Ein (Alb-) Traum von Amerika |
04.03.2002 00:00 Uhr |
Vor einigen Wochen hat der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen ein Sondergutachten zur Reform der Arzneimittelversorgung in Deutschland veröffentlicht. Viele seiner Vorschläge betreffen eine Liberalisierung des Arzneimittelvertriebs. Ein Blick auf das Distributionssystem in den USA zeigt jedoch, dass die mit einer Änderung des Arzneimittelvertriebs verbundene Hoffnung auf Kosteneinsparungen nicht gerechtfertigt ist.
Die USA haben den marktlichen Arzneimittelvertrieb konsequenter und früher beschritten haben als andere Länder, so dass sich eventuelle segensreiche Wirkungen des Marktmechanismus hier in besonderer Deutlichkeit aufzeigen lassen müssten. Im Folgenden werden verschiedene Charakteristika des amerikanischen Systems dargestellt, und ihre Wirkungen anhand verschiedener Untersuchungen verdeutlicht. Die deutschen Befürworter eines radikalen Systemwechsels glauben, dass die Nachteile des US-amerikanischen Weges vermeidbar wären. Doch bei näherer Analyse zeigt sich, dass viele negativen Aspekte faktisch unvermeidlich - da systemimmanent - sind.
Versicherungsschutz
61 Prozent der amerikanischen Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter sind für Arzneimittelausgaben über den Arbeitgeber versichert, 11 Prozent über Medicaid (Programm für sozial Schwache mit gewisser Nähe zur deutschen Sozialversicherung), und 23 Prozent haben keinen Versicherungsschutz. In Deutschland ist dagegen faktisch die gesamte Bevölkerung versichert.
Die gegenwärtige konjunkturelle Abschwächung in den USA und die gestiegenen Kosten der Arbeitgeberleistung dürften zu einer Verschlechterung der Absicherung der Bevölkerung führen, da der Krankenversicherungsschutz in hohem Maße vom Arbeitsverhältnis abhängig ist (2). Bei Entlassung droht der Verlust des Schutzes, in Kostensenkungsprogrammen der Unternehmen sind Einschnitte beim Versicherungsschutz inzwischen üblich. Zwar bieten viele Unternehmen entlassenen Mitarbeitern an, das bisherige Versicherungsverhältnis gegen Übernahme der vom Arbeitgeber zu leistenden Beitragszahlung aufrecht zu halten - ohne Arbeitseinkommen ist dies aber häufig nicht finanziell zu verkraften. Ein neuer Arbeitgeber kann und will zudem häufig nicht in den alten Versicherungsvertrag einsteigen.
Für das Jahr 2000 wird für die USA geschätzt, dass die Kranken 34,3 Prozent der Ausgaben für verschreibungspflichtige Arzneien aus der eigenen Tasche bezahlen, 21,8 Prozent werden von staatlichen Stellen getragen und 43,9 Prozent von Versicherern übernommen. Ein Trend zu mehr Eigenbeteiligung war in den USA seit 1990 nicht zu erkennen. Anfang der 90er-Jahre lag der staatliche Anteil bei lediglich 17 Prozent. Im Gegensatz dazu sank der privat zu tragende Teil von damals fast 60 Prozent und wurde durch Versicherungsleistungen (und staatliche Leistungen) ersetzt. Die Zahlen spiegeln vermutlich wider, dass die gute wirtschaftliche Lage großzügigere Arbeitgeberzahlungen für den Versicherungsschutz ihrer Angestellten ermöglichten - und damit umfassende Leistungen im Krankheitsfall. Sie dürften somit in Anbetracht der wirtschaftlichen Entwicklung einen Spitzenwert bezüglich des Versicherungsschutzes darstellen.
Amerikanische Haushalte geben heute rund 1 Prozent ihres Geldes für Arzneimittel aus - zuzüglich zu ihren Ausgaben für die Krankenversicherung. Der entsprechende Anteil - sowie die absolute Höhe der Ausgaben - steigt mit dem Alter des Haushaltsvorstandes von 0,4 Prozent (97 Dollar, 110 Euro) bis zum Alter von 25 Jahren auf 2,7 Prozent (706 Dollar) für die Gruppe ab 65 Jahren.
Insgesamt tragen die Versicherten in den USA einen weitaus größeren Anteil an den Arzneimittelausgaben als es in Deutschland üblich ist. Die genannten Werte beziehen sich nur auf verschreibungspflichtige Arzneien. Nicht-verschreibungspflichtig Arzneien sind im Regelfall vollständig vom Versicherten zu zahlen.
