Pharmazeutische Zeitung online

Netze verbinden und grenzen aus

03.04.2000  00:00 Uhr

-TitelGovi-Verlag

GESUNDHEITSSYSTEME

Netze verbinden und grenzen aus

von Martin Thomsen, Hannover

"Aus Fehlern wird man klug", heißt ein Sprichwort. Die Natur hat auch aus "Fehlern" gelernt und sich ständig weiterentwickelt. Ein Opfer der Evolution waren die Dinosaurier, die sich nicht den Veränderungen anpassen konnten. Wie es sich damals genau zugetragen hat, darüber streiten sich die Gelehrten, aber das Ergebnis ist unbestritten: Die Dinosaurier sind ausgestorben. Die Menschen als am höchsten entwickelte Lebensform schaffen es als einzige Spezies, sich der Darwinschen Evolutionstheorie bewusst zu entziehen. Dies sei am Beispiel der Entwicklung im Gesundheitswesen dargestellt.

Mit rund 10 Prozent des Bruttosozialprodukts vereinnahmte das deutsche Gesundheitswesen 525 Milliarden DM im Jahr 1996 (1). Die hohen Kosten im Gesundheitssystem sind immer wieder Gegenstand heftiger Diskussion in der Politik. Diverse Reformen in den vergangenen Jahren sollten die Ausgaben senken oder zumindest stabilisieren. Dazu wurde in den Arzneimittelmarkt eingegriffen (Festbeträge, Budgets, Richtgrößen, Regressandrohungen, Stichproben) und Beitragssätze für die gesetzlichen Krankenkassen festgesetzt.

Die Diskussionen um die Senkung der Gesamtkosten basieren auf einer Hypothese, deren Wahrheitsgehalt nicht oder nur unzureichend von der Politik überprüft wird. Den Rotstift nur wegen der großen Gesamtsumme des Gesundheitssystems anzusetzen, ist eigentlich nicht zulässig. Vielmehr müsste valide geprüft werden, ob das Gesundheitssystem so teuer ist, weil - polarisierend ausgedrückt - Verschwendung getrieben wird oder weil die Gelder tatsächlich benötigt werden. Nur für den Fall der Ressourcenverschwendung wäre eine Kürzung gerechtfertigt.

Warum werden die Gelder knapp?

Im Unterschied zu der sich selbst regulierenden Marktwirtschaft wird das Gesundheitssystem solidarisch finanziert. Das ist im Sozialgesetzbuch (SGB) verankert. Darüber hinaus besteht eine Versicherungspflicht. Im sonstigen privaten Bereich besteht zwar die Möglichkeit, sich für verschiedene Fälle zu versichern, zum Beispiel mit einer Lebens- oder Vollkaskoversicherung, dies geschieht jedoch bis auf wenige Ausnahmen freiwillig. Gesundheit ist somit ein (gezwungenermaßen) solidarisch finanziertes Gut der Gesamtbevölkerung. Dabei ist es nur logisch, dass jüngere Versicherte weniger Geld für Gesundheit benötigen als ältere, die oft multimorbid sind. Steigt also entsprechend der Prognosen der Anteil der älteren Bevölkerung, erhöht sich auch der Anteil der "Nutzer" des Gesundheitssystems, und es wird mehr Geld benötigt. Die Verschiebung in der Alterspyramide und die steigende Lebenserwartung werden in Zukunft weiter dafür sorgen, dass die jedem Einzelnen zur Verfügung stehenden Gelder knapper werden.

Ein weiterer Grund für die zunehmende Geldknappheit ist der medizinische Fortschritt. Ein Beispiel: Ohne Insulin hatten zur Jahrhundertwende die juvenilen Diabetiker eine so geringe Lebenserwartung, dass sie selten die Pubertät erlebten. Kosten fielen also weder für diese Patienten noch für deren Nachfahren an. Heute ist die Lebenserwartung der Diabetes-Patienten nahezu ebenso hoch wie bei Gesunden. Die Veranlagung zu Typ-1-Diabetes wird vermehrt weitergegeben, so dass langfristig auch mehr Kosten entstehen. Dieser medizinische Fortschritt ist selbstverständlich gewünscht. Niemand würde ihn - womöglich aus Kostengründen - den Patienten vorenthalten wollen.

