Arzneimittelversorgung in der EU |
09.04.2001 00:00 Uhr |
Europa wächst zusammen. Dies ist in vielen Bereichen des wirtschaftlichen und politischen Lebens in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) nicht zu übersehen. Aus Sicht der deutschen Apothekerschaft stellt sich die Frage, ob und wie der Arzneimittelbereich von Tendenzen zu einer "Vereinheitlichung" betroffen ist.
Die ABDA - Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände hat nicht erst als Reaktion auf die Globalisierungsdiskussion den Blick über den deutschen Gartenzaun hinaus in die anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (damals noch Europäische Gemeinschaft, EG) geworfen. Schon länger ist davon auszugehen, dass das, was in den Nachbarstaaten wirtschaftlich und politisch Bedeutung besitzt, bald auch in Deutschland diskutiert wird. Ende der achtziger Jahre erschienen in (1) und außerhalb der Pharmazeutischen Zeitung mehrere Übersichten zu ökonomischen Aspekten des Gesundheitswesens in der EU (2).
Diese erste Phase der Beschäftigung mit dem die Apotheker potenziell betreffenden Zusammenwachsen Europas war vom Datum 1993 geprägt - der Vollendung eines europäischen Binnenmarktes. Dieser betraf allerdings, wie auch politisch intendiert, die Systeme der sozialen Sicherung kaum, und so wandte man sich Mitte der neunziger Jahre einer anderen Jahreszahl zu: 2002, dem Datum der Ausgabe des Euro als einer einheitlichen Währung für die meisten Mitgliedsstaaten der EU (3).
Parallel zur Europäischen Währungsunion gibt es verschiedene weitere Entwicklungen, die das Interesse an den Gesundheitssektoren der anderen EU-Mitgliedsstaaten wieder verstärken. Zu nennen ist beispielsweise die Globalisierung. Dominierend dürfte jedoch der allgemeine Budgetdruck im Gesundheitswesen sein, der die Suche nach Lösungsansätzen im Ausland besonders attraktiv erscheinen lässt.
Pharma-Länder-Dossiers
Vor diesem Hintergrund erscheint jetzt eine Neufassung der Pharma-Länder-Dossiers. Seit dem Erscheinen der letzten Ausgabe (1991) haben sich vielfältige Änderungen ergeben - schon in Folge der Aufnahme Österreichs, Schwedens und Finnlands in die EU, aber auch, da andere Aspekte wie die Frage des Versandhandels mit Arzneimitteln erst in den letzten Jahren Bedeutung gewonnen haben (4).
Dieser Beitrag kann und soll einen Blick in die ihm zugrunde liegende Veröffentlichung nicht ersetzen. Er dient vielmehr dazu, verschiedene apothekenrelevante Entwicklungen aufzuzeigen und zu interpretieren sowie einige Vergleiche zwischen den Systemen der sozialen Sicherung in den Mitgliedsstaaten der EU sowie Regelungen und Regulierungen des Gesundheits- und Apothekenwesens zu präsentieren. Für Detailinformationen und ausführliche Quellenangaben kann nur auf die Originalpublikation verwiesen werden.
Eingeschränkte Spielräume bei der Preisbildung
In der letzten Ausgabe der Pharma-Länder-Dossiers konstatierten die Autoren, dass sich die Preisbildungs- und Erstattungssysteme in den Mitgliedsstaaten - bei allen fortbestehenden Unterschieden - einander annäherten. Diese Prognose ist aus heutiger Sicht unzweifelhaft richtig. Es ist allerdings zu beachten, dass die Annäherung der Systeme (und auch der Arzneimittelpreise) nicht primär Folge wirtschaftlicher Konvergenzprozesse ist, sondern in erheblichem Maße Ausfluss politisch-administrativer Entscheidungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Zu nennen sind insbesondere die Preisbildungs- und Preissetzungssysteme.
Alle Mitgliedsstaaten der EU halten Arzneimittel für Produkte sui generis, deren Produktion und Distribution nicht ausschließlich über Marktprozesse geregelt werden sollen. Vielmehr greifen alle Länder steuernd ein. Begründet wird dies mit einer angemessenen Versorgung auch armer Mitbürger, einer regional gleichmäßigen Versorgung aller Bewohner des Landes, der Vermeidung sozialer Härten sowie der Kontrolle der Qualität der erbrachten medizinischen und pharmazeutischen Leistungen.
