und GABA, in anderen Hirnarealen mit Noradrenalin vor (12 - 14). Im Hypothalamus wurde seine Koexistenz mit dem ebenfalls Appetit steigernden Agouti-gene-related Protein (AGRP) nachgewiesen (15, 16).
Dreidimensionale Struktur
Modelle basieren vor allem auf der Röntgenstrukturanalyse für das pankreatische Polypeptid des Truthahns (avian pancreatic polypeptide, aPP) (17 - 19). Man geht auf Grund der Homologie davon aus, dass sich Sekundärstruktur und Faltung des aPP auf NPY übertragen lassen. Gestützt auf Molecular Modelling schlugen Allen und Mitarbeiter ein Modell vor, bei dem die N-terminale Polyprolin-Helix (Aminosäuren 1 - 8) antiparallel über einen b-Turn (Aminosäuren 9 - 14) mit einer a-Helix (Aminosäuren 15 - 32) verbunden ist. Während die beiden Helices durch hydrophobe Interaktionen eng assoziiert sind, ist der C-Terminus relativ frei beweglich (21).
Dieses als "PP-Faltung" bezeichnete haarnadelförmige Motiv scheint für die ganze Peptid-Familie charakteristisch zu sein. Dafür sprechen neben den Homologien in der Primärstruktur auch 2D-NMR-Studien (22, 23). Andere NMR-Untersuchungen deuten auf eine amphiphile a-helikale Struktur des C-Terminus (einschließlich Tyr36) und einen unstrukturierten N-terminalen Bereich (24) oder auf das Vorliegen eines Dimers in Lösung hin (25).
Neuropeptid-Y-Rezeptoren und -Wirkungen
NPY, PYY und PP interagieren mit der selben Familie von Rezeptoren. Die unterschiedlichen, teils gegensätzlichen biologischen Effekte von NPY (Tabelle 1) werden durch verschiedene Rezeptorsubtypen vermittelt (Tabelle 2). Die erste pharmakologische Differenzierung der Rezeptoren (Y1- und Y2-Subtyp) basierte darauf, dass für bestimmte Wirkungen (Y1) wie die Konstriktion der Gefäße das vollständige Peptid mit intakten Termini erforderlich ist, während für die präsynaptische Hemmung der Neurotransmitterfreisetzung (Y2) C-terminale Fragmente wie NPY3-36 oder NPY13-36 ausreichen (26, 27). Durch Austausch von Glu34 gegen Prolin ([Pro34]NPY) oder von Ile31 und Glu34 gegen Leucin und Prolin ([Leu31,Pro34]NPY) im kompletten Peptid konnte Y1-Rezeptorselektivität erzielt werden. Damit standen für Y1- und Y2-Rezeptoren selektive Agonisten zur pharmakologischen Charakterisierung zur Verfügung.
In den letzten Jahren ist die Klassifizierung jedoch wesentlich komplexer geworden. Man unterscheidet derzeit sechs NPY-Rezeptorsubtypen (Tabelle 2) (Übersicht in (28)), fünf davon sind bereits kloniert (Y1, Y2, Y4, Y5 und y6) (29 - 36). Für die Existenz eines vorläufig als Y3 bezeichneten Rezeptors gibt es bislang nur Indizien auf Grund pharmakologischer Untersuchungen.