Dieser hohe Teil nicht-versicherter Arzneimittelausgaben ist nicht allein eine Folge unzureichenden Versicherungsschutzes, sondern auch einer teilweise sehr restriktiven "Policy" einzelner Versicherungspläne. Hierbei werden die Zuzahlungen der Patienten sehr stark gestaffelt. Verschreibt der Arzt ein (präferiertes) Generikum, so ist die Zuzahlung vergleichsweise gering. (Sie kann teilweise immer noch mehr als 10 Dollar betragen.) Bei Verschreibung eines vom Versicherer präferierten Markenpräparates steigt die Zuzahlung bis auf 20 Dollar, für die übrigen Markenpräparate muss bis zu 30 Dollar zugezahlt werden. Dies liegt weit über den in Deutschland vorgegebenen Zuzahlungen von 4, 4,50 und 5 Euro. Außerdem sind in den USA sehr wenige Menschen von der Zuzahlung befreit, während in Deutschland inzwischen fast jedes zweite Rezept vollständig von der Kasse bezahlt wird. Chronische Krankheit stellt dann sehr schnell eine extreme finanzielle Belastung der Versicherten dar, und führt in die Abhängigkeit von staatlichen Unterstützungsprogrammen wie Medicaid.
Besonders schwierig ist die Situation für Senioren. Medicare als Programm für die Rentner und körperlich Behinderten schließt Leistungen für Arzneimittel weitestgehend aus. 27 Prozent der Bezieher von Medicare-Leistungen besitzen keine weitere Versicherung, die Arzneimittelausgaben deckt. Da kann es nicht verwundern, wenn 12 Prozent der Bezieher von Medicare für Arzneimittelausgaben auf Hilfe von Medicaid angewiesen sind. Die Anforderungen von Medicaid an die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Versicherten sind so streng, dass die Hälfte der Bevölkerung, die nach Vorgaben des Gesetzgebers als arm eingestuft wird, für Leistungen von Medicaid noch zu reich ist.
Die Bezieher von Medicare geben zwischen 3,4 Prozent (in der Altersgruppe 65 bis 74 Jahre) bis zu 7,7 Prozent (in der Altersgruppe über 85 Jahre) ihres Einkommens für verschreibungspflichtige Arzneimittel aus. Damit geben die Hochbetagten in den USA mehr für Arzneimittel aus, als die Versicherten in Deutschland für die gesamten Beiträge zur Gesetzlichen Krankenversicherung zuzüglich Zuzahlungen für Arzneimittel hier in Deutschland aufbringen müssen.
Als Reaktion auf die finanziellen Probleme bei der Arzneimittelversorgung der älteren und chronisch kranken Bevölkerung haben knapp 30 der 50 amerikanischen Bundesstaaten weitere Hilfsprogramme zusätzlich zu den nationalen Hilfsprogrammen aufgelegt: Diese reichen von direkten Beihilfen zu Arzneimittelausgaben über die steuerliche Absetzbarkeit von (Teilen der) Aufwendungen für Arzneimittel zu Beihilfen für die Beiträge zu zusätzlichen Krankenversicherungen. Rechtlich besonders umstrittene Instrumentarien sind die staatlich unterstützte Bündelung der Nachfrage der Unversicherten in Rabattprogrammen sowie die Festsetzung von Höchstpreisen, wenn staatliche Arzneimittel-Beihilfe in Anspruch genommen wird.
Krankheit stellt in den USA in Anbetracht der gerade dargestellten Zahlen ein erhebliches Armutsrisiko dar. Im Gegensatz zur deutschen Absicherung im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung werden ärmere chronisch Kranke und Rentner(innen) in den USA häufig binnen kürzester Zeit zu Empfängern staatlicher Almosen.
Ausgabenentwicklung
Die Diskussion über vermeintlichen Reformbedarf des deutschen Gesundheitssystems und insbesondere der Arzneimittelversorgung wird regelmäßig mit dem erklärten Ziel einer Verringerung der Ausgaben, zumindest aber des Ausgabenzuwachses geführt. Die entsprechenden Zahlen für die USA zeigen, dass dies durch ein liberaleres System kaum erreicht werden dürfte: Es ist keinesfalls zu erkennen, dass die USA mit ihrer marktlichen Gestaltung die Gesundheitskosten in den letzten Jahren besser im Griff haben als Deutschland.
