Eine Reise durch den Verdauungstrakt |
02.04.2001 00:00 Uhr |
Tabletten, Dragees, Kapseln, Pellets, Granulate, Pulver, Lösungen, Suspensionen: Alle diese Darreichungsformen werden in der Regel eingenommen. Ob man dies vor oder nach dem Frühstück, zum Mittagessen, vor dem Zu-Bett-gehen oder eventuell lieber gar nicht tut, mit diesen Fragen ihrer Patienten sind Ärzte und Apotheker täglich konfrontiert. Kenntnisse über das Verhalten von Arzneiformen nach der Einnahme können bei mancher dieser Diskussionen hilfreich sein.
In Zuge der rasanten Entwicklung der chemisch-pharmazeutischen Forschung und Entwicklung im beginnenden 20. Jahrhundert wurden die Wirkstoffe immer potenter. Entsprechend stiegen die Anforderungen an die Darreichungsformen drastisch an. Die Betrachtung möglicher Wechselwirkungen von Arzneiformen mit dem Organismus stand dagegen noch bis Ende der sechziger Jahre weit im Hintergrund. Die Frage, was mit Arzneiformen nach ihrer Einnahme geschieht, wurde lange Zeit kaum gestellt. Zwar untersuchte man mittels Röntgentechniken die Passage von Kontrastmittel-haltigen Flüssigkeiten und gelegentlich auch röntgendichten festen Substanzen durch den Gastrointestinaltrakt schon seit den dreißiger Jahren; dies sollte Erkrankungen des Verdauungstraktes klären helfen. Die Anwendung dieser Techniken auf Arzneiformen blieb jedoch eine Seltenheit.
Gammaszintigraphie ist der Goldstandard
Mit dem aufkommenden Bewusstsein, wie wichtig biopharmazeutische Aspekte von Darreichungsformen sind, begann eine intensive Beschäftigung mit deren Verhalten im Gastrointestinaltrakt. Vor ungefähr 25 Jahren setzte man erstmals szintigraphische Techniken der medizinischen Bildgebung für diese Fragen ein. Seither ist die Gammaszintigraphie der Goldstandard für die Untersuchung von Arzneiformen im Verdauungstrakt. Für die Messungen werden die Arzneiformen entweder direkt mit Gammastrahlung emittierenden Isotopen markiert oder es werden geeignete, Isotope enthaltende nicht-radioaktive Verbindungen (in der Regel Samariumoxide) eingearbeitet und anschließend durch Neutronenbestrahlung in Gammastrahlung emittierende Isotope umgewandelt (1).
Die Szintigraphie eröffnet die Möglichkeit, Arzneiformen im Verdauungstrakt zu visualisieren und den Ort und Zeitpunkt ihres Zerfalls zu bestimmen. Mit Hilfe spezieller, von außen in der Freisetzung steuerbarer radioaktiver Darreichungsformen (2) und der gleichzeitigen Bestimmung von systemischen Wirkstoffspiegeln können auch die Resorptionseigenschaften einzelner Abschnitte des Verdauungstraktes charakterisiert werden.
Die gesetzlichen Bestimmungen zum Strahlenschutz regeln in Deutschland den Umgang mit offenen und geschlossenen Quellen ionisierender Strahlung. Deren Anwendung am Menschen ist diagnostischen und therapeutischen Zwecken vorbehalten. Da die Bestimmung des Verhaltens eingenommener Arzneiformen keinen diagnostischen Nutzen für die untersuchte Person hat, befürworten die für die Genehmigung zuständigen Ethikkommissionen derartige Studien in der Regel nicht.
Auf der Suche nach alternativen, nicht Strahlen belastenden Möglichkeiten zur Darstellung von Arzneiformen im Gastrointestinaltrakt werden derzeit alle modernen bildgebenden Verfahren getestet. Besonders aussichtsreich ist die Magnetresonanztomographie (3). Sie bietet den großen Vorteil der Darstellung der inneren Organe; allerdings ist es auf Grund der Schnittbildtechnik schwierig, einzelne Objekte innerhalb des relativ großen Volumens der gastrointestinalen Organe zu finden.