Ein gesellschaftspolitisches Problem kommt hinzu. Ein Solidarsystem kann nur solange funktionieren, wie es auch solidarisch genutzt wird. Wenn allerdings die Mitglieder ihren eingezahlten Beitrag auf irgendeine Art und Weise wieder „herausbekommen„ wollen, ist das Solidarsystem zum Scheitern verurteilt. So soll es vorkommen, dass Leistungserbringer von einzelnen Patienten unter Druck gesetzt werden, irgendwelche Leistungen zu verordnen, damit diese „für ihren Beitrag auch etwas bekommen„. Die Ärzte als Leistungsverursacher befinden sich in einer Zwickmühle, weil sie für das Ausmaß der veranlassten Leistungen wirtschaftlich mitverantwortlich gemacht werden. Als Außenstehender kann man leicht sagen, dass der Arzt nur das zu veranlassen hat, was medizinisch geboten ist. Die Wirklichkeit verlangt jedoch Feingefühl und Diplomatie und kann eben nicht immer emotionslos entschieden werden. Dabei bedeuten "Feingefühl und Diplomatie" nicht, dem Patientenwunsch kritiklos zu folgen. Ebenso wenig kann das andere Extrem, dem Patienten notwendige medizinische Leistungen aus Gründen der wirtschaftlichen Mitverantwortung zu versagen, akzeptiert werden.

Es ist müßig, sich über den Wahrheitsgehalt der genannten Hypothese zu unterhalten. Die Wahrheit liegt wohl zwischen den Extremen, so dass im deutschen Gesundheitssystem zwar Sparpotenziale existieren, aber dennoch generell verantwortungsbewusst gearbeitet wird.

Wenn es Sparpotenziale gibt, sollten diese im Sinne eines funktionierenden Solidarsystems genutzt werden. Hierzu gab es bereits diverse Ansätze. Bis einschließlich 1994 hat es, mit Ausnahme der Seehoferschen Reform und deren Auswirkungen im Arzneimittelmarkt, keinen nennenswerten Erfolg bei der Eindämmung der Kosten gegeben. Die Senkung der Gesamtkosten gelang, wenn überhaupt, nur zeitlich begrenzt.

Reformen sollten jedoch nicht nur den Arzneimittelsektor isoliert betrachten. Echte Reformen müssen das System verändern, sie sollten funktionierende Elemente beibehalten und ineffektive durch wirksamere ersetzen. Was haben andere Länder getan, um die Kosten im Gesundheitswesen in den Griff zu bekommen?

Managed Care in den USA

Mitte der achtziger Jahre sind die USA mit dem Schlagwort Managed Care den hohen Kosten im Gesundheitssystem begegnet. HMOs (Health Maintenance Organisations) und PPOs (Preferred Provider Organisations) verzeichneten stark steigende Mitgliedszahlen.

Managed Care sollte Kosten im Gesundheitssystem einsparen. Daher wurde die Kommunikation zwischen allen am Gesundheitswesen Beteiligten optimiert. Unnötige Doppeluntersuchungen sollten reduziert oder eliminiert werden, und dazu mussten die Leistungen für den Patienten koordiniert (gemanaged) werden. Je nach Managed Care-System ist die Organisation als Koordinator, Leistungserbringer oder auch nur als Vertragspartner tätig.

Die HMOs werden in vier Grundtypen eingeteilt (2,3): Staff-Modell, Group-Modell, Network-Modell und IPA (independend practice association). Die einzelnen Systeme unterscheiden sich im Grad der Freiheit für den Patienten.

