Schwindel hat viele Ursachen |
31.05.2004 00:00 Uhr |
Vertigo
In der ärztlichen Praxis ist Schwindel eine der häufigsten Beschwerden. Nahezu jeder kennt das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren oder im Kopf Karussell zu fahren. So unterschiedlich sich das Symptom äußert, so vielfältig können die Ursachen sein. Sie reichen vom natürlichen Phänomen bis zum Alarmzeichen und Leitsymptom einer Erkrankung. Mitunter löst auch eine Polymedikation das bedrohliche Drehen im Kopf aus.
Patienten verwenden den Begriff Schwindel für eine Vielzahl sensorischer Wahrnehmungen: Dreh- oder Schwankschwindel, Stand- und/oder Gangunsicherheit, Schwäche, Kraftlosigkeit, aber auch Verschwommensehen oder Schwarzwerden vor den Augen (1). Bis zu 22 Prozent der Männer und 36 Prozent der Frauen klagten im Jahr 2002 bei einer bundesweiten Telefonumfrage des Robert-Koch-Instituts über Schwindel. Mit dem Alter steigt die Prävalenz. Bei Hochbetagten über 80 Jahren ist Schwindel sogar die häufigste Beschwerde (2, 3, 4). Aber nicht nur auf Grund des steigenden Lebensalters, auch wegen der zunehmenden Zahl von Sport- und Verkehrsunfällen berichten immer mehr Menschen über Schwindel, wie der Berufsverband Ärztlicher Notdienst beklagt (5).
Viele Betroffene erleben dadurch eine erhebliche Einschränkung ihrer Lebensqualität. Die Folgeschäden reichen bis zu Stürzen. Die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls beim Autofahren oder beim Bedienen großer Maschinen steigt. Schwindelgeplagte meiden Unternehmungen, die größere Mobilität erfordern, wie Einkaufen oder den Besuch von Freunden.
Langfristig kann die Nichtbehandlung eines krankhaften Schwindels irreparable Konsequenzen haben. Ernst nehmen sollte man das körperliche Warnsignal schon deshalb, weil sich dahinter eine lebensbedrohliche Krankheit verbergen kann (1). Eine ärztliche Abklärung der Ursachen ist daher grundsätzlich angeraten. Und auch der Apotheker sollte hellhörig sein, wenn Kunden in der Offizin über diese Beschwerden klagen.
Verschiedene Formen abklären
In der Medizin gibt es mehrere Kriterien zur Einordnung der verschiedenen Schwindelsyndrome. Der Arzt wird nach der subjektiven Wahrnehmung des Patienten, der Dauer der Beschwerden, dem Auslösemechanismus und dem Ort der Störung fragen.
Ein systematischer Schwindel liegt vor, wenn die Patienten Scheinbewegungen wahrnehmen, die in bestimmte Richtungen weisen. Auch bei geschlossenen Augen bleibt diese Empfindung in der Regel erhalten. Systematischer oder vestibulärer Schwindel (englisch: vertigo) beruht im Allgemeinen auf einer Störung im peripheren oder zentralen vestibulären System (6). Beispiele sind Drehschwindel wie beim Karussellfahren, Schwankschwindel wie beim Bootfahren, Pulsion oder Liftschwindel mit Hebung und Senkung des Bodens.
Dagegen sind uncharakteristische Beschwerden wie Benommenheit, diffuses Unsicherheitsgefühl beim Gehen, Schwarzwerden vor den Augen oder Leere im Kopf typisch für den unsystematischen Schwindel, der auch als diffuser Hirnschwindel (englisch: dizziness) bezeichnet wird. Möglich sind psychogene oder orthostatische Ursachen, internistische Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Leiden, Hypoglykämie oder auch Nebenwirkungen von Medikamenten.
