Justus von Liebig und die Pharmazie |
28.04.2003 00:00 Uhr |
Der vor 200 Jahren - am 12. Mai 1803 - geborene Justus von Liebig (1803 bis 1873) gilt als einer der bedeutendsten deutschen Chemiker. Als „Vater der organischen Chemie“, Wegbereiter der Agrikulturchemie und nicht zuletzt mit seinem geradezu legendären „Fleischextrakt“ erlangte er besondere Popularität. Diese spiegelt sich in einer schier unübersehbaren Anzahl von Arbeiten wider, die seinem Leben und Wirken gewidmet sind.
Neben umfangreichen Biografien (1 - 3) existieren auch mehrere Briefeditionen (4 - 6). Daher überrascht es, dass Liebig, der zeitweise in einer Apotheke tätig war, in der Pharmaziegeschichtsschreibung nur wenig Beachtung fand (7). Im Folgenden soll sein Verhältnis zur Pharmazie näher untersucht werden.
Kurze Apothekerlehrzeit
Im September 1817 begann Justus Liebig, der als Sohn eines Farbenhändlers und Kaufmanns in Darmstadt schon frühzeitig Neigungen zur Chemie zeigte, seine Lehre in der Apotheke in Heppenheim an der Bergstraße.
Die Offizin befand sich in einem am Markt gelegenen Gebäude, dessen Unterbau aus dem Jahre 1577 stammte und das 1710 nach einem Brand zusammen mit dem Rathaus im barocken Fachwerkstil neu errichtet worden war. 1792 verlegte Christoph Pirsch die 1784 gegründete Apotheke in dieses Gebäude. Sein Sohn Gottfried (1792 bis 1850), der 1816 die Leitung der Apotheke übernahm, hatte von 1815 bis 1816 das Pharmazeutische Privatinstitut von Johann Bartholomäus Trommsdorff (1770 bis 1837) in Erfurt besucht und im Herbst 1816 in Darmstadt seine Apothekerprüfung bestanden. 1822 avancierte Gottfried Pirsch zum Bürgermeister von Heppenheim.
In seiner Autobiografie schreibt Liebig, dass ihn die Apothekerlehrzeit bereits nach zehn Monaten ermüdet habe, weshalb ihn sein Lehrherr nach Hause schickte. Dies erweckt den Eindruck, als wäre sein Interesse an der Pharmazie schnell erlahmt. Jedoch scheint ihm die Ausbildung Freude gemacht zu haben. Schon nach einem Monat schrieb er nach Hause: „Ich besitze soeben die Zufriedenheit meines Herren, worüber ich mich sehr freue“. Ein halbes Jahr später bekannte er: „Der Herr Pirsch ist ganz ordentlich, und ich bin weiter ganz zufrieden“.
Im Juni 1818 schickte ihn Pirsch jedoch zu seinem Vater zurück. Über die Gründe gibt es verschiedene Versionen, die zum Teil von Liebig selber stammen. Vermutlich war es ihm peinlich, dass der Vater das Lehrgeld nicht mehr hatte aufbringen können. In seiner Autobiografie betonte er (2): „Die zehn Monate genügten aber, um mir eine vollkommene Kenntnis von den tausenderlei Dingen zu verschaffen, die man in einer Apotheke hat, sowie von ihrem Gebrauch und ihren vielerlei Anwendungen.“
Zum Studium nach Paris
1820 begann Justus Liebig das Studium der Chemie an der Universität Bonn bei Karl Wilhelm Gottlob Kastner (1783 bis 1857). Kastner, als Sohn eines Theologen im pommerschen Greifenberg geboren, hatte seine naturwissenschaftliche Ausbildung 1798 in der Apotheke in Swinemünde – der gleichen Offizin, die später der Vater Theodor Fontanes (1819 bis 1898) übernehmen sollte – begonnen (9). Während seiner Lehrzeit betrieb Kastner intensive Studien, führte chemische Versuche durch und verfasste erste wissenschaftliche Beiträge, die er in Trommsdorffs „Journal“ publizierte (10). Es erscheint daher nicht unwahrscheinlich, dass Liebigs Lehrherr Gottfried Pirsch als Schüler Trommsdorffs ihm das Studium bei dem Trommsdorff-Freund Kastner empfohlen hatte.