  • Das Modell mit den wenigsten Freiheiten ist das Staff-Modell. Hier befinden sich alle Leistungserbringer unter einem Dach. Der Patient hat keine freie Arztwahl. Er muss zu seiner Staff-HMO gehen, um medizinische Leistungen zu erhalten. Dort wird er von angestellten Ärzten behandelt. Auch eine Apotheke kann dort integriert sein.
  • In den Group-Modellen sind Ärzte in Gruppenpraxen organisiert und schließen mit der HMO Verträge ab. Die Gruppenpraxen sind nicht nur verpflichtet, Informationen zur Vertrags-HMO zu geben, sondern müssen auch in Verbindung zu anderen Gruppenpraxen stehen, die ebenfalls Vertragspartner der HMO sind.
  • Im Network-Modell sind die Gruppenpraxen vertraglich an die HMO gebunden, stehen aber untereinander nicht mehr in Kontakt.
  • Schließlich gibt es ein IPA-Modell, bei dem einzelne Arztpraxen Verträge mit der HMO abschließen.

Neben diesen klar definierten vier Grundtypen gibt es Zwischenmodelle, die als Hybride bezeichnet werden. Auf andere Managed Care-Organisationen soll hier nicht eingegangen werden, das Literaturverzeichnis nennt weiterführende Quellen.

Wenig Rechte für die Patienten

Die gnadenlos harten Vertragsabschlüsse haben tatsächlich Ausgaben eingespart. Verschiedene Arbeiten zeigen, dass Qualität und Leistungen in den Managed Care-Organisationen zumindest nicht schlechter sind als bei anderen im Markt befindlichen Systemen (4, 5). Problematisch war nur, dass große Teile der Einsparungen in der HMO verblieben und zu Lasten der Leistungserbringer erzielt wurden. Ein kleinerer Teil wurde dazu verwendet, die Beiträge der Versicherten zu senken. Für mehr Freiheiten allerdings, zum Beispiel für die freie Arztwahl oder Übernahme der Arzneikosten, muss der Patient mehr bezahlen. So war und ist der Patient in den USA derjenige, der bestimmt, "wie sein persönliches Auto ausgestattet wird."

In jüngster Zeit häufen sich jedoch Klagen in der Öffentlichkeit über die Praxis der HMOs. Es werden medienwirksam Fälle vorgeführt, wonach notwendige medizinische Behandlungen unterblieben und Patienten zu Schaden gekommen sind. Der Grund liegt offenbar in der "Gewinnmaximierungsstrategie" der Versicherungen. Die Leistungserbringer haben erkannt, dass sie die Leistungen zu den vereinbarten Konditionen nicht mehr erbringen können und wollen. Sie wollen nicht mehr "billig" zu Verträgen verpflichtet werden. Damit steigt die Ausgabenlast, die Gewinne werden schmäler, und die Beiträge der Versicherten steigen. Der anfängliche Einspareffekt droht zu kippen. Um den Patienten in diesem System mehr Rechte einzuräumen, versucht derzeit die Clinton-Administration in Washington, das Recht auf Klage gegen HMO-Entscheidungen für die Patienten zu ermöglichen (6, 7, 8).

Die einzelnen Leistungserbringer stehen inzwischen in einem harten Konkurrenzkampf. Ein Verbraucherjournal von 1994 enthält zum Beispiel einen Katalog von Frauenärzten mit Angaben zum Jahr des Studienabschlusses (board certification), Anzahl der Berufsjahre (years in practice), Kosten für normale Geburt (vaginal delivery) und für Kaiserschnitt (c-section) sowie eine Liste der PPO- und HMO-Vertragspartner (9).