Die Wachstumsrate der nationalen Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben der USA liegt, nach "nur" 4 bis 5 Prozent Mitte der 90er-Jahre, inzwischen bei über 7 Prozent, und die Prognosen der amerikanischen Centers for Medicare & Medicaid Services (früher: HCFA - Health Care Financing Administration) erwarten für die absehbare Zukunft Wachstumsraten von etwa 6 Prozent.
Jahr WR der nGHAWR der nGHA
WR = Wachstumsrate, nGHA = nationale Gesundheitsausgaben, BSP = Bruttosozialprodukt
Die Steigerungsraten in Abbildung 2 [nur in der Druckausgabe] lassen an der von Meinungsmachern in Deutschland aufgestellten Behauptung, durch eine Liberalisierung des Arzneimittelvertriebs könnten die Kosten erheblich reduziert werden, Zweifel aufkommen. Der mit weitem Abstand niedrigste Wert liegt mit 8,4 Prozent geringfügig unter der Zuwachsrate der Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland für das Jahr 2001. Eine Zuwachsrate, die für amerikanische Verhältnisse ausgesprochen niedrig ist, führt in Deutschland zu Forderungen nach drastischen Reformen. Es erstaunt bei einem Blick auf die Zahlen, dass dabei die "Fluchtrichtung USA" eingeschlagen wird - die dortigen Wachstumsraten der Arzneimittelausgaben lassen nur geringe Hoffnung aufkommen, dass man dort wirkungsvolle Kostenkontrolle lernen kann. Vielmehr sprechen die US-Erfahrungen dafür, dass die Gesetzlichen Krankenversicherer vom Regen in die Traufe gelangen.
Komponenten der Ausgabensteigerung
Für Deutschland ist allgemein anerkannt, dass die Zunahme der Arzneimittelausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung von der Strukturkomponente bestimmt wird. So lässt sich der Zuwachs von 1999 bis 2000 in Höhe von 2,8 Prozent erklären mit einem Rückgang der Zahl der verordneten Packungen um 4,3 Prozent bei gleichzeitiger Zunahme des Wertes pro Verordnung um 7,4 Prozent. Diese letztgenannten 7,4 Prozent sind in eine Preissteigerung von 0,7 Prozent und eine Strukturkomponente von 6,7 Prozent zu unterteilen. Diese Strukturkomponente spiegelt den Wechsel von alten Arzneimitteln hin zu innovativen Präparaten wider. Wenn ein Systemwechsel die Wachstumsrate der Arzneimittelausgaben gegenüber dem deutschen Wert bremsen will, so muss er auf die Strukturkomponente einwirken.
Die amerikanische Versicherer Express Scripts veröffentlicht für die von ihm abgerechneten Rezepte eine grob vergleichbare Rechnung. Von 1999 bis 2000 steigen hier die durchschnittlichen (vom Versicherer zu tragenden) Arzneimittelausgaben pro Versichertem um 16,2 Prozent auf 449,74 Dollar. 5,4 Prozent hiervon gehen auf das Konto der Preissteigerung, 4,2 Prozent bedingt der Trend zu teureren Arzneien im Verschreibungsverhalten der Ärzte, und 0,3 Prozent werden verursacht durch die Verschreibung erst im Jahre 2000 in den USA neu zugelassener Arzneimittel. Für den Zeitraum von 1996 bis 2000 erklärt der Wechsel zu in dieser Zeit neu zugelassenen Arzneimitteln einen Ausgabeanstieg um 31 Prozent - hinzu kommt noch der Wechsel zu bereits vorher zugelassenen teureren Arzneimitteln mit einer kumulierten Steigerungsrate von 9,9 Prozent.
Der Vergleich der deutschen und amerikanischen Werte legt jedenfalls den Schluss nahe, dass das amerikanische System ungeeignet ist, die Strukturkomponente zurück zu drängen. Zusätzlich sind die Arzneimittelpreise in den USA von 1996 bis 2000 um insgesamt 20,3 Prozent gestiegen, während in Deutschland das Preisniveau faktisch konstant blieb. Außerdem nahmen in den USA die Zahl der verschriebenen Packungen pro Versichertem und die Defined Daily Doses (DDD) pro Packung in den letzten Jahren deutlich zu. In Deutschland ist hingegen die Zahl der DDDs annähernd konstant geblieben und die Zahl der verschriebenen Packungen deutlich zurückgegangen.