Kastner förderte Liebig ganz besonders und auch Liebig hing an seinem Lehrer. 1821 folgte er ihm nach Erlangen. Das Urteil des älteren Liebig über seinen Lehrer fällt indessen weniger positiv aus; in seinen autobiografischen Aufzeichnungen bemerkt er (3): „Der Vortrag von Kastner, welcher als der berühmteste Chemiker galt, war ungeordnet, unlogisch und ganz wie die Trödelbude voll Wissen beschaffen, die ich in meinem Kopfe herumtrug.“
1822 setzte Liebig seine Studien auf Empfehlung Kastners in Paris fort. Hier traf er auf eine neue Art der Chemie, wie er in seiner Autobiografie hervorhebt (11, S. 14):
„Die Vorträge von Gay-Lussac, Thénard, Dulong usw. hatten für mich einen unbeschreiblichen Reiz; die Einführung der astronomischen oder mathematischen Methode in der Chemie, welche jede Aufgabe womöglich in eine Gleichung verwandelt und bei jeder gleichförmigen Aufeinanderfolge zweier Erscheinungen einen ganz bestimmten kausalen Zusammenhang annimmt, welcher, nachdem er aufgesucht und aufgefunden ist, ‚Erklärung‘ oder ‚Theorie‘ heißt, hatte die französischen Chemiker und Physiker zu ihren großen Entdeckungen geführt.“
Diese Art der chemischen Forschung unterschied sich deutlich von der in Deutschland betriebenen. Wenn Liebig sich rückwirkend von seinem Lehrer Kastner lossagte, so war dies keine Undankbarkeit. Vielmehr steht es im Zusammenhang mit seiner Abwendung von der naturphilosophischen Richtung der Chemie, der Kastner mehr und mehr angehörte. Wie viele Naturforscher seiner Zeit – man denke an Friedrich Wilhelm Sertürner (1783 bis 1841) – erlag er der Faszination der Naturphilosophie. Inwieweit Liebigs Angriff gegen die Naturphilosophie zugleich eine „Metapher für seine Abneigung gegenüber der Homosexualität“ und damit eine Lossagung von dem Dichter August Graf von Platen (1796 bis 1835) war, dem Liebig in Erlangen mehr als nur geistig nahe gestanden hatte, kann nur vermutet werden (3).
Kaum Beachtung fand in der Liebig-Biografik, dass die Pariser Chemie nicht unerheblich von Apothekern geprägt wurde. Diese stellten ihre in den Apothekenlaboratorien gewonnenen experimentellen Erfahrungen in den Dienst der modernen Chemie. Obgleich Joseph-Louis Gay-Lussac (1778 bis 1850), das „Oberhaupt“ der französischen Chemie jener Zeit, selbst nicht dem Apothekerberuf entstammte, wirkten in seinem Laboratorium zahlreiche Pharmazeuten. Auch Louis Jacques Thénard (1777 bis 1857) hatte seine Ausbildung in einer Offizin begonnen.
Liebigs Werdegang wurde demnach nicht nur entscheidend von Apothekern geprägt; vielmehr weist seine Hinwendung zur exakten experimentellen chemischen Untersuchung Ähnlichkeit mit dem Herangehen vieler in der Chemie forschender Apotheker jener Zeit auf. Seine intensiven Studien in Paris und seine herausragende Begabung ließen ihn schon bald über das Niveau der meisten deutschen Chemiker, von denen zahlreiche dem Apothekerberuf entstammten, hinauswachsen.