NPY-Rezeptoren 1
Biologische Wirkungen (Beispiele) Pharmakologische Differenzierung mittels Agonisten (Aktivitätsreihen von Peptiden)
Y1 Peripherie: Vasokonstriktion,
Blutdruck á,
ZNS: Nahrungsaufnahmeá, Anxiolyse, Sedierung NPY (0,2 nM) ³ PYY (0,7 nM) >> NPY13-36
>> PP (100 nM)
selektive Agonisten: [Leu31,Pro34]NPY, [Leu31,Pro34]PYY, [Pro34]NPY, [Pro34]PYY
Y2 präsynaptische Hemmung der Neurotransmitterfreisetzung
NPY » PYY (0,7 nM) > NPY13-36 >> PP
(> 1000 nM)
selektive Agonisten: NPY3-36, PYY3-36,
NPY13-36, PYY13-36
Y3 1 präsynaptische Hemmung der Neurotransmitterfreisetzung NPY ³ [Pro34]NPY ³ NPY13-36 >> PYY, PP
Y4 (PP1) gastrointestinale und zentrale Effekte PP (0,05 nM) > oder >> NPY » PYY
Agonist: GW 1229 2
Y5 (Y1-like) ZNS: Nahrungsaufnahme á ('feeding receptor'), antikonvulsive Wirkung
NPY (0,6 nM) ³ PYY (1 nM) ³ NPY2-36
³ hPP >> rPP
y6 (Y5, Y2b, PP2)
(zentrale Effekte bei Mäusen 3)
NPY » PYY » NPY2-36 >> hPP 1) Mit Ausnahme des vorläufig als Y3 bezeichneten Rezeptors sind alle Rezeptoren kloniert; in Klammern frühere Bezeichnungen
2) in der Literatur auch als 1229U91 oder GR 23118 bezeichnet
3) wird bei Primaten nicht in funktionsfähiger Form exprimiert (Pseudogen)
Alle bislang bekannten NPY-Rezeptoren gehören zur Superfamilie der G-Protein-gekoppelten heptahelikalen Membranrezeptoren und interagieren mit Pertussistoxin-sensitiven G-Proteinen (Gi, Go) (28). In fast allen untersuchten Geweben und Zellarten sowie nach heterologer Expression der klonierten Rezeptorsubtypen wurde eine Hemmung der Adenylylzyklase gefunden (37, 38). In bestimmten Zellen führt NPY zur Freisetzung von Ca2+-Ionen aus intrazellulären Speichern (39 - 41). Daneben sind weitere Signaltransduktionswege beschrieben, so die Hemmung von Ca2+-Kanälen in Neuronen (42, 43) und die Modulation von K+-Kanälen in Kardiomyozyten (44). Zudem scheinen NPY-Rezeptoren Ca2+-Kanäle im Gefäßsystem zu stimulieren (45, 46). Auch eine Aktivierung des MAP-Kinase-Weges (47) durch Y1- und Y2-Rezeptoren wurde nachgewiesen (48, 49). An der Y1-Rezeptor-vermittelten Potenzierung der Wirkung von Vasokonstriktoren wie Noradrenalin, die über Gq/11 die Phospholipase C aktivieren, sind die Untereinheiten b und y des G-Proteins beteiligt (50, 51).
Y1-Rezeptor vermittelt Vasokonstriktion
Die Y1-mRNA wird im Gehirn (Hippocampus, Thalamus, Amygdala, Cortex), in verschiedenen peripheren Organen wie Herz, Niere, Milz und Lunge sowie in der Skelettmuskulatur exprimiert (52). In der Peripherie ist der Y1-Rezeptor hauptsächlich postsynaptisch an Blutgefäßen lokalisiert (53). Seine Aktivierung löst eine lang anhaltende Vasokonstriktion aus und verstärkt die Wirkung anderer konstriktorischer Stimuli (54). Bei Y1-Rezeptor-defizienten (Y1-Knockout) Mäusen lässt sich mit peripher appliziertem NPY kein Blutdruckanstieg auslösen (55). Bei Patienten mit hohem Blutdruck, Herzinsuffizienz, Angina pectoris und Myokardinfarkt sowie unter Stressbedingungen werden erhöhte NPY-Spiegel im Plasma gefunden (56, 57). Es ist leicht vorstellbar, dass die Vasokonstriktion durch NPY zum klinischen Bild dieser kardiovaskulären Erkrankungen beiträgt (45, 58), ein kausaler Zusammenhang ist jedoch nicht bewiesen.
Die ZNS-vermittelten Wirkungen Anxiolyse und Sedation werden offenbar ebenfalls über Y1-Rezeptoren ausgelöst (59). Dafür sprechen anxiogene Effekte, die an Ratten nach zentraler Injektion von Antisense-Oligonucleotiden gegen Y1-Rezeptor-mRNA (60) oder nach Applikation von Y1-Antagonisten (61, 62) beobachtet wurden. Außerdem scheint der Y1-Rezeptor neben anderen Subtypen die Nahrungsaufnahme zu regulieren.
Die humanen Zell-Linien SK-N-MC (Neuroblastom-Zellen) und HEL (humane Erythroleukämie-Zellen) exprimieren Y1-Rezeptoren konstitutiv und dienen als Y1-Standardmodelle.