Für regulierende Eingriffe auf dem Pharmamarkt gibt es unterschiedliche Ansatzpunkte. Ein wesentlicher ist die Beeinflussung der Arzneimittelpreise. In den meisten Staaten darf der Hersteller den Preis formal frei festlegen. Diese Freiheit wird faktisch allerdings regelmäßig dadurch eingeschränkt, dass in allen Mitgliedsstaaten das staatliche Gesundheitssystem der Hauptabnehmer oder Hauptkostenträger von Arzneimittelausgaben ist. Regelungen, die die Erstattungsfähigkeit einzelner Arzneimittel oder ihren Ankauf durch einen staatlichen Gesundheitsdienst an die Erfüllung von Preisvorgaben knüpfen, schränken den faktischen Preissetzungsspielraum der Pharmaproduzenten deutlich ein.
Ein besonders problematisches Instrument der Preisregulierung, das trotzdem in vielen Ländern Anwendung findet, ist ein Referenzpreissystem. Der im Rahmen der Krankenversicherung eines Landes erstattungsfähige Höchstpreis wird hierbei unter Bezugnahme auf die Preise für dieses Arzneimittel in anderen Mitgliedsstaaten der EU festgelegt. Mechanismen, die den Preis des Arzneimittels in einem solchen Referenzland drücken, werden somit automatisch in das Preis setzende Land übernommen. Auf diese Weise werden beispielweise die (kurzfristig) den Preis senkenden Wirkungen eines unzureichenden Patentschutzes, wie er in einigen Mitgliedsstaaten noch bis vor kurzem anzutreffen war, auch in Länder mit formal strengem Patentschutz importiert.
Was vordergründig nur die Kosten der Arzneimittelversorgung in dem ein Referenzpreissystem anwendenden Land senkt, hat bei genauerer Betrachtung andere - problematische - Konvergenzwirkungen. Letztlich droht Gefahr für die Qualität und Finanzierbarkeit einer ausreichenden, dem modernen Stand der Medizin und Pharmazie entsprechenden Versorgung der Bevölkerung ärmerer Mitgliedsstaaten. Zur Erklärung: Bei getrennten Märkten ist es einem Pharmaunternehmen möglich, im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung in ärmeren Ländern für sein Produkte niedrigere Preise zu verlangen, die nahe an den Produktionskosten liegen, und die Kosten für Forschung und Entwicklung primär in den reicheren Ländern zu decken. Verweisen diese Länder nun auf die niedrigeren Preise in "armen" Ländern und versuchen, diese Preise durch Regelungen in ihrem Gesundheitssystem zu importieren, so zerstören sie dabei die Mischkalkulation. Eine Angleichung der Preise für Arzneimittel ist unter diesen Bedingungen fast unvermeidlich. Ferner bedeutet eine Absenkung des allgemeinen Preisniveaus innovativer Arzneimittel, dass die Forschung nach neuen Produkten für die Pharmaindustrie weniger attraktiv wird. Längerfristig dürften die Firmen ihre Forschungsausgaben gerade für die Suche nach "revolutionären" Neuerungen reduzieren. Der medizinische und pharmazeutische Fortschritt wird mithin gefährdet.
Bei kurzfristigem Übergang zu einem Europa-einheitlichen Preis werden viele innovative Produkte für weite Teile der Bevölkerung ärmerer Mitgliedsstaaten, die derzeit noch von vergleichsweise niedrigen Preisen profitieren, kaum mehr erschwinglich sein. Wer als Reicher von Sozialrabatten an Arme profitieren will, zerstört einen sozialen Ausgleichsmechanismus und schadet damit den Ärmeren.
Mit Blick auf die aktuelle deutsche Diskussion ist anzumerken, dass das für Referenzpreissysteme Gesagte auch für Importverpflichtungen gilt, die den Apothekern reicher Länder den (Re-) Import von Arzneimitteln aus armen Ländern vorschreiben. Wer aus dem Ausland Produkte importiert, der importiert auch die Regulierungen, unter denen sie dort angeboten werden.
Umsatzsteuer auf Arzneimittel
Der Preis pharmazeutischer Produkte wird staatlicherseits nicht ausschließlich durch Referenzpreissysteme, Erstattungsregelungen und andere Verfahren beeinflusst. Vielmehr greift der Staat an einer weiteren Stelle unmittelbar ein: Die Politik entscheidet über die Belastung des Netto-Apothekenabgabepreises mit Umsatzsteuer. Hier gibt es erhebliche Unterschiede in der EU, sowohl in der systematischen Einordnung von Arzneimitteln als auch in der Höhe des darauf erhobenen Umsatzsteuersatzes (Tabelle 1).