In Deutschland grassiert die Netzomanie

Wie in den USA gab und gibt es auch in der Bundesrepublik diverse Ansätze, Kosten einzudämmen und gleichzeitig die Qualität zu erhalten oder zu verbessern. Die neuesten sind in der Gesundheitsreform 2000 zu finden. Dort wird vermehrt, unter anderem in § 140 SGB V, von "integrierten Versorgungsformen" gesprochen. In § 140 b ist geregelt, wer Verträge zu den integrierten Versorgungsformen abschließen kann. Danach können Krankenkassen mit folgenden Partnern Verträge schließen:

  • Gemeinschaften von zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Ärzten und Zahnärzten sowie einzelne sonstige an der Versorgung der Versicherten teilnehmende Leistungserbringer oder deren Gemeinschaften,
  • Kassenärztliche Vereinigungen,
  • Träger zugelassener Krankenhäuser, Träger von stationären Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, soweit mit ihnen ein Versorgungsvertrag nach § 111 besteht, Träger von ambulanten Rehabilitationseinrichtungen oder deren Gemeinschaften, und
  • Gemeinschaften der genannten Leistungserbringer.

Diese Gruppen sollen eine eigene Angebotsliste erstellen und mit den Kostenträgern vereinbaren können. Die verhandelten finanziellen Mittel werden von den festgelegten Kosten (Budgets) abgezogen. Für die Leistungserbringer ergibt sich somit die Möglichkeit, sich durch Netzbildung einerseits zu solidarisieren, um kompakte Leistungsangebote machen zu können. Andererseits besteht die Gefahr der Abspaltung aus dem System durch Ausgrenzung anderer Leistungserbringer.

Die Netzbildung hat sich zu einem Trend im Gesundheitssystem entwickelt. Im ganzen Land findet sich eine Vielzahl von unterschiedlich ausgerichteten Formen, einige zielen auf die Versorgung allgemein ab, andere spezialisieren sich auf bestimmte Indikationen. Die einen Netze werden mit Unterstützung von Kassenärztlicher Vereinigung und Krankenkassen ins Leben gerufen, andere ergeben sich aus den Aktivitäten einzelner zusammengeschlossener Leistungsanbieter. Worin liegt nun der eigentliche Grund für diese Netzomanie?

Die Ziele der Netze

Allgemeine Ziele zeichnen sich dadurch aus, dass sie so allgemeingültig sind, dass niemand dagegen sein kann. Die Gesundheitsnetze haben zum Ziel, einen optimalen Informationsfluss zwischen den Leistungsanbietern zu gewährleisten, damit zum Beispiel keine Doppeluntersuchungen anfallen und direkt oder indirekt die Qualität der Behandlung verbessert wird. Arzneikosten sollen durch eine Positivliste oder konsequente Umstellung auf Generika gesenkt werden. Qualitative Nachteile sollen dem Patienten nicht entstehen. Weiter sollen unnötige Krankenhauseinweisungen vermieden werden. Diese Ziele werden mehrheitlich von allen am Gesundheitssystem Beteiligten oder Parteien anerkannt.

Der Teufel steckt im Detail

Probleme entstehen allerdings, wenn man sich den Weg genauer betrachtet, der zu diesen Zielen führen soll. Dies sei an einigen Beispielen gezeigt.

  • Doppeluntersuchungen:
    Wenn unnötige Doppeluntersuchungen entfallen, können sie auch nicht mehr abgerechnet werden. Sollte im Netzvertrag vereinbart sein, dass sich Ärzte und Krankenkassen den gesparten Betrag teilen, steht den Ärzten eben nur die Hälfte des Betrages zur Verfügung, was einer Budgetabsenkung vom Status quo gleich kommt. Sonst müsste dem Netzarzt – was unwahrscheinlich ist – ein höheres Budget als außerhalb des Netzes pro Fall zugestanden werden. Eine Möglichkeit, das Problem auf einen späteren Zeitpunkt zu verlagern, besteht in der "Anschubfinanzierung" durch die Krankenkassen.
  • Generika:
    Bei der konsequenten Umstellung von Originalpräparaten auf Generika wird, leicht errechenbar durch Preisdifferenz mal Verordnungszahl, ein Betrag von X DM eingespart. Rein pharmakologisch betrachtet mag das in den meisten Fällen funktionieren. Vorsichtig muss man aber bei Arzneistoffen mit geringer therapeutischer Breite sein, wie jeder Apotheker weiß. Selbst wenn pharmakologisch gegen den Austausch von zwei Präparaten nichts einzuwenden ist, kann sich ein Compliance-Problem entwickeln. Patienten, die nach langer Zeit auf ein günstigeres Präparat umgestellt werden, misstrauen oftmals der neuen Arznei. Wenn sie nun die Therapie schleifen lassen oder verweigern, könnte dies für das System deutlich teurer werden als das Weiterverordnen der bisherigen "hochpreisigen" Präparate.

