Pharmazeutische Zeitung online

Suche nach starken Analgetika ohne kritische Nebenwirkungen

07.04.2003  00:00 Uhr

Schmerztherapie

Suche nach starken Analgetika ohne kritische Nebenwirkungen

von Ulrike Holzgrabe, Holger Projahn und Daniela Ulmer, Würzburg

Der »International Association for the Study of Pain« gemäß ist »Schmerz ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebsschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird«. Jeder Mensch hat eine eigene Schmerzgeschichte, die die Stärke der Schmerzempfindung moduliert. Im Folgenden geht es um alte und neue Analgetika zur Bekämpfung starker Schmerzen.

Opium und pflanzliche Extrakte zur Hemmung von Schmerzen wurden schon im alten Assyrien, Ägypten und Griechenland verwandt. Bei Teodorico de Borgogni, der im 13. Jahrhundert in Bologna lebte, lässt sich nachlesen, dass die Säfte stark wirkender Frischdrogen wie Bilsenkraut, Mandragora, Tollkirsche, Schierling, Mohn oder Opium zusammen mit Efeusaft von einem frischen Meeresschwamm aufgenommen und an der Sonne getrocknet wurden, um als Schlafschwämme genutzt zu werden. Diese Schlafschwämme wurden ebenso wie verschiedene Schlaftücher und -umschläge in Nase und Mund appliziert, um, wie der Name schon sagt, Schlaf herbeizuführen und Schmerzen zu bekämpfen. Vor der Anwendung mussten Schwamm und Tücher mit warmem Wasser angefeuchtet werden. Die Dosierungsmöglichkeiten waren so ungenau, dass viele Menschen an dieser Behandlung starben.

 

Auf ein Wort Bei der Anwendung von Opioiden in der Schmerzbehandlung entsteht Abhängigkeit nur dann, wenn nicht sachgerecht therapiert wird. Die gängigen Wirkspiegel, die man heute mit allen, sei es oralen, rektalen, intravenösen oder auch transdermalen Darreichungsformen erzielen kann, machen eine Entstehung von Abhängigkeit unwahrscheinlich, da nur Spitzenkonzentrationen im Gehirn Euphorie und damit psychische Abhängigkeit erzeugen. Zur Behandlung chronischer Schmerzen sollten gerade retardierte Opioide nach der Uhr und nicht »schmerzkontingent« verwendet werden, sodass konstante Wirkspiegel im therapeutischen Bereich erzielt werden.

Joranson, D. E., et al., J. Am. Med. Assoc (2002) 283, 1710-1714

 

Wirksames Prinzip

Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde von dem Apotheker Sertürner das »wirksame Prinzip«, das Morphin, aus Opium isoliert. Sehr schnell wurde erkannt, dass Morphin neben der hervorragenden analgetischen Potenz einige schwer wiegende Nebenwirkungen hervorruft (1).

  • Durch Hemmung des Atemzentrums in der Formatio reticularis kommt es auf Grund der Dämpfung der Empfindlichkeit entsprechender Rezeptoren zur Atemdepression.
  • Eine Bradykardie wird wahrscheinlich durch zentrale Vagus-Stimulation induziert. Durch Histaminausschüttung kann reflektorisch allerdings auch eine Tachykardie entstehen.
  • Durch Hemmung der gastrointestinalen Motilität und Flüssigkeitssekretion, wiederum zentral über Inhibierung übergeordneter Zentren in der Formatio reticularis vermittelt, kommt es zur Obstipation, die man umgekehrt bei der Therapie von Durchfallerkrankungen ausnutzen kann. Man denke an die früher genutzte Opiumtinktur oder den Methadonabkömmling Loperamid, der als Antidiarrhoikum zugelassen ist.
  • Außerdem sind Nausea und Erbrechen, ausgelöst durch Aktivierung entsprechender Rezeptoren in der Chemorezeptoren-Triggerzone der Area postrema, häufige und störende Nebenwirkungen der Opioideinnahme. Gegen diese Nebenwirkungen wird aber während längerer Opioidgabe Toleranz entwickelt.
  • Durch Dopamin-Ausschüttung im Limbischen System wird insbesondere von Opioiden, die auf Grund ihrer Lipophilie schnell im Gehirn anfluten, Euphorie hervorgerufen. Durch wiederholte Aktivierung dieses Systems kann eine psychische Abhängigkeit begleitet von Toleranz und physischer Abhängigkeit entstehen.