Tabelle 1: Umsatzsteuersätze in Europa
LandUmsatzsteuersatz (in Prozent)
normal auf Arzneimittel Belgien 21,0 6,0 Dänemark 25,0 25,0 Deutschland 16,0 16,0 Finnland 22,0 8,0 Frankreich 20,6 2,1/5,5 1) Griechenland 18,0 8,0 Großbritannien 17,5 0/17,5 2) Irland 21,0 0/21,0 3) Italien 20,0 10,0 Luxemburg 15,0 3,0 Niederlande 17,5 6,0 Österreich 20,0 20,0 Portugal 17,0 5,0 Schweden 25,0 0/25,0 4) Spanien 16,0 4,01) Der niedrigere Satz gilt für erstattungsfähige Arzneimittel
2) Der niedrigere Satz gilt für zu Lasten des nationalen Gesundheitsdienstes verordnete Arzneimittel
3) Der niedrigere Satz gilt für Arzneimittel zur oralen Medikation
4) Der niedrigere Satz gilt für verschreibungspflichtige Arzneimittel
Deutschland ist (neben Dänemark und Österreich) eines von nur drei EU-Ländern, das auf alle Arzneimittel ausnahmslos den vollen Umsatzsteuersatz erhebt. Während der normale deutsche Umsatzsteuersatz im EU-weiten Vergleich am unteren Ende der Skala liegt, befindet sich der auf Arzneimittel erhobene Satz, betrachtet man die Belastung der vom jeweiligen Sozialversicherungssystem getragenen Arzneimittel, am oberen Ende der Spanne. Dies verteuert die hiesige Arzneimittelversorgung und belastet die nicht zu einem Vorsteuerabzug zugelassenen gesetzlichen Krankenversicherungen. Diese Belastung ist als politisch gewollt einzustufen. Sie darf weder zu einer Untermauerung der unangemessenen Klage über ein zu hohes Preisniveau für Arzneimittel in Deutschland herangezogen werden noch stellt sie einen Teil der Distributionskosten dar!
Vertriebskosten in Deutschland liegen im Mittelfeld
Im Hinblick auf die Kosten von Arzneimitteln ist interessant, welchen Anteil die Vertriebskosten am Arzneimittelabgabepreis haben. Immerhin wird die Forderung nach radikalen Reformen im deutschen Arzneimittelvertrieb regelmäßig auch mit den (vermeintlich) hohen Distributionskosten begründet. Ein europäischer Vergleich der Anteile der Distributionskosten an den Brutto-Apothekenabgabepreisen zeigt, dass Deutschland im Mittelfeld liegt.
Die absolute Mehrheit der Länder hält weiter an einem freiberuflich orientierten Vertriebssystem für Arzneimittel fest (Tabelle 2). Dieses ist im Gegensatz zu einem merkantilen durch verschiedene Regulierungen gekennzeichnet: So müssen Apotheken im Besitz von Apothekern - und nicht Kapitalgesellschaften - sein, jeder Apotheker darf nur eine Apotheke leiten und keinen anderen Beruf ausüben, der Apothekenleiter muss in der Apotheke anwesend sein und eine Reihe von Auflagen für den Betrieb seiner Apotheke beachten.
Tabelle 2: Regulierung des Apothekenbesitzes
StaatFremdbesitzverbotMehrbesitzverbotApothekenbesitz durch Gesellschaft erlaubt?Weiterveräußerung der Apotheke erlaubt? Belgien - - + +- Dänemark + + - - Deutschland + + - + Finnland + + + +- Frankreich + + + +- Griechenland + + - + Großbritannien - - + + Irland - - + + Italien - - + +- Luxemburg + + - +- Niederlande - - + + Österreich + + - +- Portugal + + - +- Schweden - - + Staatskette Spanien + + - +-+: ja; -: nein; +-: ja, mit (primär zeitlichen) Einschränkungen
Die Nutzung einer Ausnahmeregelung bei der Privatisierung im kommunalen Besitz befindlicher Apotheken hat in Italien zugenommen, so dass der Eindruck einer Hinnahme von Mehr- und Fremdbesitz entsteht.