Zur näheren Eingrenzung unterscheiden die Ärzte zwischen Dauer- und Attackenschwindel und testen, ob sich die Beschwerden durch bestimmte Bewegungen auslösen oder verstärken lassen. Weitere Fragen zielen auf Begleitsymptome wie Kopfschmerzen und Übelkeit. Für Störungen des Innenohrs sind Hörminderung, Druckgefühl oder Tinnitus kennzeichnend. Charakteristische Hirnstammsymptome sind etwa Doppelbilder, perorale Parästhesien, Schluck- und Sprechstörungen (1). Außerdem müssen Begleiterkrankungen und deren Medikation geklärt werden.
Wie Schwindel entsteht
Hals-Nasen-Ohren-Ärzte und Neurologen definieren Schwindel als Orientierungsstörung im Raum und stufen ihn nicht in jedem Fall als Krankheit ein (7). Die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts und zur Orientierung des Körpers wird durch Kooperation und Interaktion verschiedener Sinne gewährleistet. Die wichtigsten sind das vestibuläre, das visuelle und das propriozeptive System (8). Ist die Informationsübermittlung eines oder mehrerer dieser Systeme oder ihre Zusammenarbeit an irgendeiner Stelle gestört, kommt es zu einer Fehlverarbeitung im Gehirn. Schwindel kann daher entstehen bei
Als Ursachen können kardiovaskuläre Störungen, Infektionskrankheiten, degenerative Prozesse, Stoffwechselstörungen und Neoplasien bis hin zu Traumen, Allergien und Autoimmunprozessen zu Grunde liegen (9).
Gleichgewichtsorgan im Innenohr
Auf jeder Kopfseite befindet sich im Innenohr (Labyrinth) ein Gleichgewichtsorgan (Vestibularapparat). Damit werden Informationen zur Raumlage des Kopfes, zu Drehbewegungen, Beschleunigung, Bremsen und Schwerkraft erfasst. Außerdem beeinflussen die Vestibularapparate vegetative Funktionen des Körpers wie Blutdruck, Gerinnungszeit oder Differentialblutbild.
Jedes Gleichgewichtsorgan besteht aus je fünf sensorischen Einheiten: drei Bogengängen und zwei Otolithenorganen (Otolithen: kleine Kalkkristalle) (6, 10). Da die drei Bogengänge entsprechend den drei Drehachsen des Raumes annähernd senkrecht aufeinander stehen, können sie die Winkelbeschleunigungen des Kopfes erfassen. Die Otolithenorgane Sacculus und Utriculus dienen zur Wahrnehmung der Gravitation und der Linearbeschleunigung.
Vereinfachend kann man die Bogengänge als halbkreisförmige Kanäle beschreiben, die mit kaliumreicher Endolymphe gefüllt sind. Diese Endolymphe durchfließt auch die in einem stumpfen Winkel aufeinander stehenden Hohlräume des Sacculus und Utriculus.
In den drei Bogengängen wie auch am Boden von Sacculus und Utriculus befinden sich Haarsinneszellen. Deren Zilien ragen an ihrem Ende in eine darüber liegende gallertartige Masse (Cupula bei den Bogengängen) beziehungsweise in eine gallertartige Membran (Otolithenmembran) hinein, in die zusätzlich Calciumcarbonatkristalle (Otokonien oder Otolithen) eingelagert sind (11).
Bewegt sich der Kopf in eine Richtung, so bewegt sich zeitlich verzögert zu den Schädelknochen auch die Endolymphe in dem entsprechenden Bogengang und in ihr, gemäß dem Trägheitsgesetz wiederum verzögert, die Cupula. Die Cupula wird ausgelenkt und die Sinneszellen werden über die Härchen gereizt. Beim Biegen können bestimmte Zilien zusätzlich Kalium aus der Endolymphe aufnehmen, was die Reizweiterleitung verstärkt. Ähnliches geschieht in den Otolithenorganen, wobei die auf den Zellmembranen fest verankerten Otolithen als zusätzliche Gewichte dienen, um die Trägheit zu erhöhen.