Als Hochschullehrer in Gießen
Am 16. Mai 1824 wurde Justus Liebig als außerordentlicher Professor an die Universität Gießen berufen, nachdem ihm die Universität Erlangen mit Kastners Unterstützung im Juni 1823 ein Doktordiplom verliehen hatte. In Gießen begründete Liebig, der im Dezember 1825 zum Ordinarius ernannt wurde, ein modernes chemisches Institut. Hier wurde der Chemieunterricht nach neuartigen Gesichtspunkten, das heißt in einer Einheit von theoretischem und praktischem (Labor)unterricht, abgehalten.
Liebig wird häufig als „Schöpfer“ des modernen Chemiestudiums bezeichnet, obwohl er dafür immer auf Vorbilder verwies. Neben den französischen Chemikern muss vor allem Trommsdorff genannt werden, der 1795 in Erfurt ein pharmazeutisches Privatinstitut eröffnet hatte. Liebig schrieb am 20. Januar 1828 an Trommsdorff (12):
„Sie haben durch unermüdete Thätigkeit einem Stande, dessen Wichtigkeit früher verkannt worden ist, eine rein wissenschaftliche Bildung gegeben, und ihn in Deutschland auf eine Stufe erhoben, wie in keinem anderen Lande. Durch die Begründung eines rein chemischen Institutes suchte ich die Ausbreitung der Chemie besonders für angehende Lehrer und für andere Stände zu bewirken; und ich schätze mich glücklich, daß dieses Unternehmen Ihren Beyfall gefunden hat.“
1825 teilte Liebig dem hessischen Ministerium in Darmstadt mit (11, S. 20): „Sie werden aus Beiliegendem ersehen, daß der Professor Wernekingk, Umpfenbach und ich zusammen uns verbunden haben, um ein chemisch-pharmazeutisches Institut zu errichten. Es bestehen in Deutschland nur zwei solche Anstalten, das eine in Erfurt unter der Leitung des Prof. Trommsdorff, das andere in Jena, welches Herr Dr. Göbel errichtet hat.“
Im Laboratorium in GießenDas Laboratorium in dem alten Wachtlokal enthielt in der Mitte einen gemauerten Herd mit Sandbad, in einer Ecke einen zweiten Ofen mit einem Kessel, der als Sandbad für größere Retorten diente, außerdem an der West- und Nordwand 9 Arbeitsplätze. Treten wir in das Laboratorium ein. Für einen Augenblick sind wir im Zweifel, wer von den hier beschäftigten 8 oder 9 Personen der Professor ist. Der mit dem auffallend schönen Kopf und den durchdringenden, dominierenden Augen muß es wohl sein, obwohl er der Jüngste der ganzen Gesellschaft zu sein scheint. Er steht an seinem Arbeitstisch, neben ihm die Schüler, die jeden Augenblick kommen, ihn dies oder das zu fragen.
Auf dem Herd in der Mitte stehen einige kleine Öfen mit glühenden Kohlen, Gas gab’s ja damals noch nicht, und die Weingeistflamme langt nur für kleine Gefäße. Da dampft in einer großen Porzellanschale eine kochende Brühe, dort destilliert man eine Säure aus einer mächtigen Glasretorte. Jetzt platzt die Retorte und die Säure fließt auf die glühenden Kohlen, und im Augenblick erfüllt sich der Raum mit Qualm und ätzendem Dampf. Ventilation gibt’s nicht, also schnell werden Türen und Fenster aufgerissen und Meister und Gesellen flüchten hinaus ins Freie, bis sich der Qualm verzogen hat.
Aus: Volhards Liebig-Biographie Bd. 1, S. 62 - 63.
Neben der Chemie gehörte von Anfang an auch die Pharmazeutische Chemie zu Liebigs Lehraufgaben. Gemeinsam mit dem Professor für Mineralogie, Friedrich Wernekingk (1798 bis 1835), und dem Vertreter der Mathematik, Hermann Umpfenbach (1798 bis 1862), wollte Liebig daher ein pharmazeutisch-technisches Institut an der Universität einrichten. Die Mehrheit des Senats der Universität lehnte dies jedoch ab. Ein Mitglied hob in seinem Votum hervor, dass es zwar die Aufgabe des Staates sei, Beamte auszubilden, nicht jedoch „Apotheker, Seifensieder, Bierbrauer, Likörfabrikanten, Färber, Essigsieder, Droguisten und Spezereikrämer“ (13, S. 91).
