Die Medizin der Zukunft |
12.02.2001 00:00 Uhr |
Der 14. September 1990 gilt weltweit als Geburtstag der Gentherapie am Menschen. An diesem Tag behandelten Ärzte in den USA ein kleines Mädchen, das an einer seltenen angeborenen Immunschwäche litt. Bislang wurden etwa 4000 Patienten weltweit gentherapeutisch behandelt. Die Erwartungen an die Gentherapie sind hoch: Sie soll die Medizin revolutionieren, da sie bislang ungeahnte Möglichkeiten der Heilung bietet. Gleichzeitig weckt sie konkrete Ängste, da mit dieser Methodik in menschliches Erbgut eingegriffen werden kann.
Unter Gentherapie versteht man das Einbringen einer neuen genetischen Information in Körperzellen eines Patienten, um einen Gendefekt auszugleichen. Bislang hat man sich vor allem auf monogene Defekte konzentriert, die durch eine Mutation in nur einem Gen verursacht werden. Die Gentherapie versucht, diese Krankheiten durch Korrekturen am Erbgut des Patienten ursächlich zu heilen (Tabelle 1).
Tabelle 1: Krankheiten durch monogene Defekte
Krankheit
Symptom
Häufigkeit
b-Thalassämie
abnorme Blutzellen
1 : 400
Sichelzellenanämie
abnormes Hämoglobin
1 : 625
Cystische Fibrose
Bildung zähen Schleims
1 : 2000
Bluterkrankheit
Gerinnungsstörung
1 : 10000
Hypercholesterolämie
Cholesterol zu hoch
1 : 1000
Diabetes
stark erhöhte Blutglucose
1 : 130
Erste Erfolge
Am 14. September 1990 versuchten amerikanische Ärzte zum ersten Mal bei einem vierjährigen Mädchen, eine auf einem Gendefekt beruhende Krankheit durch die Übertragung eines gesunden Gens zu kurieren (5). Es handelte sich um ADA, den Adenosin-Desaminase-Mangel, eine tödliche Erkrankung des Immunsystems. Der Patientin wurden weiße Blutkörperchen entnommen. Diese Zellen wurden gentechnisch manipuliert, indem ein Vektor DNA mit dem intakten Gen in die Zellen der Patientin schleust. Abschließend wurden die manipulierten Blutzellen der Patientin wieder injiziert. Gentherapien bei weiteren jungen ADA-Patienten verliefen bislang ermutigend. Die erste Patientin ist heute 15 Jahre alt und führt weitgehend ein normales Leben. Die Gentherapie muss ein- bis zweimal im Jahr wiederholt werden, da die weißen Blutzellen nur eine begrenzte Lebensdauer besitzen. Kritiker behaupten, dass nicht nur die Gentherapie, sondern die zusätzlich erfolgte konventionelle Behandlung das Überleben des Mädchens ermöglichte.
Auch die Leber ist ein Ziel für die Gentherapie. Außerhalb des Körpers werden operativ entnommene Leberzellen (Hepatozyten) mit einem zusätzlichen Gen bestückt und dem Patienten dann retransplantiert. Gentherapeuten haben das Verfahren unlängst bei Patienten mit einer familiären Hypercholesterolämie angewandt. Die Betroffenen leiden an einer extremen Arterienverengung (Arteriosklerose), was oft schon um das zwanzigste Lebensjahr herum zum ersten Herzinfarkt führt. Das Leiden beruht auf dem Mangel oder völligen Fehlen von LDL-(low density lipoprotein)-Rezeptoren. Wenige Tage nach der Operation werden die modifizierten Hepatozyten über einen Katheter in ein großes, zur Leber führendes Blutgefäß zurückinfundiert. Ergebnis: Die Zahl der LDL-Rezeptoren nahm in der Leber zu. Allerdings war die Wirkung gering. Die Blutfettwerte sanken nur um knapp 20 Prozent und lagen immer noch weit über denen Gesunder. Dennoch zeigt diese erste Gentherapie an der Leber, dass die Strategie im Prinzip funktioniert.
Gentherapie im Reagenzglas
Grundsätzlich unterscheidet man zwei Arten: die In-vitro- und In-vivo-Gentherapie (1).
Die In-vitro- oder auch Ex-vivo-Therapie wird genau genommen seit 1980 angewendet. Damals versuchte Professor Martin Cline an der Universität in Kalifornien eine Gentherapie an zwei Patienten, allerdings ohne Erlaubnis der Universitätskommission. Kurz nach der Durchführung wurde der vorher gestellte Antrag abgelehnt. Die Öffentlichkeit entrüstete sich, und schließlich verlor Cline seinen Posten. Was aus diesem ersten Experiment geworden ist, weiß man nicht (2).