Auch wenn es zum Teil anders dargestellt wird: Im europäischen Kontext findet sich kein Hinweis darauf, dass das deutsche Apothekensystem ein Auslaufmodell ist. Vielmehr war in der Mehrheit der Länder, die heute Fremd- und/oder Mehrbesitz erlauben, dies auch schon Ende der achtziger Jahre der Fall (5). Die Vorteile, die ein freiberuflich orientiertes Distributionssystem bietet, sind so überzeugend, dass die meisten Länder trotz medialen Gegenwinds hieran festhalten.
In fast allen Fällen liegt der Vertriebskostenanteil bei Arzneimitteln, der sich aus Großhandels- und Apothekenanteil zusammensetzt, in Ländern mit Apothekenketten oder Versandapotheken über dem deutschen Wert. Es stellt sich allerdings die Frage, wie es zu der weit verbreiteten Fehleinschätzung kommt, die Distributionskosten in Deutschland seien ungewöhnlich hoch. Vermutlich trübt die Tatsache den Blick, dass das bestehende deutsche System auf einer Mischkalkulation basiert. Der Apotheker erzielt nicht bei Abgabe jedes einzelnen Arzneimittels Gewinn, und viele Leistungen werden aus den allgemeinen Distributionsspannen heraus finanziert: insbesondere die Beratung sowie die Sicherstellung eines flächendeckenden Nacht- und Notdienstes.
Da die Verantwortlichen in Politik und Gesundheitswesen ihre Entscheidungen nicht auf Einzelfällen fundieren dürfen, sondern die Gesamtleistung des Systems zu bewerten haben, müssen sie die repräsentativen Distributionskosten der Apothekensysteme der EU-Länder vergleichen. Das gute Abschneiden Deutschlands sollte Anlass geben, die vordergründigen Kostenvorteile ausländischer Distributionssysteme noch einmal kritisch zu hinterfragen.
Therapiekosten im europäischen Vergleich
Die Therapiekosten in Deutschland und ihr Vergleich mit dem europäischen Ausland waren Gegenstand einer detaillierten Studie, die die Beratungsgesellschaft BASYS 1999 im Auftrag der ABDA und des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) erstellt und veröffentlicht hat (6). Die Ergebnisse belegen, dass das deutsche Kostenniveau, entgegen vielen Vorurteilen, bei methodisch sauberer Analyse eher unterhalb des europäischen Durchschnitts liegt.
Ein wesentlicher Grund für das gemäßigte Preisniveau in Deutschland ist in dem hohen Anteil von Generika an allen verschriebenen Arzneimitteln zu sehen. Gemäß Arzneiverordnungsreport 2000 lag ihr Verordnungsanteil im Jahr 1999 bei 46,4 Prozent und ihr Umsatzanteil bei 31,8 Prozent (7). Damit hat Deutschland innerhalb der EU einen der höchsten Generika-Anteile am Arzneimittelmarkt (8). Dieser hohe Wert wird ohne allgemeine Genehmigung generischer Substitution erzielt. Insgesamt sind die Länder der EU weitgehend recht zurückhaltend bei der Genehmigung der generischen Substitution ohne explizite Zustimmung des verordnenden Arztes. Nur vier der Mitgliedsstaaten lassen sie regelmäßig, das heißt nicht ausschließlich in Sonderfällen wie Notdienst, zu. Kein einziges Land erlaubt den Apothekerinnen und Apothekern die therapeutische Substitution (Tabelle 3).
Tabelle 3: Was darf der Apotheker?
StaatSubstitution grundsätzlich erlaubt?Versandhandel erlaubt?generische therapeutische Belgien - - - Dänemark + - - Deutschland - - - Finnland - - - Frankreich + - - Griechenland - - - Großbritannien - - + Irland - - - Italien - - - Luxemburg - - - Niederlande + - + Österreich - - - Portugal - - -1) Schweden - - -2) Spanien + - -1) Standesrechtlich verboten; 2) Legalisierung steht kurz bevor
+: ja; -: nein
Abschließend sei noch auf ein hochaktuelles Thema eingegangen - den Versandhandel. Nur zwei Länder der EU (Niederlande und Großbritannien) erlauben einen (fast) uneingeschränkten Versandhandel mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, in einem weiteren Land (Schweden) steht eine entsprechende Zulassung bevor (Tabelle 3). Die meisten Regierungen teilen die Position der ABDA: Arzneimittel sind besondere und erklärungsbedürftige Produkte. Sie gehören in die Apotheke, wo sie von geschultem Fachpersonal an die Patienten abgegeben werden. Die dabei stattfindende Beratung über die richtige Anwendung und die Klärung eventueller Fragen dienen der korrekten und verantwortungsbewussten Nutzung der Arzneien. Ein vergleichbares Sicherheitsniveau ist auf dem Wege des Fernabsatzes nicht zu erreichen - gar nicht zu reden von den Gefahren, die von Angeboten aus dubiosen Quellen ausgehen.