Liebig und seine Kollegen richteten daher auf privater Basis – ähnlich den von Apothekern begründeten Privatinstituten – eine „Pharmaceutisch-technische Lehranstalt“ ein, wobei sie ausdrücklich betonten, dass dem „angehenden Pharmaceuten [...] unmöglich die Kenntnisse genügen, welche er sich in der Officine in den sogenannten Lehrjahren aneignet“, sondern dieser vielmehr gründlich Naturwissenschaften und Chemie studieren müsse (14).
Es verwundert daher nicht, dass die Anzahl der Studenten der Pharmazie in den ersten Jahren weit über der der Chemie lag. Zwischen 1830 und 1835 waren nur 15 Studenten der Chemie, aber 53 Pharmaziestudenten immatrikuliert. Während die Zahl der Chemiestudenten, insbesondere nach 1840, beträchtlich stieg, blieb die der Pharmaziestudenten in etwa gleich, so dass insgesamt in der „Liebig-Ära“ 252 Apotheker ihre Ausbildung in Gießen erhielten (3, S. 57). Darunter waren unter anderem Wilhelm Mettenheimer (1802 bis 1864), der, nachdem er 1827 unter Liebig promoviert worden war, ab 1830 die Pharmakognosie in Gießen vertrat, und Theodor Marsson (1816 bis 1892), der sich später als Botaniker einen Namen machte.
Auch der pharmazeutische Fabrikant und Sohn Heinrich Emanuel Mercks (1794 bis 1855), Georg Merck (1825 bis 1873), gehörte zu Liebigs Schülern. 1848 beauftragte Liebig Georg Merck in Gießen mit der Analyse von Opiumrückständen. Dieser fand darin ein neues Alkaloid, dem er den Namen Papaverin gab (15, 16).
Als Apothekenrevisor tätig
Obwohl Liebig kein Apotheker war, beauftragte ihn das Großherzoglich hessische Ministerium des Innern und der Justiz in Darmstadt am 9. Oktober 1827 mit Apothekenrevisionen (17).
Von Seiten der Medizinischen Fakultät der Universität Gießen, die sich übergangen fühlte, wurden allerdings Zweifel an Liebigs Eignung als Visitator geäußert. So betonte man, dass Liebig nur für die Prüfung chemischer Präparate befähigt sei, nicht jedoch für die „weit wichtigere Warenkunde, besonders im naturhistorischen und botanischen Teil der Apothekerkunst“. Das hessische Ministerium verwies in seinem Antwortschreiben auf den Göttinger Professor Friedrich Stromeyer (1776 bis 1835), der gleichfalls, ohne Apotheker zu sein, im Königreich Hannover Apotheken besichtigte. Zugleich wurde ausdrücklich der Wunsch betont, Apothekenbesichtigungen in „chemischer Beziehung“ vornehmen zu lassen.
Bis zum Beginn des Wintersemesters 1828/29 führte Liebig zwölf Apothekenvisitationen durch. Im Februar 1830 bat er mit Rücksicht auf seine Gesundheit und vielfältige andere Aufgaben, von der Pflicht der Apothekenvisitationen entbunden zu werden. An seine Stelle trat sein Schüler Mettenheimer; jedoch wurde Liebig im Mai 1831 erneut gebeten, eine Besichtigung vorzunehmen.
Obwohl für Liebig die Revisionen eine zusätzliche Einnahmequelle darstellen, übernahm er nach 1831 keine mehr. Die sechs überlieferten Protokolle enthalten zahlreiche Beanstandungen, die unter anderem die Reinheit der Präparate und die Vollständigkeit der Arzneimittel, aber auch die Brauchbarkeit von Waagen und Gewichte betrafen. Auf Grund der Beschwerde eines Apothekers, dem Liebig unzureichende Kenntnisse bescheinigt hatte, wurde ihm allerdings das Recht verwehrt, Apotheker zu examinieren. Sein Auftrag wurde ausschließlich auf die Untersuchung des Zustandes der Apotheken beschränkt (17).