Y2-Rezeptor-Subtyp dominiert im ZNS
Der Y2-Rezeptor gilt als der dominierende NPY-Rezeptorsubtyp im Gehirn (63, 64). Er wird vor allem im Hippocampus in hoher Dichte gefunden. Zahlreiche über ihn vermittelte Effekte beruhen auf der Hemmung der Transmitterfreisetzung. So hemmt NPY durch Angriff an präsynaptischen Y2-Rezeptoren die Freisetzung von Glutamat im ZNS (65), was etwa für die antikonvulsiven Wirkungen von NPY (66, 67) bedeutend sein könnte, oder von Noradrenalin (68) und Acetylcholin (69, 70) im peripheren Nervensystem. Die Expression von Y2-Rezeptoren wurde auch an sensorischen Neuronen nachgewiesen (71 - 74). Die analgetische Wirkung von NPY soll unter anderem auf Y2-Rezeptor-Stimulation beruhen (75).
Y2-selektive Peptide beeinflussen regional die Durchblutung durch Hemmung der Acetylcholin-Freisetzung aus parasympathischen Neuronen (76, 77). Tierexperimentell lässt sich das beispielsweise zur Abschwellung der Nasenschleimhaut nutzen (78 - 80). Diese Wirkung löst NPY jedoch auch durch eine Y1-Rezeptor-vermittelte Vasokonstriktion aus (81). Kürzlich konnte zudem durch lokale Anwendung eines Templat-gebundenen NPY21-36 beim Schwein und an Probanden gezeigt werden, dass sich Histamin-induzierte nasale Obstruktion und Bronchokonstriktion mit einem Y2-Agonisten mildern lassen (79). Daneben werden Y2-Rezeptoren auch postsynaptisch an der glatten Muskulatur, so an der Vena saphena des Hundes, sowie in Kardiomyozyten gefunden (82 - 84).
Y3-Rezeptor: Existenz noch nicht bewiesen
Aus pharmakologischen Ergebnissen wurde die Existenz eines NPY-Rezeptorsubtyps postuliert, an dem im Gegensatz zu den anderen Subtypen PYY weniger als ein Zehntel der Affinität von NPY aufweist. Er wurde im Nebennierenmark des Rindes (85), im Myokard der Ratte (86), in bovinen chromaffinen Zellen (87) und im Nucleus tractus solitarius (NTS) der Ratte lokalisiert. Die Injektion von NPY in den NTS hemmt den Barorezeptorreflex, moduliert Glutamateffekte und führt zu Hypotonie und Bradykardie (88, 89). Neuronen des NTS haben eine höhere Sensitivität gegenüber NPY als gegenüber PYY (90, 91).
Da die derzeitigen Belege jedoch noch nicht zur Definition eines neuen Rezeptorsubtyps ausreichen, hat das IUPHAR-Nomenklaturkomitee vorgeschlagen, bei mindestens zehnfacher Affinität von NPY gegenüber PYY von "mutmaßlichen" ("putativen") Y3-Rezeptoren zu sprechen (28).
Y4-Rezeptor an Magen-Darm-Funktionen beteiligt
Typischerweise besitzt das Pankreatische Polypeptid (PP) an NPY-Rezeptoren eine niedrigere Affinität als NPY und PYY. Der Y4-Rezeptor wurde dagegen ursprünglich als PP1-Rezeptor bezeichnet (32), weil hier das PP der gleichen Spezies eine sehr hohe Affinität mit Ki-Werten < 100 pM besitzt. Das PP einer anderen Spezies kann dagegen 50- bis 100fach weniger affin sein (28), wie zum Beispiel Truthahn-PP (92) und Ratten-PP (93) am humanen Y4-Rezeptor. PP ist vermutlich der primäre endogene Y4-Ligand (28).
Y4-Rezeptoren scheinen vor allem gastrointestinale Funktionen zu beeinflussen (94 - 96). Die mRNA des humanen Y4-Rezeptors wurde im Kolon, im Dünndarm, im Pankreas und in der Prostata, aber auch - in geringerem Ausmaß - in verschiedenen Regionen des ZNS detektiert (32). Nach neuen Untersuchungen mit der Substanz GW 1229, einem kombinierten Y1-Antagonisten/Y4-Agonisten, wird die durch NPY induzierte Stimulation der Gonadotropin-Freisetzung über Y4-Rezeptoren vermittelt (97).
Y5-Rezeptor: wichtig für den Appetit?