Beim Einsatz von Generika liegt die USA mit 11 bis 12 Prozent der Arzneimittelausgaben und 35 Prozent der Verordnungen deutlich hinter der Bundesrepublik. Im deutschen GKV-Markt betragen die entsprechenden Werte 31,7 bzw. 49 Prozent.
Auch mit großer Mühe lässt sich mit diesen Zahlen nicht belegen, dass eine Übertragung der amerikanischen Arzneimittelversorgung nach Deutschland berechtigte Hoffnungen auf Kosteneinsparungen bietet. Bestenfalls ließe sich argumentieren, dass die Mehrausgaben der Amerikaner für innovative Arzneien zu einer verbesserten Versorgung der Bevölkerung führten und dementsprechend unproblematisch seien. Entsprechendes ließe sich über die deutsche Strukturkomponente allerdings ebenfalls sagen. Bei der Diskussion in Deutschland wird jedoch vielen der neu zugelassenen Arzneimittel ein nicht ausreichendes Preis-Leistungs-Verhältnis nachgesagt und ihre ärztliche Verschreibung kritisiert. Warum sollten dieselben Arzneien in den USA anders als in Deutschland einzuschätzen sein?
Transparenz
Beim vorangegangenen Vergleich wurde für amerikanische Vergleichswerte auf die entsprechenden Untersuchungen eines einzelnen, wenn auch großen und renommierten, Versicherers Bezug genommen. Dies soll zum Anlass genommen werden, kurz auf Datenprobleme und fehlende Transparenz des amerikanischen Arzneimittelmarktes einzugehen.
Die einzelnen amerikanischen Versicherer sind gewinnorientierte Unternehmen. Sie handeln mit ihren Lieferanten Konditionen, insbesondere die Preise, frei aus. Es besteht kein Kontrahierungszwang, so dass die Versicherten eines jeweiligen Unternehmens nicht frei über die sie beliefernde Apotheke entscheiden dürfen, sondern eine Vertragsapotheke ihres jeweiligen Versicherers wählen müssen.
Ein altbekannter Spruch sagt, dass bei Unternehmen der Gewinn im Einkauf gemacht wird. Da kann es dann nicht überraschen, wenn in den USA die zwischen Versicherern und Apotheken ausgehandelten Lieferkonditionen nicht veröffentlicht werden. Da keine staatliche Regulierung der Zuschläge für den pharmazeutischen Großhandel und die Apotheken existiert, unterscheiden sich die Verkaufspreise von Apotheke zu Apotheke - und auch die zwischen der jeweiligen Apotheke und unterschiedlichen Versicherern ausgehandelten Lieferpreise.
Um eine Vorstellung über mögliche Preise von Arzneimitteln in den USA zu erhalten, wird bei Untersuchungen zu verschiedenen Hilfsansätzen gegriffen: Zum einen veröffentlichen einzelne Versicherer ihre durchschnittlichen Einkaufspreise für die jeweiligen Arzneimittel, wobei zur Sicherung von Betriebsgeheimnissen unterschiedliche Packungsgrößen, Wirkstärken et cetera zusammengefasst werden. Noch häufiger wird auf die Einkaufskonditionen der amerikanischen Kriegsveteranen-Versorgung, Department of Veterans Affairs - Strategic Healthcare Group, zurückgegriffen, die diese regelmäßig veröffentlicht. Innerhalb der Wissenschaft herrscht aber Uneinigkeit darüber, ob diese Preise genutzt werden können, um die Bezugspreise einzelner privatwirtschaftlicher Versicherer abzuschätzen.
Der Übergang zu einem vermeintlich liberalen und preiswerteren Distributionssystem in Deutschland müsste unweigerlich die Einheitlichkeit der Arzneimittelverkaufspreise in Deutschland zerstören. Andererseits geht eine marktwirtschaftliche Ausgestaltung mit einer Beendigung der gemeinsamen Preisfestsetzung für die Gesetzliche Krankenversicherung einher. Die Vertreter der reinen Marktlehre wollen auch genau das: ein Geflecht von Einzelverträgen zwischen Versicherern und Apotheken. Aus Wettbewerbsgründen würden die Krankenversicherer diese die von ihnen individuell ausgehandelten Preise ebenfalls nicht veröffentlichen. Zur Preisfreiheit gehört in der Marktwirtschaft die Diskretion über bilaterale Vertragsinhalte untrennbar hinzu.