Mit dem Magnet durch den Verdauungstrakt
In unseren Arbeiten verwenden wir zur Markierung anstelle radioaktiver Isotope magnetische Mikropartikel aus schwarzem Eisenoxid (Fe3O4, Magnetit), das als schwarzes Farbpigment (E172) zur Färbung von Lebensmitteln und Arzneimitteln eingesetzt wird. Nach der Inkorporation von je nach Fragestellung und Messgerät ungefähr 0,1 bis 5 mg Eisenoxid wird die Arzneiform "aufmagnetisiert". Dabei richten sich die Dipolmomente der einzelnen Partikel einheitlich aus und generieren zusammen einen magnetischen Dipol, der ein charakteristisches Feldlinienbild aufweist. Die magnetischen Momente dieser Dipole sind sehr klein, entsprechend ist die generierte magnetische Induktion ebenfalls sehr gering. Je nach Menge des eingearbeiteten Eisenoxids liegen die magnetischen Flussdichten (Induktionen) nur wenige Größenordnungen über der Stärke biomagnetischer Signale, also der durch Ionenströme im menschlichen Organismus generierten Magnetfelder, und weit unterhalb des Erdmagnetfeldes oder gar der Magnetfelder, die in der Magnetresonanztomographie (MRT) oder der NMR eingesetzt werden.
Nachdem ein Proband eine als magnetischen Dipol markierte Arzneiform verschluckt hat, wird die magnetische Feldverteilung an möglichst vielen unterschiedlichen Positionen aufgenommen. Damit äußere Magnetfelder wie das Erdmagnetfeld oder ein vorbeifahrendes Auto nicht stören, wird in magnetisch abgeschirmten Räumen gemessen. Als Magnetfeldsensoren werden spezielle Messfühler, so genannte SQUIDs (Superconducting Quantum Interference Devices), eingesetzt, die unter Supraleitung ermöglichenden Temperaturen betrieben werden. SQUIDS sind in der Lage, extrem schwache magnetische Flüsse im Bereich weniger Femtotesla (10-15 T) zu detektieren.
Aus den gemessenen Feldverteilungen werden die Position der Arzneiform, die beiden Winkel ihrer Ausrichtung sowie der Betrag des magnetischen Moments berechnet. Da es für diese Lokalisationsrechnungen aus der gemessenen Feldverteilung keine eindeutigen Lösungen gibt, werden Näherungsrechenverfahren angewendet: Dazu werden zunächst Werte für die Position, die Winkel und das magnetische Moment geschätzt und die sich aus dieser Schätzung ergebende Feldverteilung mit Hilfe der von Maxwell für das Magnetfeld eines Dipols aufgestellten Gleichung berechnet. Anschließend wird das berechnete Feld mit der gemessenen Feldverteilung verglichen; die geschätzten Werte werden mit Hilfe geeigneter Algorithmen solange variiert, bis die Abweichung ein Minimum erreicht. Typischerweise erreichen wir mit diesem Verfahren eine Genauigkeit für die Lokalisation im Bereich zwischen 2 bis 8 mm in allen drei Raumrichtungen (4). Die zeitliche Auflösung wird durch die Abtastrate bestimmt; wir verwenden zumeist 250 Hz, daraus folgt eine maximale zeitliche Auflösung von 4 ms. Dieses Verfahren der magnetischen Lokalisation bezeichnen wir auch als Magnetic Marker Monitoring (MMM).
Passage durch die Speiseröhre
Die Speiseröhre ist je nach Körpergröße ungefähr 20 bis 30 cm lang. Die Passage von festen Arzneiformen ist mit Hilfe des MMM auf Grund der hohen zeitlichen Auflösung sehr gut zu verfolgen. Die Abbildung 1 in der Druckausgabe zeigt als Beispiel die Passage einer Hartgelatinekapsel der Größe 2 durch die Speiseröhre eines sitzenden gesunden Probanden (5). Die einzelnen Punkte der Abbildung geben die lokalisierten Positionen in einem zeitlichen Abstand von 20 ms wieder. Die Einnahme der Kapsel erfolgte zusammen mit 100 ml Wasser.
Nach einer anfänglich sehr schnellen Passage reduziert sich die Transportgeschwindigkeit im unteren Bereich merklich, bis die Kapsel dann in den Magen gleitet. Dieses Verhalten sowie die hier gemessene Passagedauer von 3,5 s ist nach unseren Erfahrungen für die Speisenröhrenpassage fester Arzneiformen typisch. Allerdings ist die inter- und intraindividuelle Streuung sehr hoch. Als normal werden für feste Arzneiformen zumeist Passagedauern von 30 Sekunden bis zu einer Minute angesehen.