Die Y5-mRNA wurde bei der Ratte vor allem im Gehirn nachgewiesen, insbesondere in Arealen, die für die Appetitregulation und die Modulation Krampf auslösender Stimuli wichtig sind (35, 98 - 100). In der Peripherie konnte, mit Ausnahme eines schwachen Signals im Hoden, keine mRNA detektiert werden.
Die für den Y5-Rezeptorsubtyp charakteristische Aktivitätsreihenfolge der Peptide (Tabelle 2) (28, 98, 101) wurde auch für die NPY-Rezeptor-vermittelte Steigerung der Nahrungsaufnahme beobachtet (35). Der Y5-Rezeptor scheint mit dem früher als "Y1-like"-, "food-intake"- oder "feeding"-Rezeptor bezeichneten Subtyp identisch zu sein (28). Daneben sind "Y5-ähnliche" Rezeptoren auch an anderen Effekten beteiligt (102). Dazu zählen die antiepileptische Aktivität des NPY (67, 103), die Verminderung von Morphin-Entzugssymptomen (104) und möglicherweise die Hemmung der Freisetzung des luteinisierenden Hormons (LH) (105).
Da zahlreiche Untersuchungen über physiologische NPY-Wirkungen aus einer Zeit stammen, als nur zwei Rezeptorsubtypen unterscheidbar waren, müssen auf Grund der heutigen Kenntnisse frühere Zuordnungen überprüft werden. Für die NPY-induzierte Steigerung der Diurese und Natriurese (106, 107) sowie die Erniedrigung des Glucose-Spiegels wird neuerdings die Beteiligung von Y5-Rezeptoren diskutiert (102, 108).
y6-Rezeptor: beim Menschen nicht funktionsfähig
Dieser Subtyp wurde zunächst als Y5-, Y2B- oder PP2-Rezeptor bezeichnet (109 - 111). Nur bei der Maus und beim Kaninchen wurde bisher ein funktionsfähiges Rezeptorprotein nachgewiesen. Dagegen handelt es sich beim y6-Gen des Menschen um ein "Pseudogen". Eine Basenpaardeletion führt hier zu einem vorzeitigen Stopcodon. Dadurch entsteht ein ab der sechsten transmembranären Domäne verkürztes, nicht funktionsfähiges Rezeptorprotein aus nur 290 Aminosäuren (110, 111). Auf Vorschlag des IUPHAR-Nomenklaturkomitees wird daher die Bezeichnung y6-Rezeptor (mit kleingeschriebenem "y") verwendet.
Selektive Rezeptorliganden als potenzielle Arzneistoffe
Als "pharmakologische Werkzeuge" zur Klärung der physiologischen und pathophysiologischen Rolle von NPY sowie als potenzielle Arzneistoffe (112 - 115) werden - nicht zuletzt aus pharmakokinetischen Gründen und im Hinblick auf die zahlreichen ZNS-vermittelten Effekte - vor allem nicht-peptidische Liganden benötigt. Ein breites Spektrum von Indikationen ist vorstellbar (Tabelle 3). Zentral wirksame Y1- und Y5-Antagonisten könnten gegen Übergewicht und Fettleibigkeit wirken. Dagegen ist das Interesse an peripher wirksamen Y1-Antagonisten, die wegen ihrer kardiovaskulären Wirkung als Antihypertensiva dienen könnten, etwas in den Hintergrund getreten.
Tabelle 3:Mögliche therapeutische AnwendungMögliche Indikation
NPY-Ligand
Antagonisten
Hypertension
Herzinsuffizienz
Adipositas
Y1, peripher
Y1/Y3, peripher
Y5 und/oder Y1, zentral
Agonisten
Schwere sekretorische Diarrhoe
Anxiolyse, Sedation
Analgesie
Epilepsie
Kognitive Dysfunktion (Morbus Alzheimer)
Y1/Y2, peripher
Y1, zentral
Y2, zentral
Y2 oder Y5, zentral
Y2, zentral
Außerhalb des Arzneimittelsektors wird die Blockade von NPY-Rezeptoren der Adipozyten als eines der Wirkprinzipien eines Mittels gegen Cellulite propagiert (Lipofactor®) (116). NPY hemmt die Lipolyse und steigert die Aktivität der Lipoproteinlipase, so dass die Fettspeicherung zunimmt.