Blick ins Gehirn
Über die Vestibularisnerven werden die Informationen in ein Integrationszentrum im Hirnstamm, nämlich in das Gebiet der Vestibulariskerne, geleitet. Dort kommt es zu einem Informationsabgleich zwischen beiden Seiten, der im physiologischen Fall zu reflektorischen Gegenreaktionen führt, immer mit dem Ziel, das Körpergleichgewicht und eine adäquate Raumorientierung zu erhalten (8). In das Vestibulariskerngebiet beider Seiten münden nicht nur Nervensignale aus den beiden Vestibularapparaten, sondern auch die Sinnesinformationen des visuellen und propriozeptiven Systems.
Zur bewussten Orientierung im Raum müssen die gefilterten Reize vom Integrationszentrum im Hirnstamm an den pietro-temporalen Kortex weitergeleitet werden (6). Richtung und Geschwindigkeit einer erfolgten Kopfbewegung sowie die Stellung des Kopfes im Raum werden auch anderen Hirnarealen mitgeteilt (10).
Die eingehenden Informationen von Augen, Gleichgewichtsorganen, Muskelspindeln und Gelenkrezeptoren werden mit gelernten Bewegungsabläufen, wie sie im Kleinhirn gespeichert sind, abgeglichen und mit beabsichtigten Bewegungen oder Emotionen aus der Hirnrinde abgestimmt. Kontroll- und Steuerungssignale regulieren dann die Kopf-, Augen- und Körperposition (12). Bei schnellen Bewegungen oder Erschütterungen während des Gehens werden die Augen beispielsweise so gesteuert, dass der Blick stabil bleibt und das gesehene Bild nicht verwackelt. Kompensatorische horizontale, vertikale oder drehende Bewegungen der Augäpfel dienen dazu, das Gesichtsfeld bei Kopfbewegungen beizubehalten. Eine gestörte Blickstabilisation bezeichnet man als Nystagmus. Bei der Diagnose von Schwindel kommt ihm eine wichtige Rolle zu. Letztendlich ist Schwindel Ausdruck eines gestörten neuronalen Entladungsmusters in den kortikalen Projektionsgebieten (9).
Warnsignale beachten
Obwohl Schwindel meist keine ernsthafte Erkrankung anzeigt, rät die Mayo Clinic in Rochester, USA, bei bestimmten Begleitsymptomen (Kasten) unverzüglich den Arzt aufzusuchen, denn es können sich Krankheiten wie Schlaganfall, Gehirntumor, Parkinson-Syndrom oder Multiple Sklerose dahinter verbergen (13). Auch eine kardiovaskuläre Erkrankung ist möglich. Insbesondere bei Herzrhythmusstörungen, aber auch bei zu hohem oder zu niedrigem Blutdruck tritt Schwindel als Symptom auf. Dabei dauert eine Attacke bei Herzrhythmusstörungen oft nur Sekunden bis Minuten (14). Auch ein benigner Tumor wie das Akustikus-Neurinom am Gleichgewichtsnerv kann auf Grund seiner Lage im Kleinhirnbrückenwinkel gefährlich werden (7).
Begleitsymptome eines Schwindels, die schwere Erkrankungen anzeigen können (13)
Zu den lebensbedrohlichen Erkrankungen mit Schwindelsymptomatik zählt vor allem die Basilaristhrombose (1, 4). Sie verläuft teilweise sehr rasch. Neben Dreh- und Schwankschwindel können zunehmend Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma auftreten. Selbst wenn die Patienten bei Bewusstsein sind, sind sie eventuell unfähig, sich durch Sprache oder spontane Bewegung verständlich zu machen. Außerdem können bei einem Verschluss der Arteria basilaris akute Hirnnervenausfälle, Blickparesen, Halbseitenblindheit mit Ausfall einer Hälfte des Gesichtsfeldes sowie kortikale Blindheit auftreten.