Vorsicht: Hindernisse!
Feste Arzneiformen neigen dazu, in der Speiseröhre hängen zu bleiben. Diese Tendenz ist aus einer ganzen Reihe von Untersuchungen bekannt und keinesfalls auf Hartgelatinekapseln beschränkt (6, 7, 8). Wesentliche Einflussfaktoren sind neben der Größe der Arzneiform insbesondere das Volumen der mitgeschluckten Flüssigkeit und die Körperhaltung.
Gallo et al. (9) ermittelten die Bedingungen, unter denen eine Bariumsulfat enthaltende Testtablette mit einem Durchmesser von 12,5 mm mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 95 Prozent bei gesunden Probanden die Speiseröhre passiert. Die Ergebnisse dieser Studie sind frappierend: Im Liegen wurde eine Passagewahrscheinlichkeit von 95 Prozent auch bei Einnahme zusammen mit 100 ml Wasser nicht erreicht (Tabelle 1). Nach dieser Studie ist die Mindestanforderung bei Einnahme der getesteten Tablette ein um 45 Grad aufgerichteter Oberkörper sowie das Mitschlucken von 60 ml Wasser.
Tabelle 1: Schlucken von Tabletten im Liegen *
Flüssigkeitsvolumen (Angabe in ml)Prozentualer Anteil nicht erfolgreicher Passagen ohne Flüssigkeit 91 15 61 30 44 60 30 100 18*) Prozentuale Anteile nicht erfolgreicher Passagen einer Bariumsulfat-Tablette (Durchmesser 12,5 mm) durch die Speiseröhre von 20 gesunden Probanden in Abhängigkeit vom mitgeschluckten Volumen an Wasser (9)
Es sind über 70 Arzneistoffe bekannt, die bei Freisetzung in der Speiseröhre zum Teil erhebliche Verletzungen verursachen können (10, 11, 12). Einige der am häufigsten genannten Arzneistoffe sind in Tabelle 2 aufgeführt. Nach derzeitigem Kenntnisstand ist eine sichere Speisenröhrenpassage fester Arzneiformen nur durch die richtige Einnahmetechnik zu gewährleisten. Zur Beratung bei der Abgabe fester Arzneiformen gehört deshalb immer der Hinweis, dass diese in aufrechter Körperhaltung oder mit zumindest um 45 Grad angewinkeltem Oberkörper mit viel Wasser (mindestens 100 ml) einzunehmen sind. Nach unseren Beobachtungen lassen sich an der Speiseröhrenwand klebende Arzneiformen durch das Nachtrinken von Wasser nicht unbedingt wieder lösen. Das Wasser sollte deshalb nicht in Form der typischen kleinen Schlucke mit einem Volumen von oft nur 5 bis 10 ml getrunken werden, sondern tatsächlich als möglichst große Schlucke direkt mit der Arzneiform.
Tabelle 2: Arzneistoffe mit bekanntem Risiko der Auslösung von Erkrankungen der Speiseröhre; Auswahl nach (10)
WirkstoffgruppenWirkstoffe (Handelsprodukte, Auswahl) Bisphosphonate Alendronsäure (Fosamax®)
Bei Patienten mit Schluckbeschwerden oder bei bettlägerigen Personen ist immer zu bedenken, ob die Arzneiform nicht besser zerkleinert zusammen mit einem Löffel Breinahrung (keine feste Nahrung, die zerkaut wird), gefolgt von möglichst viel Flüssigkeit verabreicht werden kann. Klagt der Patient im Zusammenhang mit der Einnahme von Arzneimitteln über Beschwerden der Speiseröhre, ist dies unbedingt ernst zu nehmen.
Magenpassage
Der menschliche Magen dient der Speicherung, Vorverdauung und Zerkleinerung von Nahrungsbestandteilen. Er ist kein Resorptionsorgan; deshalb ist die Entleerung aus dem Magen bei den allermeisten Wirkstoffen eine für ihre Resorption unabdingbare Voraussetzung. Mit unserer magnetischen Messtechnik lässt sich das Verhalten von Arzneiformen im Magen gut untersuchen. Die Abbildung 2 in der Druckausgabe zeigt den anhand der Abnahme der magnetischen Induktion bestimmten Zerfall einer Hartgelatinekapsel im Magen eines nüchternen Probanden; er hatte die Kapsel zusammen mit 150 ml Wasser eingenommen (4).