Grundsätzliche Unterschiede bei den Sozialversicherungssystemen
In der politischen Diskussion über die Folgen des europäischen Einigungsprozesses wird häufig auch von einem Wettbewerb unterschiedlicher Sozialversicherungssysteme geredet. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, einige Formen der Gesundheitsversorgung in den Mitgliedsländern der EU genauer zu betrachten.
Ganz am Anfang steht die Feststellung, dass kein einziges Mitgliedsland die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung ausschließlich (oder auch nur primär) den Marktkräften überlässt. In allen Staaten bestehen Systeme, denen der Einzelne weitgehend gezwungen ist beizutreten. Diese Grundsatzentscheidung aller Mitglieder der EU ist zu betonen. Sie verdeutlicht, dass eine allgemeine leistungsfähige Gesundheitsversorgung der gesamten Bevölkerung nach übereinstimmender Meinung aller Länder nicht ohne ordnendes staatliches Eingreifen sichergestellt werden kann. Alle Länder betonen damit, dass die Gesundheitsversorgung ein besonderes Gut ist und in einem besonderen Ordnungsrahmen erfolgen muss.
Der traditionelle Unterschied zwischen den beiden Gesundheitsversorgungssystemen entweder in Form einer allgemeinen gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) oder aber eines nationalen Gesundheitsdienstes (NGD) besteht in Europa weiterhin fort. Bei allen Annäherungen in konkreten Ausgestaltungsaspekten ist eine diese fundamentale Trennung übergreifende Konvergenz nicht festzustellen (Tabelle 4).
Tabelle 4: Klassifikation der Gesundheitssysteme in EU-Staaten
Länder mit gesetzlicher Krankenversicherungnationalem Gesundheitsdienst Belgien Dänemark Deutschland Finnland Frankreich Griechenland Luxemburg Großbritannien Niederlande Irland Österreich Italien Portugal Schweden Spanien
Länder mit nationalem Gesundheitsdienst sind dadurch gekennzeichnet, dass die medizinische und pharmazeutische Grundversorgung der Bevölkerung im wesentlichen aus dem normalen staatlichen Steueraufkommen finanziert wird, während die Beitragszahlungen zur gesetzlichen Krankenversicherung regelmäßig zusätzlich zu den Steuerzahlungen zu entrichten sind. Zwischen diesen beiden Methoden der Finanzierung gäbe es keinen wesentlichen Unterschied, entsprächen die Einkommen, auf die Steuern und Abgaben zu entrichten sind, einander (technisch gesprochen: übereinstimmende Bemessungsgrundlage) und gäbe es eine identische Belastungsmethodik der jeweiligen Einkommen. Dies ist aber nicht der Fall. Während auf weite Teile des Einkommens Steuern zu entrichten sind, sind die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung häufig ausschließlich auf Arbeitseinkommen (oder - wie in Deutschland noch eingeschränkter - Teile des Einkommens aus abhängiger Beschäftigung) zu entrichten. Ferner sind zumindest im Bereich der persönlichen Einkommensteuer in allen Ländern der EU progressive Tarife üblich, bei denen höhere (zu versteuernde) Einkommen überproportional belastet werden. Die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung sind hingegen regelmäßig proportional zur Bemessungsgrundlage.
Daraus folgt: Die Finanzierung der Gesundheitsversorgung wird in Staaten mit nationalem Gesundheitsdienst tendenziell zu einem größeren Teil von vergleichsweise einkommensstarken Bürgern getragen als in Systemen mit gesetzlicher Krankenversicherung.