Bei der Umstellung auf Generika muss daher neben der rationellen Komponente eine emotionale beachtet werden. Die Apotheker sind strikt gegen eine kategorische und emotionslose Umstellung auf die jeweils preisgünstigeren Generika. Aus zwei Gründen: Erstens sind aus der täglichen Praxis Probleme mit Austauschbarkeit, Compliance und Lieferfähigkeit einzelner Produkte bekannt. Zweitens darf man nicht einseitig an Arzneimitteln sparen, ohne die Folgekosten in anderen Bereichen dagegen zu rechnen.

  • Krankenhauseinweisungen:
    Unnötige Krankenhauseinweisungen zu verhindern, ist gut für das Gesamtsystem, nicht aber für das betroffene Krankenhaus. Dem droht nämlich ein Bettenabbau, weil die Krankenkassen keine Überkapazitäten finanzieren werden.
  • Capitation:
    Um das Abrechnungswesen möglichst einfach zu gestalten, wollen viele Krankenversicherungen nach einem Pauschalerstattungsprinzip, dem Capitation-Prinzip, arbeiten. Dabei wird eine Pauschale pro Quartal und Patient angesetzt, die alle zu erbringenden Leistungen abdeckt. Die Gefahr: Der Arzt kann diese Summe abrechnen, egal welche Leistungen er für den Patienten erbracht hat. Im wirtschaftlichen Sinne wird er sogar gehindert, vielleicht notwendige Untersuchungen vorzunehmen, weil diese den Fixkostenanteil in die Höhe treiben würden und seinen Ertrag mindern. Oft wird diskutiert, ob ein Qualitätsverlust der Behandlung mit diesem Prinzip verbunden ist.
  • Netzmanager:
    Netze müssen, um im Markt bestehen zu können, effizient geführt werden. Neben der Qualität der einzelnen Leistungserbringer muss auch die Wirtschaftlichkeit überwacht werden. Dazu braucht man professionelle Netzmanager, die zum Beispiel ein Studium als Health Network Manager (HNM) abgeschlossen haben.

Gegen das Risiko der Unwirtschaftlichkeit kann sich ein Netz versichern. Hierzu gibt es Angebote großer Versicherer. Doch diese wollen selbst ihr Risiko minimieren, um im Schadensfall nicht zu sehr bluten zu müssen. Deshalb können sich die Versicherungen rückversichern. Die Prämien für diese Rückversicherungen werden ebenfalls dem Netz und damit auch der Solidargemeinschaft entzogen. Neue Spieler erscheinen im hart umkämpften Gesundheitsmarkt.

Konsequenzen aus diesen Problemen

Man sieht, dass mit verschiedenen Instrumenten bei einzelnen Gruppen (Ärzte, Apotheker, Krankenhäuser) gespart werden soll. Nutznießer sind die Krankenkassen, die geringere Ausgaben hätten. Diese Erkenntnis hat sich allmählich bei den Leistungsanbietern herumgesprochen. Als Konsequenz stellen diese nun ihre Handlungsweise auf eine Angebotstaktik um: Verträge werden nicht mehr von vorneherein mit den Krankenkassen geplant. Vielmehr wird innerhalb des Leistungsanbieterverbundes ein Angebot entwickelt, das dann der Krankenkasse vorgelegt wird. Bei einer flächendeckenden Vernetzung in einem geographisch begrenzten Gebiet wird die Krankenkasse solche Verträge abschließen müssen, um ihren Versorgungsauftrag erfüllen zu können. So könnte das Kräfteverhältnis zu Gunsten der Netze umgedreht werden, sie bestimmen über Strukturen der medizinischen Versorgung.