Verloren ginge dann die Markttransparenz, die in anderen Teilbereichen des deutschen Gesundheitswesens nicht ansatzweise erzielt wird. In den letzten Jahren hat die deutsche Politik diese Transparenz dazu genutzt, ihre Sparbemühungen im Gesundheitswesen auf die Arzneimitteltherapie zu konzentrieren. Aus der Ökonomie ist übrigens bekannt, dass die größten Gegner von Markttransparenz die Anbieter sind, während die Vorteile auf Seiten der Nachfrager konzentriert sind. Diese altbekannte Feststellung sollte zusammen mit den Hinweisen auf die Datenlage in den USA nachdenklich stimmen. Es ist zweifelhaft, ob amerikanische Verhältnisse wirklich im Interesse einer die Arzneimittelausgaben steuernden Politik liegen können.
Zwangsrabatte der Apotheken und Hersteller
Wie schon erwähnt, unterscheiden sich in den USA die Einkaufskonditionen der einzelnen Apotheken und Versicherer. In Deutschland werden von interessierten Kreisen Funktionsrabatte des pharmazeutischen Großhändlers an die Apotheken als Begründung für die Forderung nach einem höheren Zwangsrabatt der einzelnen Apotheken auf die Abgabepreise von Arzneimitteln, die zu Lasten der GKV verordnet werden, herangezogen. Die Befürworter von Preisverhandlungen hoffen, dass die Krankenversicherer in einem Wettbewerbssystem von Einzellieferverträgen durch Aushandeln höherer Rabatte weitere Einsparungen erzielen.
Ein erster Blick in die USA könnte die Hoffnung auch unterstützen: Die Bundesstaaten erstatten den Apotheken bei der Versorgung im Rahmen von Medicare für Markenpräparate nur einen Einkaufspreis, der je nach Staat schwankend um 5 bis 13 Prozent unter dem durchschnittlichen Großhandelsverkaufspreis (Average Wholesale Price) liegt. Dieser Preis ist allerdings - trotz seines Namens - kein faktischer Durchschnittspreis, sondern stellt eine Empfehlung des Herstellers an die pharmazeutischen Großhändler dar.
Man könnte also meinen, dass die Bundesstaaten mit ihrer Einkaufsmacht im Rücken mögliche Rabatte der Apotheken beim Einkauf weitgehend abschöpfen. Der "Inspector General" des Gesundheitsministeriums, in seinen Aufgaben vergleichbar mit einem Vertreter des Bundesrechnungshofes in Deutschland, kommt im August 2001 jedoch zu einem ganz anderen Ergebnis : Der durchschnittliche Rabatt an Medicare liege mit 10,31 Prozent deutlich unter dem durchschnittlichen Einkaufsrabatt der Apotheken bei Markenarzneimitteln von 21,84 Prozent.
Die Unübersichtlichkeit des amerikanischen Arzneimittelmarktes führt dazu, dass selbst sehr starke Nachfrager nicht dazu in der Lage sind, sich hohe Rabatte zu sichern. Völlig unklar sind die Konditionen, die vergleichsweise unbedeutende Nachfrager wie selbst zahlende Kunden und kleine Versicherer erzielen können. Es fällt aber schwer zu glauben, dass die Unübersichtlichkeit gerade den Schwachen zu Gute kommt.
Zusätzlich zu den (geschätzten) Einkaufskonditionen erhält die Apotheke bei der Medicare-Versorgung in den meisten Bundesstaaten ein Abgabeentgelt pro Packung. Dieses Entgelt schwankt je nach Bundesstaat und Produkt zwischen rund 2,50 Dollar und 15,70 Dollar. Der Schwerpunkt liegt zwischen 3,50 und 5 Dollar. Im Durchschnitt liegt also das reine Abgabeentgelt ungefähr im Bereich des durchschnittlichen Apothekenentgeltes für die Arzneimittelabgabe zu Lasten der GKV hier in Deutschland - in einigen Bundesstaaten aber deutlich darüber!
Weil die Bundesstaaten nach offizieller Einschätzung zuviel für die Arzneien im Rahmen der Medicare-Versorgung zahlen, sind die Hersteller verpflichtet, ihnen nach einer staatlich festgelegten Formel einen Nachlass auf den Herstellerabgabepreis des Arzneimittels zu gewähren. Zur Berechung dieses Nachlasses müssen die Hersteller vertrauliche Daten über ihre Verkaufspreise liefern. Ein Umstand, gegen den sich zunehmend Unmut der Hersteller regt.