Kontraktionsmuster des nüchternen Magens
Die Geschwindigkeit der Magenentleerung hängt besonders von dessen Füllungszustand ab, da der nüchterne und der mit Nahrungsbrei gefüllte Magen ein unterschiedliches Entleerungsverhalten aufweisen (13). Nüchtern tritt eine als Interdigestive Migrating Motor Complex (IMMC) bezeichnete Abfolge von elektrisch stimulierten Muskelkontraktionen auf, die sich in Richtung Dünndarm ausbreiten. Die Dauer der einzelnen Phasen variiert individuell, wobei eine mittlere Gesamtdauer des IMMC von zwei Stunden angenommen wird (13). Während der ungefähr 30 bis 45 Minuten dauernden Phase 1 ist der Magen weitgehend in Ruhe. Im Laufe der Phase 2 (ungefähr 30 min) kommt es in unregelmäßigen Abständen zu Kontraktionen, während in der nur 5 bis 15 Minuten andauernden Phase 3 heftige motorische Aktivitäten auftreten. Diese werden auch als housekeeper waves ("Putzwellen") bezeichnet, da durch die Kontraktionen unverdauliche größere Objekte aus dem Magen entleert werden. Anschließend klingt in einer als Phase 4 bezeichneten Übergangsphase die Aktivität wieder ab. Während der Phase 3 treten besonders häufig laute intestinale Geräusche ("Magenknurren") auf (14).
Einige prokinetisch wirksame Arzneistoffe lösen den Aktivitätsphasen des IMMC vergleichbare Kontraktionen des Antrums des Magens aus: Beispielsweise kann man durch die Gabe von Erythromycin, das schon in subantibiotischen Dosierungen als Motilin-Agonist wirkt, housekeeper waves induzieren, die eine Magenentleerung bewirken (15).
Nicht zerfallende Arzneiformen wie magensaftresistent überzogene Tabletten und viele retardierte Arzneiformen fallen unter die Kategorie der für den Magen unverdaulichen großen Objekte. Demzufolge werden diese nach nüchterner Einnahme während der Phasen 2 und 3 des IMMC entleert. Auch Granulatpartikel und Pellets zeigen häufig ein ähnliches Entleerungsmuster, wobei sie zumeist schneller als große Objekte entleert werden (16). Flüssigkeiten verlassen den nüchternen Magen entsprechend einer Kinetik erster Ordnung mit einer Halbwertszeit von ungefähr 10 bis 20 Minuten (13).
Die Magenentleerung wird durch die Kontraktionen des Antrums und den Grad der Öffnung des Magenpförtners (Pylorus) gesteuert (17). Der Pylorus kann sich bis zu einem maximalen Durchmesser von ungefähr 12 bis 14 mm erweitern (18). Größere Objekte können nicht aus dem Magen entleert werden. Dies nützt man bei der Entwicklung von speziellen Magenverweilarzneiformen (gastroretentive Arzneiformen) aus, indem man beispielsweise stark quellende Hilfsstoffe verwendet und dadurch die Magenentleerung der gequollenen Arzneiform behindert (18, 19).
Die Abbildung 3 in der Druckausgabe zeigt die mittels magnetischer Messung bestimmte Magenpassage und -entleerung einer magensaftresistenten Tablette nach nüchterner Einnahme zusammen mit 100 ml Wasser bei einem liegenden Probanden (20). Aus dem während der Magenentleerung beobachteten Geschwindigkeitsprofil wird deutlich, dass die Tablette geradezu herausgeschleudert wird. Vergleichbar hohe Geschwindigkeiten fester Arzneiformen während der Magenentleerung konnten wir nach nüchterner Einnahme wiederholt beobachten (21).