Da Sertürner zur Untersuchung der pharmakologischen Eigenschaften des von ihm isolierten Wirkstoffes häufiger Morphin einnahm, ist auch er schließlich abhängig geworden.

Um die oben erwähnten Nebenwirkungen zu minimieren, wurde über viele Jahrzehnte versucht, durch Variationen des Morphingerüstes zu besseren Analgetika zu kommen. 1874 wurde Diacetylmorphin – besser bekannt unter dem Namen Heroin – als nicht abhängig machendes Hustenmittel angepriesen. Heute wissen wir, dass Heroin in jeder Beziehung Morphin in seinen Wirkungen übertrifft, da es auf Grund seiner erhöhten Lipophilie sehr schnell im Gehirn anflutet und damit den so genannten »Morphinkick« induziert.

In den folgenden Jahren wurden halbsynthetische Analoga wie Dihydromorphin, Dihydrocodein, Oxymorphon und Oxycodon, die auch heute noch im Handel sind, hergestellt. Es folgte die »Abspeckung« des Morphingerüstes, die zu Pethidin, Fentanylderivaten und Methadon führte (2). Letztlich jedoch konnte mit all diesen Substanzen keine Dissoziation der analgetischen Wirkung von den Nebenwirkungen erzielt werden. Warum ist das so?

 

Opioide als Waffen Im Oktober 2002 wurde in einem Theater in Moskau versucht, 750 Geiseln aus der Hand tschetschenischer Terroristen zu befreien. Nach Auskunft des russischen Gesundheitsministers Yuri Shevchenko wurde dazu ein vernebelbares, auf Fentanyl basierendes Opiat eingesetzt. Diese Aussage wurde später von russischen Ärzten indirekt bestätigt. Durch Zufall hatten sie herausgefunden, dass die beobachteten toxischen Effekte des unbekannten »Knock-out«-Gases mit Naloxon aufgehoben werden können. Deutsche Ärzte entdeckten bei der Untersuchung von Überlebenden in Körperflüssigkeiten der Patienten außerdem Halothan. Circa 115 Menschen sind bei dieser Aktion ums Leben gekommen. Die Nutzung von Opioiden als chemische Waffe, mit der man Menschen betäuben und töten kann kann, ist nicht neu. Auch die US-Amerikaner sind seit Mitte der 90er-Jahre zum Einsatz derartiger Substanzen zur Bekämpfung von Unruhen in der Lage.

 

Opioidrezeptoren

Unterschiede im Wirkprofil sowie im Nebenwirkungsspektrum der Opioide sind auf die Tatsache zurückzuführen, dass diese unterschiedliche Rezeptoren besetzen. Es gibt drei Typen von Opioidrezeptoren, die nach den an den jeweiligen Rezeptor bindenden »Leitsubstanzen« benannt worden sind: den m-Rezeptor für Morphin, den k-Rezeptor für Ketocyclazocin und den d-Rezeptor für Deltorphin. Der anfänglich zu der Familie der Opioidrezeptoren gezählte s-Rezeptor mit den Leitsubstanzen SKF-10.047 und N-Allylnormetazocin (SKF-10.081) wird heute als »nicht-Opiat-zugehörig« angesehen; auch wird seine physiologische Rolle in Frage gestellt.

1994 wurde ein weiterer Rezeptor der Opioid-Rezeptoren-Familie, der so genannte ORL-(Opioid-Receptor-Like)1-Rezeptor identifiziert (3). Wie der Name sagt, ist man sich über seine Funktion noch nicht im Klaren. Gefunden wurde er bei der Suche nach dem Rezeptor für das schmerzerregende Nociceptin. Doch dazu später mehr. Zunächst sollen hier die Funktionen der drei »Klassiker« m, k und d beschrieben werden.