Der zweite markante Unterschied ist der rechtliche Status der im Gesundheitswesen Aktiven. In einem Krankenkassensystem sind die weitaus meisten Heilberufler entweder Selbstständige oder Angestellte eines eigenständigen Anbieters und riskieren somit bei unzureichender Orientierung an den Wünschen der Patienten erhebliche finanzielle Einbußen. In einem staatlichen Gesundheitsdienst sind dagegen die meisten Leistungserbringer Angestellte dieses Gesundheitsdienstes, häufig noch mit beamtenähnlicher Absicherung ihres Arbeitsplatzes.
In vielen anderen Details gibt es keine prinzipiellen Unterschiede zwischen den beiden Ausgestaltungsarten. So ist es in allen Ländern der EU inzwischen üblich, dass sich der Erkrankte an den Therapiekosten finanziell unmittelbar beteiligen muss (Tabelle 5). Dies gilt insbesondere für die Kosten der ärztlich verordneten Arzneimittel. Hier ist die Selbstbeteiligung, verglichen mit den Kosten der Therapie, regelmäßig relativ hoch. Hinzu kommt, dass in den meisten Ländern verschiedene zugelassene Arzneimittel gänzlich von der Übernahme durch das Gesundheitssystem ausgeschlossen sind. Die Folge ist, dass regelmäßig mehr als 20 Prozent des Arzneimittelumsatzes direkt von den Patienten getragen werden müssen. Obwohl entsprechende Anteilswerte nicht vorliegen, kann ohne weiteres unterstellt werden, dass sich die Patienten an anderen Therapieformen nicht in gleichem Maß beteiligen müssen.
Tabelle 5: Träger der Arzneimittelkosten
StaatAnteil am Arzneimittelumsatz (in Prozent)
GKV/NGDZuzahlung Patientennicht erstattungsfähige Arzneimittel Belgien 54,1 12,4 33,5 Dänemark 56,4 28,8 14,8 Deutschland 70,4 10,1 19,5 Finnland 41,0 26,3 32,7 Frankreich 85,7 4,6 9,7 Griechenland 75,2 24,8 - Großbritannien 78,1 5,6 16,3 Irland 70,9 10,2 18,9 Niederlande 94,4 0,5 5,1 Österreich 67,8 14,1 18,1 Schweden 74,2 19,1 6,7 Spanien 72,2 5,7 22,1Daten für Luxemburg liegen nicht vor, für Italien und Portugal nicht vergleichbar.
Quelle: The Pharmaceutical Industry in Figures - European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (EFPIA) (2000); Daten für 1998 (Schweden: 1997; Daten großteils geschätzt; Dänemark und Spanien ohne Tierarzneimittel)
Die Konzentration der Sparbemühungen auf den Arzneimittelbereich ist besonders schwer verständlich, betrachtet man den geringen Anteil der Arzneimittelausgaben an allen Gesundheitsausgaben. Außerdem bedeutet jede Selbstbeteiligung - auch wenn sie, wie in Europa üblich, durch Befreiungsregelungen im Falle einer finanziellen Überlastung abgemildert wird - eine Abkehr vom Ideal einer einkommensunabhängigen Gesundheitsversorgung aller Bevölkerungsschichten.
Die Diskriminierung der Therapieform Arzneimittel wird in Deutschland noch dadurch verstärkt, dass die Budgetierung bei Ärzten insbesondere Arzneiverordnungen betrifft, andere ärztlich veranlasste Leistungen wie Krankenhauseinweisungen oder Krankschreibungen aber nicht. Der Blick auf Kosten-Nutzen-Abwägungen sollte aber nicht durch den bloßen Blick auf Einsparmöglichkeiten durch Leistungsausschluss ersetzt werden: Eine einseitige Ausgabenreduktion durch Kürzungen im Arzneimittelbereich kann - durch Steigerung anderweitig anfallender Kosten - kontraproduktiv sein. Das richtige Motto lautet vielmehr: Mit der angemessenen Arzneimitteltherapie sparen, nicht an ihr.
Perspektiven für den Wirtschaftsfaktor Gesundheitswesen
Welche Entwicklungen werden die Zukunft aller Systeme prägen? In allen Ländern herrschen Sorgen wegen der zunehmenden Kosten der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Überall werden Wege gesucht, die Gesundheitsausgaben zu senken, ohne den Versorgungsstandard zu gefährden oder gar explizit zu senken. Eine Kostensenkungsmethode, die sich in einem Land (kurzfristig) hinreichend bewährt hat, gewinnt schnell große Popularität und mag dementsprechend kurzfristig auch in anderen Ländern übernommen werden. Jedoch wird die Gesundheitsversorgung in den jeweiligen Ländern im Rahmen diffiziler Systeme geregelt, in denen einzelne Elemente komplex zusammenwirken. Wer aus anderen Ländern vermeintlich bewährte Kostensenkungselemente übernimmt, der muss sich vorher überlegen, ob die jeweilige Ausgestaltung kompatibel mit den anderen nationalen Regelungen ist.