Eine zentrale Rolle spielen die niedergelassenen Ärzte, da sie quasi die Eintrittstür zum Gesundheitssystem darstellen und medizinische Leistungen veranlassen oder auch stoppen können. Ihnen kommt unverändert die wirtschaftliche Schlüsselfunktion zu. Ein Arztnetz kann auch mit „Zulieferern„ anderer Leistungen verhandeln, wobei diese Partner nicht in erster Linie dem Netz verpflichtet werden können, sondern primär die Gesetze zu befolgen haben.

Ein Netz kann aber auch von einem Krankenhaus gebildet werden. Vorteile: Eine Verwaltung ist vorhanden, und der Zugriff auf bestehende medizinische Einrichtungen ist ebenfalls gesichert. Für das Krankenhaus kann es zudem vorteilhaft sein, ambulant tätige Ärzte an das "Kliniknetz" zu binden.

Wohin könnte die Reise gehen?

Laut § 140 b können die Krankenkassen auch mit einzelnen Partnern im Gesundheitswesen – quasi an der KV vorbei - Verträge abschließen. Dies fördert einerseits autarke Netzstrukturen, zum anderen aber eine Entsolidarisierung. Dass die Netze autark werden wollen, zeigen die Stellenangebote für Netzmanager. Die Verhandlungsmacht der Berufsvertretungen würde dramatisch geschwächt.

Nun wird sich ein Netz, das von einem starken Manager geführt wird, nicht dem Solidarprinzip verpflichtet fühlen. In erster Linie will es für sich selbst sorgen. "Wer ein Netz legt, will Beute mache" (10). Netze folgen einen legitimen Selbsterhaltungstrieb. Sie wollen Risiken minimieren, indem sie Leistungserbringer ausschließen, die die wirtschaftliche Situation des Netzes oder den Qualitätsstandard negativ beeinflussen. Offen ist dabei, nach welchen Kriterien die Netze einzelne Leistungserbringer beurteilen werden.

Diese Aktivitäten müssen nicht zu Lasten der Qualität gehen. Wenn aber Einsparungen nicht an das Solidarsystem insgesamt weitergegeben werden, sondern im Netz verbleiben, ist die Finanzierbarkeit des Systems für die Zukunft keinen Schritt voran gekommen. Die "Reform" ist damit zum sachlichen Scheitern verurteilt.

Apotheker sind in einer beneidenswerten Situation, könnte man meinen. Durch die Arzneimittelpreisverordnung sind Rabatte keine Verhandlungsmasse; durch die freie Apothekenwahl wird der Ausschluss einzelner Leistungserbringer verhindert, und Versandhandel mit Arzneimitteln ist verboten. Eigentlich haben Apotheker mit der Netzbildung "nur" insofern zu tun, als dass sie weiter zu einem großen Teil vom Verschreibungsverhalten der Ärzte abhängig sind. Falls aber einzelne "Netzapotheken" Hoflieferant werden und damit vielleicht gesetzliche Verstöße in Kauf genommen werden, könnte die Einheit der Apothekerschaft insgesamt in Frage gestellt werden. Diese Hoflieferanten werden für die Maximierung im Netz benutzt, alle anderen Apotheken werden darunter leiden. Der wirtschaftliche Vorteil der Hoflieferanten wird nur kurzfristig und vordergründig sein. Daher sollte die Apothekerschaft nur eine gemeinsame Angebotsstrategie für Netze verfolgen.

Die Gesundheitssysteme in den USA und in Deutschland haben einige Gemeinsamkeiten. Beide haben hohe Kosten, beide treten auf die Kostenbremse. Die USA hat uns allerdings rund zehn Jahre voraus. Was die Gesundheitsreform 2000 jetzt als integrierte Versorgungsformen ermöglicht, ist nichts anderes als ein Hybrid aus Network-Modell und IPA, den die USA in den achtziger und neunziger Jahren favorisiert hat. Das nicht überzeugende Ergebnis kennen wir.