Für viele potenzielle Einsatzgebiete sind keine Antagonisten, sondern Agonisten erforderlich. So könnte bei schweren Diarrhoen die Hemmung der cAMP-Kaskade durch Y1- und/oder Y2-Agonisten genutzt werden (117). Deren lokale Anwendung zur Abschwellung der Nasenschleimhaut wäre eine denkbare Alternative zu a-Adrenozeptoragonisten. Vermutlich liegen jedoch die interessantesten Angriffspunkte im ZNS. Durch Stimulation von Y1-Rezeptoren ließe sich ein anxiolytischer und sedativer Effekt auslösen (59, 60, 118). Y2- und/oder Y5-Agonisten könnten neue antiepileptische Wirkprinzipien darstellen (103). In Studien an alkoholsüchtigen und NPY-defizienten Ratten fand man, dass der Alkoholkonsum umgekehrt mit dem NPY-Spiegel im Gehirn korreliert (119). Tiere mit normaler NPY-Expression zeigten eine geringere Präferenz für Alkohol und reagierten sensibler auf dessen sedative/hypnotische Eigenschaften.
Die Entwicklung breit einsetzbarer, zentral wirksamer und selektiver NPY-Rezeptoragonisten ist schwierig. Zum einen sind die strukturellen Anforderungen an einen Agonisten ohnehin strenger als an einen Antagonisten, da eine solche Substanz nicht nur an den Rezeptor binden, sondern wie der natürliche Agonist eine Konformationsänderung auslösen muss, die die Signaltransduktionskaskade aktiviert. Des weiteren sollten solche Agonisten keine Peptide und peroral applizierbar sein sowie die Blut-Hirn-Schranke überwinden. Es gilt also, das 36 Aminosäuren lange NPY durch ein möglichst kleines, ZNS-gängiges, Rezeptor-selektives und agonistisches Nichtpeptid zu ersetzen.
NPY-Agonisten
Bei den bislang aus der Literatur bekannten Agonisten handelt es sich ausschließlich um Peptide. Der systematische Austausch gegen Alanin ("Alanin-Scan") hat gezeigt, welche der 36 Aminosäuren für die Wechselwirkung mit den einzelnen Subtypen besonders wichtig sind (120), und hat zusammen mit der Untersuchung von NPY-Analoga und -Fragmenten an nativen Rezeptoren und an NPY-Rezeptormutanten zu Modellvorstellungen für die Ligand-Rezeptor-Interaktion geführt (74, 121 - 123).
Zur pharmakologischen Klassifizierung der Subtypen werden neben NPY, PYY und PP auch die in Tabelle 2 angegebenen peptidischen Analoga und Fragmente herangezogen. Die Y1-Selektivität zentral verkürzter NPY-Derivate, bei denen zum Beispiel die Reste 8 bis 20 durch eine 6-Aminohexansäure-Brücke ersetzt wurden, stützen die Hypothese, dass für die Interaktion mit dem Y1-Rezeptor N- und C-Terminus des NPY erforderlich sind. Kurze und lange C-terminale NPY-Fragmente werden als Y2-Agonisten verwendet. NPY3-36 bindet auch an Y5-Rezeptoren und stimuliert ebenso wie NPY2-36 im Tierversuch die Nahrungsaufnahme. Die Verschiebung des Bindungsprofils durch Abspaltung N-terminaler Aminosäuren könnte auch in vivo eine Rolle spielen, da NPY3-36 (124) relativ rasch aus NPY durch Metabolisierung mittels Aminodipeptidylpeptidase IV (auch bekannt als CD26) entsteht (125, 126).
Einige zyklische Peptide zeigten selektive Y2-agonistische Wirkung, so das Dodecapeptid [e-Lys28-g-Glu32]NPY25-36 als kürzestes bekanntes Peptid mit voller intrinsischer Aktivität (122, 127, 128). Für die Interaktion mit dem mutmaßlichen Y3-Rezeptor scheinen auch die Aminosäuren im Bereich des b-Turns wichtig zu sein (90). Das vom C-Terminus des NPY abgeleitete zyklische Peptid GW1229 (129), ein starker Y1-Antagonist, wirkt am Y4-Rezeptor agonistisch (130). [D-Trp32]NPY ist zwar Y5-selektiv, jedoch nur schwach wirksam (131).