Drei Klassiker

Die Opioidrezeptoren gehören zu den so genannten G-Protein-gekoppelten Rezeptorsystemen (4). Das bedeutet, dass nach Besetzung der Rezeptoren mit einem Agonisten via G-Proteine die Adenylatcyclase gehemmt und die neuronale Transmission über eine Interaktion mit Ionenkanälen inhibiert wird. Bei Aktivierung der Opioidrezeptoren führt dies zu einer Öffnung von Kaliumkänalen, dem Einstrom von Kaliumionen in die Zelle und damit zur Hyperpolarisation und verminderten Erregbarkeit der Nervenmembran. Außerdem werden zusätzlich spannungsabhängige Calcium-Kanäle blockiert, wodurch die Freisetzung von Neurotransmittern gehemmt und die synaptische Erregungsübertragung geschwächt wird.

Obgleich die Aminosäuresequenz der vier Opioidrezeptor-Subtypen mit einer Homologie zwischen 50 und 70 Prozent sehr ähnlich ist, gibt es inzwischen für jeden Subtyp selektive peptidische und nicht-peptidische Liganden, die Auskunft über ihre pharmakologischen Effekte geben. Weitere Erkenntnisse lieferten so genannte »Knock-out«-Experimente, sprich: vergleichende Untersuchungen an Tieren, die über die jeweiligen Gene der entsprechenden Rezeptoren nicht verfügen.

m-Agonisten

Die hohe analgetische Potenz von selektiven m-Liganden wie Morphin, Codein und deren Abkömmlingen oder Fentanyl und seinen Derivaten ist untrennbar mit Atemdepression, Bradykardie, Obstipation, Toleranz und Euphorie verknüpft. Da alle im Handel befindlichen Opioide im wesentlichen m-Affinität aufweisen, haben sie, von Nuancen abgesehen, auch dasselbe Wirk- und Nebenwirkungsprofil.

k-Agonisten

Die Besetzung der k-Rezeptoren führt ebenfalls zu einer guten Analgesie, dieses jedoch bei wesentlich geringer ausgeprägter Atemdepression, Bradykardie und Toleranz. Deshalb hat die Wissenschaft große Anstrengungen unternommen, selektive k-Liganden zu entwickeln. Neben Forschungen an Diazabicyclononanonen in unserem Arbeitskreis (5, 6) wurden intensive Untersuchungen auch an den Arylacetamiden (7, 8) durchgeführt. In klinischen Prüfungen stellte sich für Enadolin und Spiradolin heraus, dass sie zwar ausgezeichnet den Schmerz ausschalten, gleichzeitig aber Dysphorie auslösen. Damit kamen k-Agonisten als zentral wirksame Analgetika nicht mehr in Frage. Seit einigen Jahren wird jedoch zunehmend diskutiert, dass in der Schmerzhemmung neben dem zentralnervösen auch ein peripher lokalisiertes Opioidsystem eine Rolle spielt. So liegt die Suche nach peripher wirksamen, selektiven k-Agonisten, denen die unangenehme, zentral induzierte Dysphorie fehlt, nahe. Diese könnten bei Wund-, Entzündungs- und Verbrennungsschmerzen eingesetzt werden (9).

In klinischen Studien befinden sich zurzeit zwei k-Liganden, die in der Peripherie analgetisch und antiinflammatorisch wirken. So wirkt zum Beispiel Asimadolin nicht zentral und sollte bei rheumatoider Arthritis eingesetzt werden. Jedoch hat der Wirkstoff Schmerzempfindlichkeit steigernde und proinflammatorische Eigenschaften. Fedotozin wird derzeit auf seine Wirksamkeit bei viszeralen Schmerzen untersucht. Es bleibt abzuwarten, ob und wann ein peripher wirkender k-Agonist Eingang in die Behandlung von Schmerzen findet.