Allgemein kann man davon ausgehen, dass nicht zerfallende Arzneiformen nach nüchterner Einnahme innerhalb eines IMMC (also innerhalb von ungefähr zwei Stunden) entleert werden. Da die aktuelle Phase des IMMC zum Zeitpunkt der Einnahme nicht bekannt ist, sind Vorhersagen des Zeitpunkts der Magenentleerung nicht möglich (22). Typischerweise findet die Magenentleerung nach unseren Beobachtungen im Zeitraum zwischen 20 bis 60 Minuten nach der Einnahme statt. Allerdings konnten wir bei unlöslichen Kapseln und bei Tabletten in Einzelfällen auch extrem schnelle Entleerungen innerhalb von weniger als einer Minute nach der Einnahme sowie sehr späte Entleerungen nach nahezu drei Stunden beobachten. Angesichts dieser hohen Streuung ist die häufig anzutreffende Angabe unsicher, dass nicht zerfallende Arzneiformen nüchtern etwa 30 Minuten vor einer Mahlzeit einzunehmen seien. Vorzuziehen wäre ein Abstand von mindestens einer, besser noch von zwei Stunden.
Zerfallende Arzneiformen, die Wirkstoffe enthalten, deren Bioverfügbarkeit mit Nahrung stark absinkt, sollten ebenfalls in möglichst großem Abstand zu Mahlzeiten eingenommen werden. Ein gravierendes Beispiel sind die Bisphosphonate, deren ohnehin geringe perorale Bioverfügbarkeit durch Einnahme zum Essen noch weiter abnimmt (23). Bei der Abgabe von Bisphosphonaten sollte deshalb unbedingt auf die Einnahme in aufrechter Körperhaltung mit viel Wasser sowie einen Abstand von mindestens einer Stunde zur nächsten Mahlzeit hingewiesen werden (24).
Die Nahrung bestimmt, wie schnell sich der Magen entleert
Nach Nahrungsaufnahme ändert sich die Motorik des Magens grundlegend. Neben unregelmäßigen Kontraktionen treten jetzt wiederkehrend drei vom Korpus ausgehende, sich distal fortleitende Kontraktionen pro Minute auf (13). Der Mageninhalt wird dadurch in Richtung des Pylorus transportiert. Zusätzlich wird er im Bereich des Antrums zerkleinert und klassiert ("Antrummühle"), wobei nur ausreichend zerkleinerte Bestandteile über den Pylorus in den Dünndarm entleert werden. Die Geschwindigkeit der Magenentleerung hängt vor allem von der Zusammensetzung der Nahrung ab. Einige wichtige Einflussfaktoren zeigt die Tabelle 3. Des weiteren ist die Magenentleerung von Feststoffen bei Frauen langsamer als bei Männern, während bei Flüssigkeiten keine geschlechtsspezifischen Unterschiede zu beobachten sind (25). Die in der Tabelle 4 aufgeführten typischen Entleerungszeiten für Mahlzeiten sind Richtwerte, die erheblichen intra- und interindividuelle Schwankungen unterliegen.
Tabelle 3: Beispiele für Einflussfaktoren auf die Geschwindigkeit der Magenentleerung
EinflussfaktorenAuswirkung auf MagenentleerungNahrungsbestandteile
Tabelle 4: Ungefähre Verweildauern von Nahrungsmitteln im Magen
Nahrungsmittel
Verweildauer im Magen (in Stunden)
Reis, Fisch (gekocht)
1 - 2
Brot, Kartoffeln
2 - 3
Geflügel (gekocht)
3 - 4
Schweinebraten
bis zu 8
Die Bestandteile zerfallender Arzneiformen sowie ausreichend kleine Granulatpartikel oder Pellets (kleiner als ungefähr zwei Millimeter) werden mit der Nahrung entleert (16, 26). Je größer die Arzneiform ist, desto unwahrscheinlicher ist die Entleerung zusammen mit der Mahlzeit (27, 28). Sehr große Objekte verbleiben solange im Magen, bis sie aus dem wieder nüchternen Magen im Verlauf des IMMC transportiert werden (29). Eine Übersicht der Magenverweildauern von nicht zerfallenden Arzneiformen gibt die Tabelle 5. Gastroretentive Arzneiformen sollen lange im Magen verweilen. Um ihre schnelle Entleerung mit einer housekeeper wave zu vermeiden, sind derartige Arzneiformen möglichst mit Mahlzeiten einzunehmen.