Y1-Rezeptorantagonisten können Blutdruckanstieg hemmen
Erste nicht-peptidische Y1-Rezeptorantagonisten mit vergleichsweise schwacher und wenig spezifischer Wirkung wurden 1990 publiziert, darunter BU-E-76 (He 90481 (132), ein hoch aktiver Histamin-H2-Rezeptoragonist der Arpromidinreihe (133), und Benextramin, ein unselektiver a-Adrenozeptorenblocker (134, 135).
Als erster starker und Y1-selektiver NPY-Antagonist mit Y1-Rezeptoraffinität im nanomolaren Bereich wurde das D-Argininderivat BIBP 3226 (136 - 141) beschrieben, das Strukturanalogien zum C-terminalen Dipeptid von NPY (Arg35-Tyr36-amid) aufweist. Das Enantiomer mit natürlicher Argininkonfiguration ist wirkungslos (136). Mit Hilfe von BIBP 3226 gelang der Nachweis Y1-Rezeptor-vermittelter Wirkungen in zahlreichen Geweben (140). Interessanterweise beeinflusst BIBP 3226 den basalen Blutdruck kaum, hemmt aber den durch exogenes NPY, Sympathikusstimulation oder Stress induzierten Blutdruckanstieg (140, 141). Berichte über den Einfluss der zentral applizierten Substanz auf die NPY-stimulierte Nahrungsaufnahme sind widersprüchlich (142, 143). Die Analogsubstanz BIBO 3304 besitzt noch etwas höhere Y1-Rezeptoraffinität und wirkt im Tierversuch anorektisch (144). Auch andere D-Argininderivate sind stark und Y1-selektiv wirksam (138, 145, 146). Bei bestimmten Substitutionsmustern kann sich jedoch die Selektivität zugunsten des Y5-Rezeptors verschieben (146).
Die Wirkstofffindung und -entwicklung unter Einsatz des Rezeptor-Modellings wird dadurch erschwert, dass wahrscheinlich die flexiblen extrazellulären Schleifenregionen des Rezeptorproteins wesentlich an der Ligandbindung beteiligt sind (139, 147). Die Ansätze des rationalen Wirkstoffdesigns orientieren sich daher häufig an der vom aPP abgeleiteten mutmaßlichen 3D-Struktur des natürlichen Agonisten, wobei besonderes Augenmerk auf die Aminosäuren Arginin-33 und Arginin-35 gelegt wird, denen eine Schlüsselfunktion zukommt. Beispielsweise wurden, ausgehend von Substanzen wie BU-E-76 (148), auf der Basis eines entsprechenden Pharmakophormodells (149, 150) Y1-Antagonisten hergestellt, die im Bauplan gewisse Analogien zu BIBP 3226 aufweisen, darunter auch Guanidin-freie Verbindungen (151). Sofern die Substanzen zwei basische Zentren besitzen, wobei sich ein Abstand von 7 bis 8 Å als optimal erwiesen hat (152), könnten die Guanidingruppen der Arginine 33 und 35 des NPY imitiert werden.
In diese Modellvorstellung passen auch andere Y1-Antagonisten wie das Benzamidinderivat SR 120819A (153), das in seiner Struktur an Thrombininhibitoren wie NAPAP erinnert. Die Substanz ist ein starker Y1-selektiver NPY-Antagonist und im Gegensatz zu den Argininderivaten oral wirksam. Basisch substituierte Indole (154) (Beispiel LY 357897, Formel 6, Ki 0,75 nM) und Benzimidazole (155, 156) erreichen teilweise Affinitäten im subnanomolaren Bereich und sind die derzeit stärksten nicht-peptidischen Y1-Antagonisten (156). Weitere potente Y1-Antagonisten wurden in Reihen von Chinolinen (157), Phenylpiperazinen (158), Benzodiazepinen (159), Benzazepinen (160), Bis(dihydrotriazinen) (161) und Benzothiophenen (162) gefunden.
Antagonisten an anderen NPY-Rezeptorsubtypen
Selektive Y2-Antagonisten sind bislang nicht allgemein zugänglich. Derzeit ruhen die Hoffnungen auf einer Substanz mit dem Laborcode BIIE 0246, die erst kürzlich als hoch aktiv vorgestellt wurde (163, 164).