»Gemischte« Liganden

Wurde hier bislang nur über relativ selektive Agonisten mit hoher Rezeptoraffinität berichtet, so soll anhand des zunächst als Antitussivum entwickelten Tramadol gezeigt werden, dass eine gute Analgesie auch auf anderen Wegen erzielt werden kann. Schon sehr früh wurde beobachtet, dass die analgetische Potenz von Tramadol nicht mit seiner Affinität zum m-Rezeptor korreliert, weil die Substanz nur eine durchschnittliche Affinität zu diesem Opioidrezeptor-Subtyp zeigt. Heute wissen wir, dass zu den analgetischen Effekten von Tramadol auch die Hemmung der Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin auf spinaler Ebene beiträgt.

Bemerkenswert ist, dass lediglich (+)-Desmethoxytramadol die hohe Affinität zum m-Rezeptor aufweist, während das (-)-Enantiomer des Tramadols mit Noradrenalin und das (+)-Enantiomer mit Serotonin interferiert (2, 10). Dieser »gemischte« Wirkmechanismus ist es, der mit sich gebracht hat, dass Tramadol nicht als Betäubungsmittel, sondern in verschiedenen Darreichungsformen zur Behandlung starker Schmerzen eingesetzt wird.

Zu den gemischten Liganden gehören auch Substanzen wie Pentazocin, Butorphanol, Buprenorphin und Nalbuphin. Sie besitzen neben einer agonistischen Wirkung am k-Rezeptor eine antagonistische oder partiell-agonistische Wirkkomponente am m-Rezeptor. Dies führt zu einer guten analgetischen Wirksamkeit bei gleichzeitig geringer Atemdepression, fehlender Obstipation und meist schwachem Abhängigkeitspotenzial (11). Überwiegt, wie bei Pentazocin und Buprenorphin, die m-Komponente, steigt die Abhängigkeitsproblematik. Ist, wie bei Nalorphin und Cyclazocin, eine starke m-Komponente vorhanden, verhindert die Dysphorie den therapeutischen Einsatz.

d-Agonisten

Die wohl bekanntesten und potentesten Vertreter der nicht-peptidischen d-opioiden Agonisten stellen die beiden Diphenylmethylpiperazinderivate SNC80 und BW373U86 sowie das 2,6-Diazanaphthacenderivat TAN67 dar. Sie gehören zu den pharmakologisch am besten charakterisierten selektiven d-Agonisten, die derzeit im Fokus der Wissenschaft stehen. Allen Substanzen gemein ist ihre als Ki (Dissoziationskonstante des Rezeptor-Ligand-Komplexes) gemessene, hohe Affinität zum d-Rezeptor. So bindet SNC80 mit einer Ki = 1,78 nM am d-Rezeptor und mit nur mäßiger Affinität von Ki = 442 nM beziehungsweise Ki = 882 nM am k- beziehungsweise m-Rezeptor. Gleiches gilt für TAN67, welches mit einer Ki = 1,22 nM am d-Rezeptor und mit schlechter Affinität am k- beziehungsweise m-Rezeptor (Ki = 1790 nM beziehungsweise Ki = 2320 nM) bindet (12). BW373U86 dagegen hat eine gute Affinität von Ki = 0,91 nM zum d-Rezeptor, aber auch zum m-Rezeptor (Ki = 36 nM) (13).

Die d-Agonisten sind die schwächsten antinozizeptiv wirksamen Substanzen der opioiden Verbindungen. Die Beurteilung ihrer analgetischen Potenz ist nicht einfach, mangelt es doch manchen Substanzen an Selektivität (BW373U86), sodass zum Beispiel Affinitäten zum m-Rezeptor für die Analgesie verantwortlich sein könnten. Im Fall von SNC80 stellte sich heraus, dass die analgetische Wirkung nicht durch die Substanz selbst, sondern durch den am m-Rezeptor agonistisch wirksamen Metaboliten BW373U86 hervorgerufen wird (2).

Die Stereochemie spielt bei Rezeptor-Ligand-Interaktionen eine große Rolle. So vermittelt die Verbindung (-)-TAN67 bei intrathekaler Applikation eine dosisabhängige Analgesie bei Mäusen (ED50 = 17,1 nM/Maus). Racemisches (+/-)-TAN67 zeigte keine antinozizeptive Wirkung. (+)-TAN67 kann, bedingt durch die Sensibilisierung von N-Methyl-D-Aspartat-(NMDA-) Rezeptoren, sogar Schmerzen auslösen. Der analgetische Effekt von (-)-TAN67 war ausschließlich durch BNTX (7(E)-Benzylidenenaltrexon), einem d1-rezeptorsubtypischen Antagonisten, vollständig antagonisierbar. Dies deutet darauf hin, dass bei der Antinozizeption dieser Rezeptorsubtyp eine wichtige Rolle spielen könnte (14).