Häufige Schwindelursachen
Schwindel kann viele Ursachen haben (Tabelle 1). Die häufigste Form ist der benigne paroxysmale (anfallsartige) Lagerungsschwindel (Benign paroxysmal positional vertigo; BPPV) (15, 16). Er entsteht durch einen Pfropf abgesprengter Otolithen aus dem Utriculus. Der Pfropf befindet sich zumeist in dem unter dem Utriculus liegenden, hinteren Bogengang, wo er frei in der Endolymphe flottiert. Manchmal gehen der Erkrankung ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma oder längere Bettlägerigkeit voraus (1). Bewegen sich die Patienten, treten in der Regel 20 bis 30 Sekunden anhaltende Drehschwindelattacken auf, die oft von Übelkeit und laufenden Bildern begleitet werden. Die BPPV lässt sich erfolgreich durch einfache Lagerungsübungen behandeln, bei denen der Pfropf aus dem betroffenen Bogengang herausgeschwemmt wird.
Tabelle 1: Häufigkeit von Schwindelsyndromen in einer neurologischen Spezialambulanz für Schwindel
Erkrankung Häufigkeit (Prozent) benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel 18,8 phobischer Schwankschwindel 16,0 zentraler vestibulärer Schwindel 13,2 vestibuläre Migräne 9,1 peripherer Schwindel 7,9 Morbus Menière 7,4 bilaterale Vestibulopathie 3,6 psychogen (ohne PSS) 3,5 vestibuläre Paroxysmie 2,7 Perilymphfistel 0,5 unklarer Schwindel 4,2 andere Formen 13,1Daten von 4214 Patienten; 1989 bis 2002; aus (17)
Zu den häufigsten Diagnosen in einer Schwindelambulanz gehört der phobische Schwankschwindel (1, 17). Charakteristisch für diese wichtige psychogene Form ist die Kombination eines Schwankschwindels mit subjektiver Stand- und Gangunsicherheit. Die Patienten haben einen normalen neurologischen Befund und einen unauffälligen Gleichgewichtstest, aber zumeist eine zwanghafte Persönlichkeitsstruktur. Häufig geht dem phobischen Schwankschwindel eine initiale vestibuläre Erkrankung voraus.
Der zentral bedingte Schwindel wird häufig als Schwankschwindel empfunden und ist weniger intensiv als der peripher-vestibuläre Schwindel (9). Zentral-vestibuläre Formen entstehen durch Läsionen der Verbindungen zwischen Vestibulariskernen und Vestibulozerebellum, Thalamus und/oder vestibulärem Kortex (1). Kurzdauernde Dreh- oder Schwankattacken (transiente ischämische Attacke, TIA) treten beispielsweise bei vorübergehenden Durchblutungsstörungen im vertebrobasilären Strombahngebiet auf, während über Stunden bis Tage anhaltende Syndrome Folgen eines Hirnstamminfarktes oder einer -blutung sein können.
Eine wichtige Differenzialdiagnose ist die basiläre Migräne. Meist treten die reversiblen Dreh- oder Schwankschwindelattacken vor dem Kopfschmerz auf.
Die Menièresche Krankheit ist eine Erkrankung des Innenohrs, die durch attackenartige Drehschwindelanfälle gekennzeichnet ist. In der Regel tritt sie zusammen mit einseitiger Innenohrschwerhörigkeit und Tinnitus auf. Die Ursache des Morbus Menière wird in einem endolymphatischen Hydrops des Labyrinths (erhöhter Druck der Endolymphe) gesehen, bei der die Produktion und Rückresorption der Endolymphe gestört sind. Rupturen der Trennmembran zwischen Endolymph- und Perilymphraum lösen die anfallsartigen Attacken aus. Ohne erkennbaren Anlass werden die Patienten sogar während des Schlafs von einem heftigen Drehschwindel überrascht, der Minuten bis Stunden anhält (1, 17). Häufig können sie nicht einschätzen, was gerade mit ihren passiert. Sie erleben Todesangst und Vernichtungsgefühle, was teils auch als Infarkt missdeutet wird (18).