Während für Y3- und Y4-Rezeptoren bislang keine selektiven Antagonisten zur Verfügung stehen, finden sich in der Literatur seit der ersten Beschreibung der Y5-Rezeptoren im Jahre 1996 (165) in zunehmendem Maß Substanzen mit Y5-antagonistischer Aktivität. Die Strukturen sind sehr unterschiedlich. Während die ersten publizierten Verbindungen im µM-Bereich wirken (165, 166), erreichen das Y5-selektive Aminochinazolin CGP 71683A (167, 168) und strukturverwandte Sulfonamide mit zentralem Cyclohexylen-Spacer (169) nanomolare Affinität. CGP 71683A ist der bislang am besten untersuchte Y5-Antagonist. Im Tierversuch wurde eine Hemmung der Futteraufnahme gezeigt (168). In der Patentliteratur sind ferner heterocyclische Ketone (170), Stickstoff-freie Verbindungen (171) sowie Aminopyrazole und Aminopyridine (172, 173) beschrieben.
Zentrale Rolle bei der Regulation der Nahrungsaufnahme
Herausragend unter den Wirkungen von Neuropeptid Y ist die enorme Steigerung des Appetits, insbesondere der Kohlenhydrataufnahme, die selbst bei satten Tieren durch Injektion von NPY in den Hypothalamus oder durch intracerebroventrikuläre Applikation ausgelöst wird (175 - 177). Zudem hemmt NPY die Thermogenese im braunen und steigert die Fettspeicherung im weißen Fettgewebe. Chronische NPY-Applikation führt bei Versuchstieren zu Übergewicht und Fettleibigkeit.
NPY wird in allen Hirnregionen synthetisiert, kommt jedoch in hoher Konzentration besonders im Hypothalamus, dem Zentrum für die Regulation der Nahrungsaufnahme, vor. Fastende Tiere haben ebenso wie fettleibige, Leptin-defiziente ob/ob-Mäuse erhöhte NPY-Spiegel im Hypothalamus (178). Die NPY-Spiegel im Plasma liegen bei adipösen Patienten über dem Normalbereich (179). Die regional hohe NPY-Konzentration scheint zu einer Down-Regulation von Y5-Rezeptoren zu führen (180, 181). Sollte sich die Hoffnung bestätigen, dass NPY eine Schlüsselsubstanz in der hypothalamischen Regulation der Energie-Homöostase und des Körpergewichts von Vertebraten ist, könnte man NPY-Antagonisten als neue Arzneistoffe gegen Fettleibigkeit entwickeln (Übersicht in 113).
Die zentrale Regulation der Nahrungsaufnahme ist durch ein hohes Ausmaß an Redundanz gekennzeichnet (182) und die Beteiligung von NPY und NPY-Rezeptoren außerordentlich komplex. Auch wenn NPY unter physiologischen Bedingungen eine zentrale Rolle spielt, ist bei der Vielzahl der beteiligten Neurotransmitter leicht vorstellbar, dass mit Ausfall eines Stimulationsweges kompensatorisch verstärkt alternative Signalwege aktiviert werden. Da NPY in Neuronen des Hypothalamus beispielsweise zusammen mit Agouti-related Protein (AGRP) vorkommt (15), ist dieser Appetit steigernde endogene Melanocortin-MC4-Rezeptorantagonist einer von vielen denkbaren Kandidaten, die den Verlust des Neurotransmitters auffangen könnten (183).
Die Expression von NPY wird durch Insulin und das Fettgewebshormon Leptin gehemmt (184, 185). Beide Hormone verstärken das Sättigungssignal von peripherem Cholecystokinin. Die NPY-Spiegel werden durch Leptin sowohl direkt als auch über die Zunahme der Konzentration anderer Neuropeptide wie CART, Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH), Melanocortin oder GLP-1 reduziert (186). Möglicherweise spielt NPY bei der Entwicklung einer Resistenz gegen Insulin und Leptin eine Rolle (187) und wirkt dabei mit Glucocorticoiden zusammen (188 - 191). Daneben gibt es Hinweise auf eine Beteiligung an Ess-Störungen wie Bulimie und Anorexia nervosa (192 - 195).
Welche NPY-Rezeptoren sind beteiligt ?
Zunächst nahm man wegen der etwas von der Y1-typischen Reihenfolge abweichenden Aktivität peptidischer Agonisten an, ein Y1-ähnlicher ("Y1-like") Rezeptor ("atypischer" Y1-Rezeptor) sei für die Appetit steigernde Wirkung von NPY verantwortlich (196). So besitzt NPY2-36 zwar eine wesentlich niedrigere Y1-Affinität, stimuliert aber die Nahrungsaufnahme stärker als NPY selbst. Später wurde eine hohe Affinität dieses Peptids am Y5-Rezeptor (35) nachgewiesen. Auch die Y1-Aktivität der verschiedenen anderen NPY-Analoga und -Fragmente stimmte im wesentlichen mit der Appetit steigernden Wirkung überein (197), der postulierte Feeding-Rezeptor schien identifiziert.