Die „Annalen der Pharmacie“
1831 wurde Liebig Mitherausgeber des „Magazin für Pharmacie“. Diese Zeitschrift hatte Georg Friedrich Hänle (1763 bis 1824) 1822 als „süddeutsches Gegenstück“ des Brandesschen „Archiv des Apothekervereins“ mit dem Titel „Magazin für die neuesten Erfahrungen, Entdeckungen und Berichtigungen im Gebiete der Pharmacie mit Hinsicht auf physiologische Prüfung und praktisch bewährte Anwendbarkeit der Heilmittel, vorzüglich neu entdeckter Arzneistoffe in der Therapie“ gegründet (18). Das Periodikum sollte zugleich Mitteilungen des Pharmazeutischen Vereins Baden den Mitgliedern zugänglich machen.
Nach Hänles Tod übernahm ab 1824 Philipp Lorenz Geiger (1785 bis 1836) die Herausgabe des „Magazins“ (19). Geiger, der seit 1818 als Dozent an der Heidelberger Universität lehrte, hatte 1825 Liebig bei der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte in Frankfurt am Main kennen gelernt (20). Zu einem noch engeren Kontakt kam es 1830 auf der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Hamburg, auf der bekanntlich eine pharmazeutisch-chemische Abteilung entstand und Trommsdorff zu deren Vorstand gewählt wurde (21, 22). Geiger, der Liebigs Interesse auf die Alkaloide lenkte, gab das „Magazin“ mit größter Gewissenhaftigkeit heraus, jedoch belastete ihn die Arbeit zunehmend (20). Nach W. Brock soll auch Liebigs Geldknappheit Geiger veranlasst haben, ihn als Mitherausgeber vorzusehen (3).
Am 3.Juli 1831 berichtete Geiger an Trommsdorff (23): „Aus der Inlage ersiehst du, dass ich mich wegen dem Magazin mit Freund Liebig verbunden habe. Meine zu sehr gehäuften Geschäfte machen mir es unmöglich die Redaction ferner allein zu besorgen und ich hoffe das Journal soll dadurch gewinnen.“
Obwohl Liebig und Geiger Aufbau und Umfang der Zeitschrift nicht änderten, sollte diese schneller erscheinen und durch engeren Druck mehr Beiträge enthalten. Auch Geiger hatte eingesandte Arbeiten stets kritisch geprüft und experimentell nachgearbeitet; er hoffte jedoch, mit der Aufnahme Liebigs in die Redaktion diese „Experimentalkritik“ noch zu verstärken. Liebig gab mit seiner Kompromisslosigkeit und seinem schwungvollen Stil der Zeitschrift bald einen anderen Charakter (20, S. 348 - 350).
Nachdem seit 1825 immer wieder die zu große Anzahl pharmazeutischer Zeitschriften beklagt worden war, vereinbarten Liebig, Geiger und Rudolph Brandes (1795 bis 1842) eine Zusammenlegung des „Magazins“ mit dem „Archiv des Apothekervereins im nördlichen Teutschland“. Während die Zählung der beiden Zeitschriften weiter lief, erhielt das neue Journal den Titel „Annalen der Pharmacie“. Seit 1832 wurde es gemeinsam von Brandes, Geiger und Liebig ediert. Die Herausgeber wollten mit den „Annalen“ zu einer noch stärkeren wissenschaftlichen Ausrichtung der Pharmazie beitragen. Dazu sollten die Aufsätze sorgfältig ausgewählt werden, „so dass nur das, was wirklichen Werth hat, darin einen Platz finden wird und alles ungenügende ausgeschlossen bleibt“ (20, S. 356). Die Zeitschrift erschien monatlich, wobei drei Hefte jeweils einen Band bildeten.