Viele alte Menschen betroffen
Bis zu 70 Prozent der hochbetagten Heimbewohner klagen bei einem Hausarztbesuch über Schwindel (16). Häufig begleiten Angst und Depression die Schwindelsymptomatik. Stürze und Knochenbrüche sind charakteristische Folgen.
Bei etwa 45 bis 50 Prozent der Erkrankten ist Schwindel jedoch kein Symptom eines bestimmten Krankheitsbildes, sondern ein geriatrisches Syndrom mit multifaktorieller Genese. „Der Verlegenheitsausdruck Altersschwindel (presby-vertigo) sagt im Prinzip aus, dass ich nicht weiß, was der Patient hat“, sagte Professor Dr. Ingo Füsgen von den Geriatrischen Kliniken Wuppertal bei der 11. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie.
Eine typische Alterserkrankung ist der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel. Etwa ein Drittel aller über 70-Jährigen hat ihn schon einmal erlebt (15). Außerdem leiden viele ältere Menschen an zerebrovaskulärem Schwindel, an Systemerkrankungen wie Diabetes mellitus, den Nebenwirkungen ihrer vielen Medikamente oder einem zu hohen Tabak- und Alkoholkonsum (Genussmittelabusus). So kann bei Diabetes mellitus spät nach einer Mahlzeit eine Hypoglykämie auftreten, in deren Folge Schwindel entsteht.
Auch die zunehmende Anzahl von Fehlhaltungen im Halswirbelsäulen-Bereich oder von psychischen Erkrankungen soll sich auf die Schwindelhäufigkeit auswirken (5). Doch der Zusammenhang mit pathologischen Veränderungen im Bereich der Halswirbelsäule ist umstritten (17). Zervikogener Schwindel ist eine Verlegenheitsdiagnose, hieß es noch vor wenigen Jahren auf dem 24. Interdisziplinären Forum der Bundesärztekammer mit dem Themenschwerpunkt Leitsymptom Schwindel (16). In einer Studie der Universität Witten/Herdecke konnten allerdings kürzlich bei 95 Prozent der Patienten mit zervikogenem Schwindel Blockaden in den Kopfgelenken nachgewiesen werden (19).
Aber nicht nur ältere Menschen sind häufiger betroffen. Auch Frauen in den Wechseljahren klagen über Schwindelsymptome, und zwischen dem 17. und 20. Lebensjahr ist die Basilarismigräne eine typische Erkrankung heranwachsender Mädchen (16).
Auf hoher See und in der Tiefe
Bei jedem Gesunden lässt sich Schwindel auslösen. Das Symptom tritt kurzfristig bei plötzlicher, ungewohnter Körperbeschleunigung oder Sinnestäuschungen auf. Zu einem intersensorischen Konflikt kommt es etwa, wenn das Gleichgewichtsorgan Bewegung wahrnimmt, aber die Augen und die Bewegungsmelder in der Haut und am Skelett einen Ruhezustand registrieren. So ist für manchen das Lesen in einem fahrenden Auto unmöglich.
Bei hohem Wellengang auf See, beim Serpentinen-Fahren, im Fahrstuhl oder bei Turbulenzen während eines Flugs leiden viele Menschen an Schwindel, Übelkeit, Erbrechen und Schweißausbrüchen. Besonders Kinder sind von der Kinetose (Bewegungs- oder Reisekrankheit) betroffen. Auf Reisen sollte man auch an andere Ursachen denken. Nach dem Sonnenbad können Schwindel und Erbrechen Anzeichen für einen Sonnenstich sein. Kommen Appetitlosigkeit, Erbrechen, Bauchkrämpfe und Durchfall hinzu, weist dies auf eine Magen-Darm-Infektion hin.