Gesichert ist die Erkenntnis, dass d-Agonisten den analgetischen Effekt von Morphin verstärken. Es kann selbst dann eine analgetische Wirkung erzielt werden, wenn Morphin in subanalgetischen Dosen gegeben wird (15). Dieser Effekt beruht auf einer Art »cross-talk« zwischen m- und d-Rezeptoren. d-Agonisten vermitteln hier eine Hemmung der spinalen Freisetzung von CCK (Cholecystokinin), welches pronozizeptive Eigenschaften besitzt. Diese Freisetzung wird durch Aktivierung von m-Rezeptoren induziert (16, 17).

Als sublinguale Formulierung befindet sich derzeit die Substanz DPI-3290 der Firma Ardent Pharmaceuticals in klinischen Phase-1-Studien. Sie besitzt eine gemischte m/d-agonistische Aktivität und folgt somit dem oben genannten Prinzip.

Des Weiteren werden d-Agonisten sowohl antidepressive Eigenschaften als auch konvulsive Wirkungen zugesprochen. So wurde eine antidepressive Wirkung im Tiermodell für BW373U86 nachgewiesen. Diese Substanz zeigte sich klassischen Antidepressiva wie dem Desipramin, aber auch modernen Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRIs) wie dem Fluoxetin ebenbürtig (18). Neuere Befunde belegen, dass sich in der Behandlung von Morbus Parkinson im Tiermodell d-Agonisten wie SNC80 als nützlich erweisen. Man weiß, dass opioide endogene Peptide wie die Enkephaline die Verarmung an Dopamin im ZNS kompensieren können (19).

Rolle bei Alkoholkonsum

Stichwort »Alkoholentzug«: Über eine Involvierung des endogenen opioiden Systems beim Konsum von Alkohol besteht heute kein Zweifel. Jedoch ist unklar, welche Rolle die einzelnen Subtypen der opioiden Rezeptoren spielen. Besonders die Rolle des d-Rezeptors wird kontrovers diskutiert. Einerseits wurde der Einfluss von d-Liganden auf Alkoholkonsum untersucht. Andererseits wurde in einem korrelierenden Ansatz Zusammenhängen zwischen Alkohol-Trinkverhalten und d-Rezeptor-Charakteristiken nachgegangen: In etwa der Hälfte der pharmakologischen Untersuchungen wurde ein Einfluss von d-Rezeptoren auf das Konsumverhalten von Alkohol gefunden (20, 21, 22, 23, 24, 25). In den verbleibenden 50 Prozent der Studien hingegen konnte eine nennenswerte Rolle des d-Rezeptors nicht belegt werden (26, 27, 28, 29, 30).

Eindeutig sind die Ergebnisse autoradiographischer Bestimmungen von d-Rezeptorendichten bei alkoholbevorzugenden Versuchstieren (31, 32) sowie von Untersuchungen der erhöhten Genexpression von d-Rezeptoren in unterschiedlichen Gehirnregionen dieser Tiere (33, 34). In einigen pharmakologischen Untersuchungen geht man davon aus, dass sich der Alkoholkonsum durch gezieltes Antagonisieren von d-Rezeptoren und Gabe von Naltrindol, Naltriben oder ICI 174864 unterdrücken lässt (21, 23, 24). Somit könnte der d-Rezeptor auf diesem Gebiet der Forschung von großer Bedeutung sein.

Für die d-Agonisten lässt sich zurzeit zusammenfassend sagen, dass man zwar Liganden gefunden hat, die eine hohe Affinität und Selektivität zu den d-Rezeptoren aufweisen. Keine dieser Substanzen jedoch hat eine so gute analgetische Wirkung, dass ein bedeutender therapeutischer Fortschritt zu erwarten ist.