Die fehlende Einheitlichkeit des Apothekenverkaufspreises hat aber nicht nur für die Versicherer in Teilen problematische Konsequenzen: Besonders betroffen sind die Verbraucher, die ihre Arzneien - zumindest bis zu einem Höchstbetrag - selbst bezahlen müssen. Der amerikanische Ökonom Alan T. Sorensen errechnete für einige ausgesuchte Bezirke der USA, dass der Preis eines Arzneimittels in der teuersten Apotheke im Durchschnitt über 50 Prozent über dem in der billigsten Apotheke lag. Dieser Preisunterschied konnte von ihm nicht mit unterschiedlichen Lagen der Apotheken oder deren unterschiedlicher Ausstattung erklärt werden. In der Untersuchung zeigte sich auch, dass es keine jeweils günstigste Apotheke gab, sondern die Reihenfolge der Apotheken mit unterschiedlichen Arzneimitteln variierte. Wer als Kranker nicht zuviel für seine Arzneien zahlen will, muss sich auf die Suche nach einer preiswerten Apotheke begeben.
Ein Marktversagen im technischen Sinne liegt nicht vor. Die Wirkung von Marktmechanismen zeigt sich darin, dass die Preisunterschiede bei Akut-Arzneimitteln größer als bei Arzneimitteln zur Behandlung chronischer Erkrankungen waren. Die Notlage akut Erkrankter, sowie der einmalige Kaufakt, machen ihnen einen Preisvergleich schwer bis unmöglich. In einer anderen Untersuchung errechnet Sorensen für die Suche nach einer für das jeweilige Arzneimittel billigsten Apotheke durchschnittliche Kosten von etwa 15 Dollar. Deshalb ist es verständlich, dass ein solcher Preisvergleich am ehesten bei Arzneien zur Dauermedikation durchgeführt wird. Patienten, die ein Arzneimittel nicht selbst zahlen müssen, suchen deutlich seltener als Selbstzahler. Das Ausnutzen einer wenig preisreagiblen Nachfrage gerade bei akuten Erkrankungen ist ökonomisch in einem freien Spiel der Kräfte völlig rational, und nicht überraschend. Ob ein solcher Wettbewerb zu Lasten der gesellschaftlich Schwachen wünschenswert ist, ist zweifelhaft.
Ein weiteres Ergebnis der erstgenannten Untersuchung Sorensens verdient auch noch Beachtung: In der Untersuchung waren Kettenapotheken im Durchschnitt die teuersten Anbieter.
Vielleicht ist das deutsche System, bei dem alle Versicherer gleiche Konditionen erhalten, alle Patienten dieselben Preise zahlen müssen und in dem Preise nicht erst künstlich angehoben werden müssen, um dann exorbitant erscheinende Rabatte gewähren zu können, doch nicht so schlecht? Auf jeden Fall zeigt die Rabatthöhe zuzüglich dem Abgabeentgelt, dass die Distributionskosten in den USA, insbesondere wenn man keinen hohen Rabatt erhält, keinesfalls günstig sind. Es gilt immer noch, dass im freien Spiel der Marktkräfte die Schwachen die Verlierer sind, deren gesundheitliche Notlage von Anbietern ausgenutzt werden kann, und selbst die Starken im Nebel stochern.
Krankenhausapotheken
Zu den Reformvorschlägen in Deutschland gehört regelmäßig eine Öffnung der Krankenhausapotheken für die ambulante Versorgung. Damit sollen die von Herstellern den Krankenhäusern gewährten Sonderkonditionen auf die ambulante Versorgung übertragen werden. Die Logik legt schon nahe, dass die Hersteller daran kein Interesse haben können - sie nutzen günstigere Konditionen für Krankenhäuser gerade dazu, die spätere Verschreibung der in öffentlichen Apotheken vergleichsweise teuren Präparaten zu sichern.
Und was geschieht in den USA? Nach Angaben des amerikanischen Gesundheitsministeriums liegt der Einkaufspreis von Krankenhäusern im Durchschnitt etwa 9 Prozent unter dem von Apotheken. Diese Angleichung der Preise - auf dem hohen amerikanischen Preisniveau - deutet darauf hin, dass ein Preistransfer auch in einem Wettbewerbssystem nicht möglich ist. Die Politik sollte entsprechenden Hoffnungen fahren lassen.
Versandhandel mit Arzneien
Deutsche Krankenversicherer setzen auf den Versandhandel mit Arzneien. Ohne Frage verstößt das Werben einzelner Krankenversicherer für den postalischen Bezug von Arzneimitteln eindeutig gegen das deutsche Sozialrecht. Ebenso unbestritten sind die mit dem Versandhandel verbundenen Arzneimittelrisiken. Die Situation in den USA zeigt aber, dass die Nachteile des Versandhandels noch viel weiter gehen.