Höhenschwindel befällt Bergsteiger, wenn sie sich in sauerstoffarme Regionen über 3000 Meter wagen. Durch den geringeren Luftdruck und den damit verbundenen geringeren Sauerstoffpartialdruck wird wahrscheinlich die Blut-Hirn-Schranke „undicht“ und das zerebrale Blutvolumen und die Zerebrospinalflüssigkeit nehmen zu, so die Theorie. Aber auch Taucher kennen das Phänomen. Ausgelöst wird der Druckdifferenzschwindel durch unterschiedliche Druckverhältnisse im Mittelohr während des Auf- und Abstiegs. Dabei wird das Gleichgewichtsorgan im Innenohr seitendifferent gereizt. Insgesamt sollten Sportler darauf achten, dass ihr Blutzuckerspiegel nicht zu stark absinkt, denn auch dies kann Schwindel auslösen.
Vor unliebsamen Auswirkungen der Markert-Diät warnt die Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE). Schwindel und Kreislaufprobleme sind mögliche Folgen der Fastenkur. Ebenso kennen Untergewichtige Schwindel, Müdigkeit und Leistungsschwäche.
Zu den vielen Auslösern im Alltag gehört der Alkohol. Ein Kater tritt nicht selten zusammen mit Schwindel auf. Einige Forscher machen dafür den Acetaldehyd verantwortlich, der beim Alkoholabbau entsteht. Schwindelgefühl, Sehstörungen, Augen- oder Muskelzucken sowie Desorientierung oder Krämpfe können auch beim Benutzen eines Game-Boy-, Computer- oder Videospiels auftreten. Besonders Kinder sind gefährdet. Durch bestimmte Blitzlichter und Lichteffekte kann es sogar zu Epilepsieanfällen kommen. Die Hersteller dieser Spiele raten daher, bei den genannten Symptomen sofort einen Arzt aufzusuchen.
Auch die als Berufskrankheit (BK Nr. 1303) anerkannte Benzolvergiftung sei noch erwähnt. Leitsymptome sind Mattigkeit, Schwindel, Kopfschmerzen und Magen-Darm-Störungen (20).
Ängste und seelische Belastung
In Spezialambulanzen wird die Diagnose psychogener Schwindel bei rund einem Fünftel der Patienten gestellt (21). Häufig verbirgt sich dahinter eine Angsterkrankung, manchmal auch eine Depression oder andere psychische Störungen (18, 21).
So kann sich etwa im Verlauf der Menièreschen Erkrankung eine zusätzliche Schwindelkomponente einstellen, die organisch nicht ausreichend erklärbar ist (22). Sie entsteht durch klassische Konditionierung, denn die wiederholten Schwindelattacken werden von den Betroffenen oft als existenziell bedrohlich erlebt. Da niemand weiß, wann der nächste Anfall kommt und in welcher Stärke er auftritt, kann sich Unsicherheit bis hin zu Angst und Panik breit machen. Ein Gefühl des ständigen Schwindels entsteht (18).
Bei 96 stationär psychosomatisch behandelten Menière-Patienten litten 59 Prozent unter reaktiv psychogenen Schwindelanteilen, die das Krankheitsbild dominierten (22). Auslösend im Sinne der klassischen Konditionierung wirken die räumliche Situation oder die Konfliktsituation, in der der Anfall geschieht und sich wiederholt. Weitere mögliche Auslöser sind ein abrupt empfundener Hörverlust, eine Kopfbewegung oder andere Reize, die im Verlauf einer Reizgeneralisierung immer unspezifischer werden können.
Psychogener Schwindel tritt allein oder gemeinsam mit anderen Symptomen wie Schweißausbrüchen, Mundtrockenheit, Herzrasen, Engegefühl oder Atemnot auf (17, 18). Er äußert sich charakteristischerweise als diffuser Schwindel (Benommenheitsgefühl, Leeregefühl im Kopf, Gehen wie betrunken oder wie auf Schaumstoff, Gefühl zu kippen). Aber auch Dreh- oder andere Schwindelempfindungen können psychogen bedingt sein.