Liganden des ORL-1-Rezeptors

Bis vor kurzem noch galt der ORL-1-Rezeptor als so genannter »Orphan«-Rezeptor. Mit anderen Worten: Man wusste nicht, wozu er vom Körper gebildet wird. Anhand seiner Aminosäuresequenz ließ sich feststellen, dass er eine große Homologie zu den anderen Opioidrezeptoren besitzt. Klassische Opioid-Liganden wie Morphin oder Fentanyl zeigen aber keine signifikante Affinität zu diesem Rezeptor. Nociceptin, häufig auch Orphanin-FQ genannt, ist ein Peptid aus 17 Aminosäuren, das als endogener Ligand des ORL-1-Rezeptors identifiziert wurde. Obwohl dieses Peptid große Ähnlichkeit mit dem endogenen k-Liganden Dynorphin A hat, zeigt es so gut wie keine Aktivität an den klassischen Opioid-Rezeptoren. Daraus resultiert, dass es ein anderes pharmakologisches Profil besitzt. Nociceptin und ORL-1-Rezeptoren sind im zentralen Nervensystem weit verbreitet und auch in peripherem Gewebe zu finden.

In pharmakologischen Studien an Knock-out-Mäusen, denen der ORL-1-Rezeptor fehlt, konnte gezeigt werden, dass Nociceptin eine Vielzahl biologischer Effekte besitzt, die für die Entwicklung neuer Arzneistoffe von großem Interesse sind. So wird über das zugehörige Rezeptorsystem beispielsweise das Gedächtnis, der Bewegungsapparat und die Nahrungsaufnahme gesteuert. Weiterhin wird durch Nociceptin auch Anxiolyse bewirkt. Daraus resultiert, dass Liganden dieses Rezeptorsystems zur Behandlung von Morbus Alzheimer, Morbus Parkinson, Bluthochdruck, Angst und Depression, Schmerz, Übergewicht und Opioidabhängigkeit in Frage kommen (35). Besonders großes Interesse gilt natürlich auch hier der Analgesie. Die Wirkungen von Nociceptin werden in dieser Beziehung jedoch kontrovers diskutiert. Zum einen wird vermutet, dass Nociceptin auf supraspinaler Ebene anti-opioide Wirkung besitzt. In Hot-plate-Versuchen an Ratten, die zum Ausschluss der endogenen opioiden Komponente zuvor Naloxon erhielten, wurde nach intracerebroventrikulärer Gabe von Nociceptin eine Induktion von Hyperalgesie beobachtet (36) Außerdem wurde in Tail-flick-Versuchen ebenfalls an Ratten die Antagonisierung einer systemischen Morphin-Analgesie beobachtet (37) .

Ob Nociceptin auf spinaler Ebene eine Pro- oder Antinozizeption hervorruft, wird kontrovers diskutiert. In Untersuchungen an Ratten wurde gezeigt, dass die intrathekale Gabe von Nociceptin Analgesie bewirkt und die Effekte von Morphin verstärkt werden. Möglicherweise sind die gegenläufigen Beobachtungen eine Frage der Dosierung (38).

Zur Klärung der Frage, ob zur Schmerztherapie die Aktivierung oder Inaktivierung von ORL-1-Rezeptoren notwendig ist, bedarf es weiterer Untersuchungen mit neuen, hochselektiven Agonisten und Antagonisten. J-113397 ist der erste hoch affine, nicht-peptidische ORL-1-Rezeptor-Antagonist, der eine mehr als 600-fache Selektivität gegenüber den übrigen Opioid-Rezeptoren besitzt. Diese Substanz wurde auf ihre analgetischen Eigenschaften mittels Tail-flick-Test an Mäusen untersucht. Es zeigte sich, dass die durch Nociceptin induzierte Hyperalgesie von J-113397 antagonisiert werden kann (39). Ein weiterer potenter Antagonist ist JTC-801, der in Hot-plate- und Formalin-Writhing-Tests mit Mäusen antinozizeptive Wirkungen gezeigt hat.