Brandes, der seit 1820 als Oberdirektor an der Spitze des „Apotheker-Vereins im nördlichen Teutschland“ stand, zählte zu den wissenschaftlich engagierten Offizinapothekern. Dennoch erwies sich die Zusammenarbeit mit Liebig zunehmend als problematisch (24). Nachdem Trommsdorff 1834 mitgeteilt hatte, sein „Neues Journal der Pharmacie“ nicht weiterführen zu wollen, baten ihn Geiger und Liebig, seinen Namen ihrem Journal „vorsetzen“ zu dürfen, um die Annalen nunmehr als Vereinigung dreier Zeitschriften erscheinen zu lassen. Da Trommsdorff zögerte, schrieb Geiger ihm seine und Liebigs Vorstellungen. Trommsdorff willigte schließlich ein. Brandes war erstaunt darüber, da er weder von Liebig noch von Geiger informiert worden war (23).
1835 kam es zum endgültigen Bruch zwischen Liebig und Brandes, der seine Zeitschrift danach unter dem Titel „Archiv der Pharmacie des Apotheker-Vereins im nördlichen Teutschland“ wieder allein herausgab (25). Während Brandes und Geiger in ihren Briefen an Trommsdorff die Gründe nur andeuteten, fand Liebig deutlichere Worte (26):
„Brandes ist zur Redaction eines Journals durchaus untauglich und unfähig, bey lebhaftem Eifer und der heißesten Begierde sich auszuzeichnen fehlen ihm alle unumgänglich nothigen Qualitaten eines Naturforschers, er versteht nicht die Kunst eine Beobachtung zu machen, arbeitet ungenau und unzuverlässig, besizt kein Urtheil, und seine Phantasie welche thätiger ist als sein Verstand macht daß alles Wahre unwahr in seinen Händen wird. Ich könnte Ihnen zahllose Beyspiele zu dieser Ansicht geben, sie war die Ursache daß wir uns von ihm trennten. [...] Ein solcher Mann darf und soll das Organ einer Wissenschaft nicht seyn, denn er ist der Representant der Flachheit und oberflächlichen Kenntnisse.“
Brandes hatte vorgeschlagen, dass sich die „Annalen“ stärker der Chemie zuwenden, während das „Archiv“ sich auf pharmazeutische Themen beschränken sollte (20, S. 359). In den folgenden Jahren publizierten viele bedeutende Chemiker in den „Annalen“, so etwa Friedrich Wöhler (1800 bis 1882), Eilhard Mitscherlich (1794 bis 1863), Jöns Jacob Berzelius (1779 bis 1848) und Gay-Lussac. Nach Geigers Tod trat Heinrich Emanuel Merck (1794 bis 1855), zu dem Liebig in freundschaftlichem Kontakt stand, für kurze Zeit in die Redaktion ein. Liebig wollte nicht auf einen Apotheker als Mitredakteur verzichten, hatte er doch ausdrücklich erklärt: „die Haupttendenz der Annalen bleibt unverändert, reine Pharmazie, und alle Zweige derselben bilden ihre Grundlage“ (20, S. 364).
1836 wurde schließlich der Apotheker Friedrich Mohr (1806 bis 1879) Mitherausgeber, der jedoch schon 1838 wieder zurücktrat, da ihn Liebigs Entschluss brüskierte, die „Annalen“ mit Jean Baptiste André Dumas (1800 bis 1884), Professor an der Sorbonne in Paris, und Thomas Graham (1805 bis 1869), Professor der Chemie in London, dreisprachig herauszugeben.
Ab 1838 gehörte Wöhler der Schriftleitung an. Die Zeitschrift veränderte sich zu einer vornehmlich chemischen und erschien daher ab 1840 unter dem Titel „Annalen der Chemie und Pharmacie“ (25). Erst nach Liebigs Tod erfolgte erneut ein Titelwechsel in „Justus Liebig’s Annalen der Chemie“.