Tabelle 5: Magenentleerung von nicht im Magen komplett zerfallenden Arzneiformen bei gesunden Probanden; Richtwerte nach (16)
ArzneiformMagenentleerungnach nüchterner Einnahmenach Einnahme mit NahrungMultiple units*) von der Art und Menge der Nahrung abhängig, insbesondere vom Kaloriengehalt
Die Dünndarmpassage
Der Dünndarm gliedert sich in drei Abschnitte, den Zwölffingerdarm (Duodenum), den Leerdarm (Jejunum) und den Krummdarm (Ileum). Da die meisten Arzneistoffe bevorzugt aus dem Dünndarm resorbiert werden, hat die Dauer der Dünndarmpassage einen großen Einfluss auf die Bioverfügbarkeit. Die sehr unterschiedlichen Angaben in der Literatur zu den Passagezeiten sind zu einem erheblichen Teil durch die Untersuchungs- und Auswertemethoden bedingt (30, 31, 32). Zumeist werden für feste Nahrung und Flüssigkeiten mittlere Dünndarmpassagezeiten von circa 160 Minuten beschrieben (33), wobei auch hier eine hohe Variabilität festzustellen ist. Es gibt keine geschlechtsspezifischen Unterschiede (31). Für feste Arzneiformen werden 180 Minuten mit einer Standardabweichung von 60 Minuten angegeben (16).
Der Transport des Darminhalts erfolgt nicht in Form einer kontinuierlichen Vorwärtsbewegung, sondern als komplexe Abfolge von Transportereignissen (die auch einen Rücktransport einschließen können), Ruhe- und Durchmischungsphasen. Soweit derzeit bekannt, lässt sich die Passagedauer durch den Zeitpunkt der Einnahme nicht beeinflussen. Die Abbildung 5 in der Druckausgabe zeigt die Passage einer nicht zerfallenden Kapsel durch den Zwölffingerdarm und einen Abschnitt des Jejunums bei einem liegenden Probanden (21).
Hoch variable Passagezeiten durch den Dickdarm
Der Dickdarm wird in den Blinddarm (Caecum), den aufsteigenden (Colon ascendens), den transversalen (Colon transversum), den absteigenden (Colon descendens), den S-förmigen (Colon sigmoideum) Abschnitt und den Enddarm (Rectum) unterteilt. Physiologisch dient der Dickdarm vor allem der Wasserrückresorption und der Speicherung des Darminhalts. Die Passagezeiten von Nahrungsbestandteilen und Arzneiformen sind extrem variabel (34). Sie reichen von wenigen Stunden bis zu drei und mehr Tagen. Für Nahrungsbestandteile wurde gezeigt, dass die mittlere Passagezeit bei Frauen länger als bei Männern ist (35). Die Motorik des Dickdarms ist immer noch wenig verstanden (36); daher sind Vorhersagen zu individuellen Dickdarmpassagezeiten nicht möglich. Der Transport im Dickdarm findet sowohl in Form von vielen kurzreichenden als auch insbesondere durch ein- bis dreimal pro Tag stattfindende weitreichende Transportereignisse (mass movements) statt (37, 38). Das Ausbleiben von solch weitreichenden Transportereignissen wird als eine der Ursachen der Obstipation diskutiert (39).
Die Abbildung 6 in der Druckausgabe zeigt ein Beispiel für einen weitreichenden Transport einer unlöslichen Kapsel, den wir bei einem Probanden sechs Stunden nach der Einnahme beobachtet haben. Hier wurde die Kapsel innerhalb von weniger als einer halben Minute durch den transversalen in den absteigenden Dickdarm befördert (40). Während der folgenden Stunden konnte dann allerdings kein nennenswerter weiterer Transport mehr beobachtet werden.
Mit der von uns entwickelten magnetischen Messtechnik lassen sich Transport und Zerfall fester Arzneiformen im Gastrointestinaltrakt mit hoher zeitlicher und räumlicher Auflösung untersuchen. Allerdings lässt sich derzeit immer nur eine einzelne, als magnetischer Dipol markierte feste Arzneiform verfolgen. Wir arbeiten deshalb an Verfahren, die eine simultane Lokalisation mehrerer Objekte ermöglichen sollen. Im Gegensatz zur Gammaszintigraphie oder zur MRT ist die Untersuchung der Gastrointestinalpassage von Flüssigkeiten mit unserer magnetischen Lokalisation prinzipiell nicht möglich.