Ro 64-6198 ist eine nicht-peptidische, selektive Substanz, die eine hohe Affinität zum ORL-1-Rezeptor und eine circa 100-fache Selektivität gegenüber den anderen Opioid-Rezeptoren besitzt. In pharmakologische Untersuchungen an Ratten erwies sich die Substanz als voller Agonist, der dosisabhängig verschiedene Stadien von Angstzuständen beseitigen kann und bei systemischer Gabe ein den Benzodiazepinen Alprazolam und Diazepam vergleichbares anxiolytisches Potenzial besitzt. Ro 64-6198 zeigte in anxiolytisch wirkenden Dosen keinen Einfluss auf die Schmerzempfindung in Tests an Ratten, vielmehr wurden bei höheren Dosierungen schwere neurologische Nebenwirkungen beobachtet (40).

Ein weiterer Agonist ist NNC 63-0532. Er besitzt eine wesentlich bessere orale Bioverfügbarkeit als Ro 64-6198 (20 Prozent versus 4 Prozent), hat aber eine vergleichsweise geringere Selektivität gegenüber den anderen Opioid-Rezeptoren. Veränderungen an der Struktur haben zwar zu selektiveren Substanzen geführt. Diese können jedoch nicht mehr die Blut-Hirn-Schranke überwinden.

Wie diese ersten Ergebnissen mit selektiven ORL-1-Liganden zeigen, ist ihr pharmakologisches Profil noch nicht klar erkennbar. Es bedarf weiterer Untersuchungen mit selektiven Agonisten und Antagonisten, um herauszufinden, wie Liganden dieses Rezeptorsystems effektiv in der Schmerztherapie eingesetzt werden können.

Technologische Fortschritte

Eine kritische Bemerkung zum Schluss: Es hat in den letzten 20 Jahren einen erheblichen Erkenntniszugewinn auf dem Gebiet der Opioide gegeben. Circa 2,5 Milliarden Dollar sind in die Entwicklung neuer stark wirksamer Analgetika geflossen. Trotz allem hat bisher kein wirklich neuer und besserer Wirkstoff Eingang in die Therapie gefunden. Jedoch haben neue Formulierungen alter Arzneistoffe wie Morphin, Oxycodon, Hydromorphon, Loperamid, Fentanyl, Buprenorphin oder Tramadol, die zu gleichmäßigen Plasmaspiegeln führen, zur Reduktion von Nebenwirkungen beigetragen. Beispielhaft seien hier transdermale therapeutische Systeme, Lollipops, rektale, nasale und pulmonale Applikationsformen genannt (41).

 

Literatur
bei den Verfassern.

 

Die Autoren

Ulrike Holzgrabe studierte Chemie und Pharmazie in Marburg und Kiel. Es folgten 1982 die Approbation, 1983 die Promotion und 1989 die Habilitation in Pharmazeutischer Chemie in Kiel, sowie 1990 Rufe auf C3-Professuren nach Bonn und Berlin. Holzgrabe entschied sich für Bonn, wo sie von 1997 bis 1999 auch Prorektorin der Universität war. Rufe auf C4-Professuren nach Tübingen und Münster 1998 schlug sie aus, um 1999 als Lehrstuhlinhaberin nach Würzburg zu gehen. Die Pharmazeutin ist seit Januar 2000 Vizepräsidentin der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft – DPhG. Ebenfalls seit 2000 ist Holzgrabe Mitglied der Deutschen Arzneibuchkommission am BfArM und dort Vorsitzende des Ausschusses »Pharmazeutische Chemie«. Seit 2001 ist Holzgrabe Mitglied der Europäischen Arzneibuchkommission, seit 2002 Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des BfArM. Auslandsaufenthalte führten sie 1988 nach Bath, Großbritannien, und 1995 nach Chicago, USA. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist neben Arzneibuchanalytik die Entwicklung opioid-artiger Analgetika sowie die von Liganden an muscarinischen Rezeptoren.

Holger Projahn studierte von 1994 bis 1998 Pharmazie an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg. Die Approbation zum Apotheker erfolgte 2000. Projahn ist zurzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitskreis von Holzgrabe. Zielsetzung seiner Tätigkeit ist die Entwicklung neuer selektiver opioider Liganden für den Kappa-Rezeptor.