Zuerst ist festzuhalten, dass der Versandhandel mit Arzneien in den USA erlaubt ist. Der wertmäßige Anteil am amerikanischen Arzneimittelmarkt liegt bei 11 bis 12 Prozent. Dieser Anteil ist aber nicht etwa, wie in Deutschland häufig dargestellt, primär eine Folge der Internet-Nutzung der Bevölkerung. Vielmehr liegt der Anteil der über Internet erfolgenden Bestellungen nur bei 1 bis 2 Prozentpunkten! Der Versandhandel mit Arzneien hat in den USA Tradition. Er ist aber nicht das Resultat einer besonderen Service-Kultur, bei der bequemen Kunden ihre Remedien vom freundlichen Postboten ins Haus gebracht werden.
Vielmehr erschwert die Besiedlungsstruktur der USA die Versorgung abgelegener Ortschaften durch öffentliche Apotheken. Ein vergleichbares Argument lässt sich auf das dicht besiedelte Deutschland nicht übertragen. Außerdem sind in den USA für die meisten Versicherer nicht alle Apotheken im Umfeld des Patienten lieferberechtigt. Die Versicherungen zwingen in vielen Fällen ihre Versicherten durch sonst fällige exorbitante Zuzahlungen faktisch, nicht akut benötigte Arzneimittel bei einer Versandapotheke zu besorgen - mit ‚Freiheit' und ‚Bequemlichkeit' hat das wenig zu tun.
Was es in den USA nicht gibt - und in absehbarer Zeit auch nicht geben wird - ist der Versandhandel mit Arzneimitteln aus dem Ausland in die USA. Das amerikanische Gesundheitsministerium verbietet dies nachdrücklich, da es die Arzneimittelsicherheit hierbei nicht für gewährleistet hält und außerdem eine Aushöhlung des strengen amerikanischen Patentschutzes zu Lasten der Hersteller fürchtet. In Deutschland hingegen werden von interessierten Kreisen die größten Hoffnungen in ausländische Apotheken gesetzt, die versuchen, die dort durch staatliche Eingriffe im Einzelfall niedriger als in Deutschland gehaltenen Arzneimittelpreise nach Deutschland zu importieren. Von Risiken wird dabei kaum geredet. Auf Grund europarechtlicher Bestimmungen ist es Deutschland auch nicht möglich, einen nationalen Versandhandel zu organisieren und gleichzeitig Anbieter aus dem EU-Ausland von einer Belieferung auszuschließen.
Während in Deutschland die vermeintliche Sicherheit des Arzneimittelversands durch "high-quality"-Versandapotheken von Politikern und Krankenkassen immer wieder betont wird, ist in den USA in letzter Zeit die Sorge um besondere Risiken des Versandhandels gewachsen: Als Folge der Anthrax-Anschläge im Herbst vergangenen Jahres werden in den USA Pakete und Briefe in einigen Regionen und Postverteilzentren bestrahlt, um eventuell enthaltene Lebendorganismen abzutöten. Die Versandapotheken fürchten nun, dass auch ihre Pakete irrtümlich bestrahlt werden könnten. Für den sensiblen Inhalt hätte dies gravierende Folgen; ebenso für die Patienten: Da bestrahlte Post nicht gekennzeichnet wird, haben sie keine Chance zu erkennen, ob die Wirksamkeit der ihnen zugesandten Präparate möglicherweise durch Bestrahlung gefährdet worden ist.
Erfolgreiches Marketing
Von einem streng marktlich ausgestalteten Arzneimittelvertrieb versprechen sich seine Befürworter in der Politik Kostensenkungen durch eine vermeintliche Effizienzsteigerung. Zu einem Preiswettbewerb gehört jedoch auch die Kommunikation der Preise gegenüber dem Endverbraucher, der für das Preis-Leistungs-Verhältnis einzelner Arzneimittel und Lieferanten sensibilisiert werden soll. Betrachtet man die Entwicklung in den USA in den letzten Jahren, so zeigt sich eine deutliche Dynamik in der Publikumswerbung. Wenn man aber Publikumswerbung zulässt, so kann man faktisch nicht verhindern, dass diese nicht nur Preise von Arzneimitteln kommuniziert, sondern auch deren Produktnutzen, die möglichen Heilwirkungen.