§140 a- Integrierte Versorgung

  1. Integrierte Versorgungsformen aufgrund der Verträge nach den §§ 140 b und 140 d ermöglichen eine verschiedene Leitungssektoren übergreifende Versorgung der Versicherten. Das Versorgungsangebot und die Voraussetzungen seiner Inanspruchnahme ergeben sich aus dem Vertrag nach §140 b und, soweit es vertragsärztliche Versorgung einschließt, aus den Rahmenvereinbarungen nach § 140 d.
  2. Die Teilnahme der Versicherten an den integrierten Versorgungsformen ist freiwillig. Ein behandelnder Leistungserbringer darf aus der gemeinsamen Dokumentation nach § 140 b Abs. 3 die den Versicherten betreffenden Behandlungsdaten und Befunde nur dann abrufen, wenn der Versicherte ihm gegenüber seine Einwilligung erteilt hat, die Informationen für den konkret anstehenden Behandlungsfall genutzt werden soll und der Leistungserbringer zu dem Personenkreis gehört, der nach § 203 des Strafgesetzbuches zur Geheimhaltung verpflichtet ist.
  3. Die Versicherten haben das Recht, von ihrer Krankenkasse umfassend über die Verträge zur integrierten Versorgung, die teilnehmenden Leistungserbringer, besondere Leistungen und vereinbarte Qualitätsstandards informiert zu werden. Dieses Recht besteht auch gegenüber den teilnehmenden Leistungserbringern und ihren Zusammenschlüssen.

Kommentar

Einig und stark

Wir als Apotheker können uns auf Gesetze berufen. Eigentlich kann uns gar nichts passieren. Passieren wird uns jedoch nur dann nichts, wenn der gesamte Berufsstand mit einer Stimme spricht und einheitlich handelt. Sobald sich Einzelkämpfer als "Hoflieferanten" andienen und sich persönliche Vorteile ausrechnen, wird das System kippen. Die Arzneimittelpreisverordnung steht dann zur Disposition, die freie Apothekenwahl wäre faktisch nicht mehr vorhanden. Damit wäre der Patient "pharmazeutisch entmündigt" und der Krieg innerhalb des Berufsstandes der Apotheker entfacht. Deshalb sollten wir aus den Fehlern der anderen lernen und sie nicht wiederholen.

Martin Thomsen

Literatur:

  1. www.amgen.de
  2. The Managed Care Handbook - A Pharmaceutical Professional Guide. Eli Lilly, 1994.
  3. Arnold, M., Lauterbach, K. W., Preuß, K. J. (Hrsg.), Managed Care - Ursachen, Prinzipien, Formen und Effekte. Beiträge zur Gesundheitsökonomie. Bd. 31, Schattauer Verlag Stuttgart 1997.
  4. Braveman, P., et al., Insurance-related Differences in the Risk of Ruptured Appendix. N. Engl. J. Med. Vol. 331, No.7 August 18 (1994).
  5. Langa, K. M., Sussman, E. J., The Effect of Cost.Containment Policies on Rates of Coronary Revascularisation in California. N. Engl. J. Med. Vol. 329, No.24 December 9 (1993).
  6. www.washingtonpost.com/wp-srv/politics/special/healthcare/ls070297.htm
  7. Scrip Magazine (1999) 31-32.
  8. cnn.com/HEALTH/9907/12/patients.rights/
  9. Health Pages - A Consumer´s Guide. Summer/fall 1994.
  10. Vortrag M. Müller, Roland Berger & Partner, Jahresversammlung des Bundesverbandes Managed Care (BMC). Düsseldorf 1998.

Anschrift des Verfassers:
Dr. Martin Thomsen
Apothekerkammer Niedersachsen
An der Markuskirche 4
30163 Hannover
Top

© 2000 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de

Mehr von Avoxa