Die Frage nach der richtigen Qualität der Gesundheitsversorgung lässt sich nicht generell beantworten. Die Antwort hängt vielmehr auch von den Wünschen der jeweiligen Bevölkerung ab (9). Je größer das Interesse an guter Versorgung ist und je größer die Bereitschaft ist, für eine solche Versorgung zu zahlen, desto umfassender kann und sollte die Gesundheitsversorgung sein. Es gibt keinen Grund, warum es innerhalb der EU nicht dauerhaft unterschiedliche Versorgungsintensitäten und -qualitäten geben sollte. Insbesondere ist das häufig vorgetragene Argument falsch, der wirtschaftliche Wettbewerb der EU-Länder im gemeinsamen Binnenmarkt führe zwangsläufig zu einer Systemkonvergenz auf niedrigstem Niveau und eine Absenkung des deutschen Versorgungsstandards sei somit unvermeidbar. Dies lässt sich mit den schon genannten Gründen plausibilisieren, aber auch durch Betrachtung der weiterhin existierenden Versorgungsunterschiede zwischen den Ländern der EU.
Zu den sich verschärfenden Finanzierungsproblemen der Gesundheitssysteme tragen (zumindest) zwei Faktoren entscheidend bei. Zum einen erlauben medizinische und pharmazeutische Fortschritte die erfolgreiche Behandlung immer weiterer Krankheiten. Die Vorteile für die Gesellschaft sind offensichtlich, die Kosten für die Behandlung allerdings auch. Zum anderen altert die Gesellschaft. Die Jungen müssen als Erwerbstätige die Gelder erwirtschaften, die zur medizinischen Behandlung der Bevölkerung aufgewandt werden, andererseits lösen alte Menschen einen weit überproportionalen Teil der Gesundheitskosten aus. Die demographische Entwicklung wird das Gesundheitswesen der Zukunft prägen: Es wird tendenziell schwieriger, die Finanzmittel aufzubringen, aber der Bedarf an Gesundheitsleistungen - und damit auch der Finanzbedarf - wird immer größer. Die Ausweitung möglicher Finanzierungsquellen, wie die Berücksichtigung auch von Nicht-Arbeitseinkommen, wird dringlicher.
Das deutsche Gesundheitssystem hat sich bewährt. Damit es auch die zukünftigen Herausforderungen besteht, bedarf es sicher verschiedener Reformen. Der Blick in das europäische Ausland zeigt, dass die dortigen Gesundheitssysteme keine Ansätze bieten, die der deutschen Gesellschaft die Beantwortung der Frage ersparen, in welchem Maß sie bereit ist, für verbesserte Gesundheitsleistungen auch höhere Kosten in Kauf zu nehmen.
Jedoch verursacht das Gesundheitswesen eines Landes nicht nur Kosten, sondern stellt auch einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor im jeweiligen Staat dar. Insbesondere sind die medizinische und pharmazeutische Betreuung arbeitsintensive Dienstleistungen. Die Einschränkung des Wachstums dieser Sektoren verringert deren Beitrag zu Beschäftigung und Wertschöpfung. Das Phänomen der Alterung der Gesellschaft, das europaweit zu den Finanzierungsproblemen der Gesundheitsversorgung in erheblichem Maße beiträgt, ist Indikator einer guten medizinischen und pharmazeutischen Versorgung der Bevölkerung. Dieser Erfolg ist zuerst ein Grund zur Freude, nicht zur Besorgnis.
Literatur und Anmerkungen
Der Autor
Eckart Bauer studierte an der Universität Kiel Volkswirtschaftslehre mit den Schwerpunkten Außenwirtschaft, Statistik und Ökonometrie. Nach dem Diplom war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Finanzwissenschaft an der Universität der Bundeswehr Hamburg tätig. Dort wurde er mit einer Arbeit über umlagefinanzierte Rentenversicherungen promoviert. Seit April 2000 ist er im Geschäftsbereich Wirtschaft und Soziales der ABDA beschäftigt.
Anschrift des Verfassers:
Dr. Eckart Bauer
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