Wichtige Grundregeln für die Beratung beachten
Für den Apotheker lassen sich einige Regeln für die Beratung aus der Kenntnis des Verhaltens fester Arzneiformen im Gastrointestinaltrakt ableiten (siehe Kasten). Generell gilt, dass feste Arzneiformen nicht im Liegen einzunehmen sind. Jede feste Arzneiform sollte möglichst im Stehen, auf alle Fälle jedoch mit erhobenem Oberkörper zusammen mit reichlich Wasser (mindestens 100 ml) geschluckt werden. In Problemfällen (bettlägerige Patienten, Patienten mit Schluckstörungen) sollte der Apotheker an flüssige Darreichungsformen oder im Mund zerfallende, schnell lösliche Arzneiformen denken. Wenn solche Alternativen nicht vorhanden sind, sollte er prüfen, ob sich die Arzneiformen nicht zerkleinern (Tabletten) oder öffnen lassen (Kapseln), ohne dass dadurch ein Formulierungsprinzip beeinträchtigt oder gar zerstört wird. Besonders kritisch sind solche Maßnahmen jedoch bei retardierten und magensaftresistenten Formen.
Wichtige Tipps für die richtige Einnahme
Arzneimittel, die schnell wirken sollen, sind in der Regel nüchtern einzunehmen. Das gleiche gilt für magensaftresistente Formen. Insbesondere magensaftresistent überzogene Tabletten und Dragees bleiben wegen ihrer zum Teil erheblichen Größe im gefüllten Magen unter Umständen sehr lange Zeit liegen. Dies verzögert den Wirkungseintritt unnötig und kann auch einen unerwünschten Zerfall im Magen provozieren. Auf Grund der Ruhephasen der Nüchternmotorik des Magens sollte eine nüchterne Einnahme nicht zerfallender Arzneiformen mindestens eine Stunde, besser jedoch zwei Stunden vor einer Mahlzeit erfolgen.
Eine Ausnahme bilden nicht magensäurestabile Pankreasenzyme. Bei diesen Wirkstoffen muss die Magenentleerung mit der Nahrung erfolgen. Dies erfordert allerdings eine ausreichend geringe Partikelgröße. Die labilen Pankreasenzyme sollten deshalb als magensaftresistente multipartikuläre Arzneiformen (Pellets, Granulate) formuliert werden (41).
Die Gesamtdauer der Gastrointestinalpassage lässt sich durch den Einnahmemodus nur wenig beeinflussen, da die Dickdarmpassage in der Regel der zeitbestimmende Vorgang ist und durch den Zeitpunkt der Einnahme nicht beeinflusst werden kann. Der Zeitpunkt der Einnahme bestimmt allerdings, wann der Wirkstoff aus dem Magen entleert wird. Nach nüchterner Einnahme wird er vorwiegend als Bolus, nach Einnahme zu einer Mahlzeit dagegen kontinuierlicher in den Dünndarm übertreten. Da viele Arzneistoffe wesentlich effizienter aus dem Dünndarm als aus dem Dickdarm resorbiert werden, ist es häufig sinnvoll, retardierte Zubereitungen und Wirkstoffe, die ein Resorptionsfenster im oberen Dünndarm aufweisen, mit der Mahlzeit einzunehmen. Allerdings wird die Resorption von vielen Einflüssen, beispielsweise Wechselwirkungen des Arzneistoffs mit Nahrungsbestandteilen, bestimmt, so dass in diesen Fällen allein aus den Abläufen der Gastrointestinalpassage keine allgemein gültigen Einnahmeempfehlungen abzuleiten sind.
Literatur
Der Autor
Werner Weitschies studierte Pharmazie in Berlin und wurde bei Professor Dr. Rüdiger Gröning im Fachgebiet Pharmazeutische Technologie promoviert. Von 1990 bis 1996 arbeitete er bei der Schering AG in der Kontrastmittelforschung und war von 1996 bis 1998 als Projektleiter am Institut für Diagnostikforschung an der Freien Universität Berlin tätig. Er habilitierte sich an der Universität Münster für Pharmazeutische Technologie und ist seit Dezember 1998 Professor für Pharmazeutische Technologie in Greifswald. Seine Arbeitsschwerpunkte sind das In-vivo-Verhalten von Arzneiformen sowie die Entwicklung von nanopartikulären Signalgebern für die bildgebende molekulare Diagnostik.
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. Werner Weitschies
Institut für Pharmazie
Ernst-Moritz-Arndt-Universität
Friedrich-Ludwig-Jahn-Straße 17
17487 Greifswald
E-Mail: werner.weitschies@pharmazie.uni-greifswald.de
Im Web: www.uni-greifswald.de/~pharma/techno.html
© 2001 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de