Der Pharmazie vielfach verbunden
Liebigs Beziehungen zur Pharmazie waren sehr vielfältig. An seiner Ausbildung waren nicht wenige Apotheker beteiligt. Neben der Apothekenlehrzeit prägte ihn vor allem Kastner, der auch seinen Weg nach Frankreich lenkte, wo wiederum einige Apotheker Einfluss auf Liebig ausübten.
Liebig selbst begründete ein pharmazeutisches Privatinstitut, bildete in Gießen über 250 Apotheker aus und hatte somit großen Anteil an der Heranbildung einer wissenschaftlich geschulten Apothekergeneration. In seiner Unterrichtsmethodik folgte er dem Beispiel Trommsdorffs, dessen Leistungen er immer wieder hervorhob.
Als Apothekenrevisor und Herausgeber einer Zeitschrift, die sich zunächst vor allem als pharmazeutische verstand, leistete der Chemiker einen wichtigen Beitrag zur Verwissenschaftlichung der Pharmazie. Auch mit seinen Untersuchungen wandte er sich gelegentlich pharmazeutischen Fragen zu.
Der Konflikt zwischen Liebig und Brandes spiegelt die veränderten Verhältnisse in den Naturwissenschaften im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts. Mit der Entstehung des Chemikerberufs, der nicht mehr zwingend über eine abgeschlossene pharmazeutische oder medizinische Ausbildung führen musste, waren nur noch wenige Apotheker in der Lage, die chemische Forschung durch herausragende Ergebnisse zu bereichern. Selbst die inzwischen beachtlich angewachsene Literatur zu verfolgen, bereitete den meisten Schwierigkeiten. Im Gegensatz dazu war die Anzahl der Publikationen und Periodika im ausgehenden 18. Jahrhundert noch überschaubar. Liebigs scharfes Urteil über Brandes verdeutlicht die Kluft, die zwischen professioneller Hochschulchemie und Liebhaberforschung von Offizinapothekern inzwischen bestand.
Das lange Festhalten an der Pharmazie im Titel der „Annalen“ zeigt gleichwohl, dass Liebig auf Apotheker als Abonnenten ebenso wenig verzichten wollte wie auf pharmazeutisch-chemische Themen. Er selbst wandte sich, wie auch andere Chemiker seiner Zeit, mit Enthusiasmus dem neuen Gebiet der Alkaloidchemie zu (8) und beschäftigte sich mit weiteren Arzneistoffen, etwa dem Salicin (27).
Schließlich erinnert Liebigs außergewöhnliches Geschick, praktisch relevante Forschungsthemen aufzugreifen – man denke an seine Studien über Kunstdünger und an den Fleischextrakt –, an seine pharmazeutische Vergangenheit. Immerhin hatten viele Apotheker des 18. und 19. Jahrhunderts solche, dem „Utilitarismus“ verpflichtete Untersuchungen erfolgreich betrieben. Liebig unterschied sich damit von anderen Chemikern seiner Zeit, die, nur der „reinen Wissenschaft“ verpflichtet, wenig Interesse an anwendungsorientierter Forschung zeigten. Dass Liebig diese Ausrichtung seinem engem Kontakt zur Pharmazie verdankt, liegt nahe.
Anmerkungen und Literatur
Der Autor
Christoph Friedrich hat nach dem Pharmaziestudium und der Diplomarbeit Geschichtswissenschaften studiert und wurde 1983 mit einer pharmaziehistorischen Arbeit promoviert. 1987 habilitierte er sich für das Fach Geschichte der Pharmazie. 1990 erhielt er einen Lehrauftrag mit Promotionsrecht für Geschichte der Medizin an der Universität Greifswald und leitete dort die Abteilung Geschichte der Pharmazie/Sozialpharmazie. Seit Oktober 2000 ist er geschäftsführender Direktor des Instituts für Geschichte der Pharmazie Marburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Entwicklung der Pharmazie im 18., 19. und 20. Jahrhundert, Apothekerbriefwechsel, Arzneimittelgeschichte und pharmazeutische Kulturgeschichte.
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. Christoph Friedrich
Institut für Geschichte der Pharmazie
Roter Graben 10
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