Je vielfältiger und diffuser die Beschwerden erlebt werden, desto eher liegt ein psychogener Schwindel vor. Zur Diagnose reicht die Abwesenheit eines organischen Befundes jedoch nicht aus, vielmehr ist auch eine stimmige psychologische Erklärung notwendig (18).
Polymedikation als Auslöser
Schwindel ist ein Leitsymptom einer Arzneimittelintoxikation (16). Mehr als 30 Arzneistoffgruppen können Schwindel hervorrufen (Tabelle 2). Von Bedeutung sind insbesondere Antihypertensiva (mögliche Überdosierung prüfen), Antikonvulsiva (vor allem bei Auf- oder Überdosierung) und alle Gruppen von Psychopharmaka (23). Fragen nach der Selbstmedikation gehören zur obligatorischen Medikamentenanamnese (16). Dabei dürfen Erkältungs- und Schlafmittel nicht vergessen werden.
Tabelle 2: Arzneimittelgruppen, die Schwindel als Nebenwirkung auslösen können; Auswahl nach (1)
Organ, IndikationWirkstoffgruppe ZNS und Bewegungsapparat Antiepileptika, Analgetika, Tranquilizer, Muskelrelaxantien, Hypnotika, Antiemetika, Antidepressiva, Anticholinergika, Dopaminagonisten, Antiphlogistika, Lokalanästhetika Infektionen Antibiotika, Tuberkulostatika, Antimykotika, Anthelminthika Herz und Gefäße Betarezeptorenblocker, Antihypertonika, Vasodilatatoren, -konstriktoren Niere und Blase Diuretika, Spasmolytika Sonstige Antiallergika, Röntgenkontrastmittel, ProstaglandineEin besonderes Problem ist die Arzneimittelvielfalt, die ältere Menschen einnehmen. Oft werden fünf bis sechs Krankheiten gleichzeitig behandelt, wobei viele Medikamente auch auf das Gehirn wirken. In einer Berliner Altersstudie erhielten mehr als 46 Prozent der über 85-jährigen Männer und mehr als 39 Prozent der über 70-jährigen Frauen eine Multimedikation (25).
Arzt und Apotheker sind bei der Pharmakotherapie älterer Patienten besonders gefordert. Es gilt, die Auswirkungen normaler und pathologischer Altersprozesse auf die Pharmakokinetik und -dynamik zu erkennen (25). Physiologische und pathologische Altersprozesse können Resorption, Verteilung und Elimination eines Arzneistoffs erheblich verändern. So kann eine verminderte Säureproduktion des Magens die Resorption von sauren oder basischen Pharmaka beeinflussen. Insbesondere bei Multimorbidität stoßen notwendige Kompensationsprozesse oft an ihre Grenzen. Dies erklärt unter anderem auch die größere Empfindlichkeit für Nebenwirkungen. Umso wichtiger ist die angemessene Weiterbetreuung nach einer Medikamentenverordnung. Dazu ist eine intensive Kommunikation von Arzt und Apotheker mit dem älteren Patienten und seinen Angehörigen nötig.
Unter Geriatern besteht Konsens, dass möglichst nicht mehr als vier Medikamente verordnet werden sollten (25). Ein überwachter Verzicht von Schwindel begünstigenden Medikamenten ist oft hilfreicher als eine zusätzliche Arzneimittelgabe (26). Bei psychogenen oder psychosomatischen Erkrankungen besteht zudem die Gefahr einer iatrogenen Fixierung durch wiederholte Infusionsbehandlungen mit Antivertiginosa oder Gabe durchblutungsfördernder Mittel. Dies sollte auf jeden Fall vermieden werden (16).
Ein kaum beachteter Auslöser des Drehens im Kopf ist die Temperatur von Arzneimitteln. So können kalte Ohrentropfen beim Eindringen in den Gehörgang Schmerzen und Schwindel auslösen. Beim Einträufeln sollten sie daher möglichst körperwarm sein.