Daniela Ulmer studierte von 1996 bis 2000 Pharmazie an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg und erhielt 2000 ihre Approbation. Seit Januar 2001 ist die Apothekerin ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitskreis von Holzgrabe, wo sie für die Entwicklung von ORL-1-selektiven Substanzen zuständig ist.

 

Anschrift der Verfasser:
Professor Dr. Ulrike Holzgrabe
Institut für Pharmazie und Lebensmittelchemie
Am Hubland
97074 Würzburg
holzgrabe@pharmazie.uni-wuerzburg.de
Top

© 2003 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de

Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
 
FAQ
SENDEN
Wie kann man die CAR-T-Zelltherapie einfach erklären?
Warum gibt es keinen Impfstoff gegen HIV?
Was hat der BGH im Fall von AvP entschieden?
GESAMTER ZEITRAUM
3 JAHRE
1 JAHR
SENDEN
IHRE FRAGE WIRD BEARBEITET ...
UNSERE ANTWORT
QUELLEN
22.01.2023 – Fehlende Evidenz?
LAV Niedersachsen sieht Verbesserungsbedarf
» ... Frag die KI ist ein experimentelles Angebot der Pharmazeutischen Zeitung. Es nutzt Künstliche Intelligenz, um Fragen zu Themen der Branche zu beantworten. Die Antworten basieren auf dem Artikelarchiv der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums. Die durch die KI generierten Antworten sind mit Links zu den Originalartikeln. ... «
Ihr Feedback
War diese Antwort für Sie hilfreich?
 
 
FEEDBACK SENDEN
FAQ
Was ist »Frag die KI«?
»Frag die KI« ist ein experimentelles Angebot der Pharmazeutischen Zeitung. Es nutzt Künstliche Intelligenz, um Fragen zu Themen der Branche zu beantworten. Die Antworten basieren auf dem Artikelarchiv der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums. Die durch die KI generierten Antworten sind mit Links zu den Originalartikeln der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums versehen, in denen mehr Informationen zu finden sind. Die Redaktion der Pharmazeutischen Zeitung verfolgt in ihren Artikeln das Ziel, kompetent, seriös, umfassend und zeitnah über berufspolitische und gesundheitspolitische Entwicklungen, relevante Entwicklungen in der pharmazeutischen Forschung sowie den aktuellen Stand der pharmazeutischen Praxis zu informieren.
Was sollte ich bei den Fragen beachten?
Damit die KI die besten und hilfreichsten Antworten geben kann, sollten verschiedene Tipps beachtet werden. Die Frage sollte möglichst präzise gestellt werden. Denn je genauer die Frage formuliert ist, desto zielgerichteter kann die KI antworten. Vollständige Sätze erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer guten Antwort.
Wie nutze ich den Zeitfilter?
Damit die KI sich bei ihrer Antwort auf aktuelle Beiträge beschränkt, kann die Suche zeitlich eingegrenzt werden. Artikel, die älter als sieben Jahre sind, werden derzeit nicht berücksichtigt.
Sind die Ergebnisse der KI-Fragen durchweg korrekt?
Die KI kann nicht auf jede Frage eine Antwort liefern. Wenn die Frage ein Thema betrifft, zu dem wir keine Artikel veröffentlicht haben, wird die KI dies in ihrer Antwort entsprechend mitteilen. Es besteht zudem eine Wahrscheinlichkeit, dass die Antwort unvollständig, veraltet oder falsch sein kann. Die Redaktion der Pharmazeutischen Zeitung übernimmt keine Verantwortung für die Richtigkeit der KI-Antworten.
Werden meine Daten gespeichert oder verarbeitet?
Wir nutzen gestellte Fragen und Feedback ausschließlich zur Generierung einer Antwort innerhalb unserer Anwendung und zur Verbesserung der Qualität zukünftiger Ergebnisse. Dabei werden keine zusätzlichen personenbezogenen Daten erfasst oder gespeichert.

Mehr von Avoxa