Seit Mitte der 90er-Jahre sind die Werbeausgaben der Pharma-Hersteller in den USA zum Teil drastisch gestiegen, wobei die Werbung in Fachjournalen von 1996 bis 2000 wertmäßig im Jahresdurchschnitt nur um 1,4 Prozent zugenommen hat. Der Wert der an Ärzte abgegebenen Muster ist deutlicher, nämlich im Durchschnitt um 12,8 Prozent jährlich, angestiegen - vermutlich auch als Folge der Einführung teurer innovativer Arzneimittel. Am stärksten gestiegen sind jedoch mit durchschnittlich 32,9 Prozent pro Jahr die Ausgaben für Konsumentenwerbung. Die gesamten Werbeausgaben der pharmazeutischen Industrie sind im betrachteten Zeitraum zusammen um über 70 Prozent gestiegen.
Innerhalb der Endverbraucher-Werbung ergab sich seit Mitte der 90er-Jahre eine deutliche Verschiebung der Schwerpunkte: 1994 wurden noch fast 85 Prozent der Ausgaben für Werbung in Printmedien getätigt. Nur rund 13 Prozent wurden für Fernsehwerbung sowie 2 Prozent für Radiowerbung ausgegeben. Im Jahr 2000 flossen fast 64 Prozent aller Mittel in die Fernsehreklame. Der Anteil der Printmedien sank auf 34 Prozent.
Die Wirkung war erheblich. Von 1999 bis 2000 stieg die Zahl der Verschreibungen der 50 Arzneien mit den höchsten Ausgaben für Endverbraucherwerbung um 24,6 Prozent, die anderen Arzneimittel legten hingegen nur um 4,3 Prozent zu. Der Umsatz stieg bei den stark beworbenen Arzneimitteln sogar um 31,9 Prozent gegenüber 13,6. Die 50 Arzneien waren für 47,8 Prozent der Ausgabensteigerung für verschreibungspflichtige Arzneimittel verantwortlich.
Fazit
Wer sich von strenger Marktorientierung im Arzneivertrieb eine Kostenentlastung für die Gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland erhofft, sollte sich die Mühe machen, etwas genauer die Situation in den USA zu betrachten: Die Pro-Kopf-Ausgaben für Arzneimittel sind höher und steigen schneller als in Deutschland, der Übergang zu neuen und hochpreisigen Arzneimitteln erfolgt schneller als in Deutschland. Trotz deutlicher Versuche der amerikanischen Versicherer, ihre Kunden zu lenken, gibt es einen Nachfragedruck: Patienten fordern von ihren Ärzten gerade die intensiv beworbenen Arzneien. Die Arzneimittelpreise sind nicht besonders niedrig, die Intransparenz erschwert staatliches Eingreifen.
Der Übergang zu einer am amerikanischen System orientierten Ausgestaltung würde für viele Dienstleister im heutigen deutschen System, insbesondere auch für die Apotheken, gewaltige Veränderungen mit sich bringen. Einzelne Apotheken und Apotheker gehörten hierbei sicherlich zu den Gewinnern - andere ebenso sicher zu den Verlierern. Doch das Ziel einer Reform kann nicht die Zerschlagung eines bewährten Systems als Selbstzweck sein, sondern nur die dadurch erhofften Kostensenkungen (und Verbesserungen in der Versorgung). Und gerade an dieser Stelle kann mit Blick auf das vermeintliche Vorbild USA - unter Nutzung des Lieblingsvokabulars der Befürworter drastischer Reformen - festgehalten werden: Die Hoffnung auf amerikanische Remedien für die Probleme des deutschen Gesundheitswesens ist nicht evidenzbasiert.
Literatur und Anmerkungen
Der Autor
Eckart Bauer studierte an der Universität Kiel Volkswirtschaftslehre mit den Schwerpunkten Außenwirtschaft, Statistik und Ökonometrie. Nach dem Diplom war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Finanzwissenschaft an der Universität der Bundeswehr Hamburg tätig. Dort wurde er mit einer Arbeit über umlagefinanzierte Rentenversicherungen promoviert. Seit April 2000 ist er im Geschäftsbereich Wirtschaft und Soziales der ABDA beschäftigt.
Anschrift des Verfassers:
Dr. Eckart Bauer
ABDA - Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände
Geschäftsbereich Wirtschaft und Soziales - Referat Märkte
Carl-Mannich-Str. 26
65760 Eschborn
E-Mail: e.bauer@abda.aponet.de
© 2002 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de