Meist hält medikamentös induzierter Schwindel über längere Zeit an (14). Die Patienten klagen über ein diffuses, schwer zu beschreibendes Schwindelgefühl. Bei potenziell ototoxisch wirkenden Medikamenten, zum Beispiel Aminoglykosidantibiotika, kann Drehschwindel auch bei lokaler Anwendung auftreten (7). Menière-ähnliche Krankheitsbilder mit Schwindel, Ohrensausen und Schwerhörigkeit werden nach höherer Dosierung von Acetylsalicylsäure (2 bis 6 g/Tag) beobachtet (5).
Medikamente zur Behandlung
Auch so genannte Antivertiginosa wie das Antihistaminikum Dimenhydrinat, der Calciumblocker Flunarizin, das Belladonna-Alkaloid Scopolamin oder das Neuroleptikum Sulpirid sollten bei Schwindelpatienten zurückhaltend eingesetzt werden. Nur vier Indikationen gelten als gesichert (16):
Antivertiginosa können durch ihre sedierende Wirkung kompensatorische Vorgänge im Gleichgewichtssystem verzögern. Dem Gehirn wird die Möglichkeit genommen, sich auf die neue Situation einzustellen und Defizite auszugleichen. Zu Beginn einer Physiotherapie sind sie aber durchaus sinnvoll und können eine Behandlung sogar erst ermöglichen. Eine physikalische Therapie, die vestibuläre Kompensationsvorgänge fördert, kann außerdem mit Ginkgo-biloba-Extrakt (EGb 761) unterstützt werden (24).
Bei schweren phobischen Störungen werden verhaltenstherapeutische oder psychodynamische und medikamentöse Behandlung kombiniert (16). Sedativa und Tranquilizer sind ausschließlich der Notfallbehandlung vorbehalten. Wegen ihres Suchtpotenzials, aber auch weil sie die Kompensation im Gleichgewichtssystem herabsetzen, wird von einem längeren Gebrauch dringend abgeraten (18). Mittel der Wahl bei hohem Leidensdruck und starker Ausprägung eines psychogenen Schwindels sind Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, zum Beispiel Sertralin, in den ersten Tagen kombiniert mit einem Anxiolytikum, zum Beispiel Lorazepam (17). Prophylaktisch können Betarezeptorenblocker bei vestibulärer Migräne wirksam sein, falls keine internistische Kontraindikation besteht (4).
Zusammenfassung
Schwindel ist keine Krankheitseinheit, sondern umfasst multisensorische und sensomotorische Syndrome unterschiedlicher Ätiologie und Pathogenese. Umso wichtiger ist es, die verschiedenen Schwindelformen zu differenzieren, um sie gezielt medikamentös, physikalisch, operativ oder psychotherapeutisch versorgen zu können (16). Gerade ältere Menschen sollten vor Unsicherheit und dem damit verbundenen Rückzug aus dem Alltagsleben bewahrt werden. Andererseits sind Medikamente gegen chronischen Schwindel in der Regel ineffektiv oder gar kontraproduktiv (26). Der Apotheker hat daher eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, denn in der Regel kann nur er den tatsächlichen Umfang des Arzneimittelkonsums seiner Kunden einschließlich der Selbstmedikation überblicken.
Literatur
Die Autorin
Gudrun Heyn ist als freie Wissenschaftsjournalistin in Berlin tätig. Im Anschluss an ihr Geologiestudium war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin und befasste sich mit toxischen Einflüssen aus Grundwässern. Nach der Promotion arbeitete sie in verschiedenen Forschungseinrichtungen, darunter am Kernforschungszentrum Karlsruhe und beim Niedersächsischen Landesamt für Bodenforschung. Sie hatte Lehraufträge an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und der Freien Universität Berlin. In Fachpublikationen veröffentlichte sie Ergebnisse eigener Forschungen. Seit ihrer Ausbildung als Journalistin schreibt Dr. Heyn für Fachzeitschriften über aktuelle Themen aus Medizin und Pharmazie.
Anschrift der Verfasserin:
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