Studien mit zentral applizierten Antisense-Oligonukleotiden gegen Y1- oder Y5-Rezeptor-mRNA brachten unterschiedliche Ergebnisse (198 - 201). Mit selektiven Y5-Antagonisten ließ sich die Nahrungsaufnahme nach NPY-Gabe bei zuvor fastenden normalgewichtigen Ratten und bei genetisch bedingt fettleibigen Tieren (obese Zucker-Ratten, ob/ob-Mäuse) hemmen. Aber auch Y1-Antagonisten hemmen die Nahrungsaufnahme von Nagern (144, 202 - 204). Diese Befunde sprechen für eine Beteiligung von Y1- und Y5- Rezeptoren.
Untersuchungen an Knockout-Mäusen, deren Gen für NPY (205), für den Y1- (55) oder den Y5-Rezeptor (206, 207) ausgeschaltet worden war, haben dagegen die Bedeutung von NPY als Schlüsselsubstanz in der Regulation der Nahrungsaufnahme in Frage gestellt. Weder NPY- noch Y1- oder Y5-Rezeptor-defiziente Tiere verlieren an Körpergewicht. Paradoxerweise nahmen Y1- und Y5-Knockout-Mäuse mit zunehmendem Alter sogar an Gewicht und Körperfett im Vergleich zum Wildtyp zu (55, 206).
Die Vielzahl der beteiligten Neurotransmitter und Rezeptoren eröffnet letztlich ausreichend Möglichkeiten, dem durch Gen-Knockout angelegten Selektionsdruck auszuweichen. Wahrscheinlich beschränkt sich auch der Effekt von NPY nicht auf die Subtypen Y1 und Y5 und auf die Steigerung des Appetits (208). So wurde kürzlich der Y2-Rezeptor als eine physiologische inhibitorische Komponente in der zentralen Regulation der Nahrungsaufnahme und des Körpergewichts beschrieben (209, 210).
Noch ist viel Forschung nötig
Noch ist nicht absehbar, ob die Hoffnungen auf Y5- und/oder Y1-Rezeptorantagonisten zur Adipositas-Behandlung berechtigt sind. Das potenzielle Indikationsspektrum von NPY-Rezeptorliganden reicht jedoch weit über dieses Gebiet hinaus.
Zu den speziellen Problemen bei der Wirkstoff-Findung kommen Schwierigkeiten bei der therapeutischen Anwendung wegen der Beteiligung der NPY-Rezeptoren an zahlreichen zentralen und peripheren Effekten. So könnte die ausgeprägte Y1-Rezeptor-vermittelte Blutdrucksteigerung den Einsatz zentral wirkender Agonisten einschränken, es sei denn, es würden Substanzen mit entsprechender Verteilung zugunsten des ZNS gefunden. Da Y2- und Y5-Rezeptoren für die antikonvulsiven Eigenschaften von NPY, Y1-Rezeptoren dagegen für dessen anxiolytische Wirkung verantwortlich gemacht werden, ist zu klären, ob die Blockade dieser Rezeptoren die Krampfbereitschaft erhöht oder anxiogen wirkt. Auch mit der Beeinflussung der Hormonsekretion (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse) ist zu rechnen.
18 Jahre nach der Entdeckung von Neuropeptid Y durch Tatemoto ist das Wissen auf diesem Gebiet erheblich gewachsen, aber man ist noch weit davon entfernt, seine physiologische und pathophysiologische Rolle vollends zu verstehen. Gerade die Charakterisierung der verschiedenen NPY-Rezeptorsubtypen bietet neue, interessante Herausforderungen für die pharmazeutisch-chemische Forschung und eröffnet gleichzeitig die Chance zur Entwicklung neuer Arzneistoffe.
Literatur bei den Verfassern.
Ausgewählte Übersichtsarbeiten:
Für die Verfasser
Professor Dr. Armin Buschauer
Institut für Pharmazie
Universität Regensburg
93040 Regensburg
E-Mail: armin.buschauer@chemie.uni-regensburg.de
© 2000 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de