Bis Ende 2000 wurden rund 4000 Patienten weltweit mit der In-vitro-Gentherapie behandelt. Dazu werden dem Patienten einige Zellen entnommen, diese außerhalb des Körpers behandelt, eventuell vermehrt und anschließend reimplantiert. Der eigentliche Defekt ist damit zwar meist nicht behoben, da das defekte Gen nicht in allen Zellen gegen eine intakte Kopie ausgetauscht wird; die Symptome können jedoch häufig gelindert oder unterdrückt werden.
Zusätzlich unterscheidet man zwischen einer autogenen, allogenen und xenogenen Behandlung. Autogen bedeutet, dass körpereigene Zellen gentechnisch manipuliert werden, während bei der allogenen Behandlung körperfremde Zellen, zum Beispiel von einem Spender, behandelt werden, bevor sie dem Patienten zugeführt werden. Bei der xenogenen Form werden Spenderzellen eines Individuums einer anderen Art, zum Beispiel von einem Tier, verwendet.
Wichtig ist, dass es sich bei der In-vitro-Gentherapie bislang immer um Gewebszellen (Haut-, Leber-, Blutzellen) und nicht um Keimbahnzellen (Ei- oder Samenzellen) handelte. Die eingebrachten Gene werden daher nicht vererbt. Von einer Keimbahntherapie spricht man, wenn die Genübertragung bereits in der befruchteten Eizelle erfolgt. Bislang verbietet das Embryonenschutzgesetz in Deutschland solche Experimente aus ethischen Gründen (siehe PZ 17/00, Seite 14). Bei einer Behandlung von Keimbahnzellen würden die eingebrachten Gene an die Nachkommen vererbt werden. Genau aus diesem Grund ist die Keimbahntherapie bislang verboten.
In-vivo-Behandlung von Mukoviszidose-Patienten
Bei der In-vivo-Therapie wird das Erbgut am lebenden Patienten verändert, das heißt, die Therapie findet direkt im Körper des Patienten statt (Grafik). Diese Methode wird hauptsächlich bei der Cystischen Fibrose (Mukoviszidose) erprobt (3). Bei dieser Erkrankung bildet sich durch die Mutation eines Membranproteins zäher Schleim, unter anderem in den Lungen. Dieser erschwert den Patienten das Atmen und erhöht die Gefahr von Atemwegsinfekten.
Experimente mit Tieren legen die Vermutung nahe, dass es genügen könnte, nur 6 Prozent der Lungen-Epithelzellen zu verändern, um die Symptome deutlich zu lindern. In heutigen Therapieansätzen wird den Patienten das gesunde Gen über ein Aerosol verabreicht und kann so optimal in die Lungen gelangen (4). Da jedoch nur zwei Prozent der Epithelzellen teilungsaktiv sind, ist eine dauerhafte Therapie auf Grund der zu geringen Effizienz der Übertragung noch nicht möglich.
Neue Strategien
In die Medizin dieses Jahrtausends setzen Ärzte und Patienten große Hoffnungen. Verspricht sie doch, durch Austausch oder Reparatur der verantwortlichen Gene Krankheiten zu heilen statt nur Symptome zu lindern (Tabelle 2). Doch die Beweise für die Wirksamkeit sind bislang dürftig. So kamen die amerikanischen Gesundheitsinstitute 1995 bei Überprüfung aller Ergebnisse zu dem Schluss, dass bei keinem gentherapeutischen Verfahren bisher eine klinische Wirksamkeit nachgewiesen werden konnte. Kritiker behaupten nämlich, dass nicht die Gentherapie alleine, sondern die zusätzlich erfolgte konventionelle Behandlung das Überleben der Patienten ermöglichte. Die in der Grundlagenforschung entwickelten Strategien sind jedoch andererseits in keinem Fall in klinischen Studien widerlegt worden.
Tabelle 2: Erkrankungen, die für eine Gentherapie geeignet erscheinen
Erbkrankheiten (20 Prozent)
Nicht-erbliche Krankheiten
Mukoviszidose
Gefäßerkrankungen (1 %)
Lungenemphysem
Alzheimer-Krankheit
Bluterkrankheit
Parkinson-Krankheit
Thalassämien
rheumatische Erkrankungen (1 %)
Familiäre Hypercholesterolämie
Infektionskrankheiten: AIDS (8 %)
Phenylketonurie
chronische Leberentzündungen (1 %)
Immundefizienz (SCID: severe combined immunodeficiency)
Krebserkrankungen (69 %)
Die Prozentzahlen beziehen sich auf den Anteil an den bisherigen Gentherapien (28).
Von den weltweit etwa rund 4000 Patienten, die bislang eine Gentherapie erhielten, wurden rund drei Viertel nicht wegen eines Erbleidens, sondern wegen einer bösartigen Geschwulst behandelt. Die Wissenschaftler erproben vor allem drei Wege, wie man Krebspatienten helfen könnte (6).
Weiterhin werden gentherapeutische Maßnahmen bei Morbus Alzheimer und bei Herzkrankheiten angestrebt. Eingeschleuste wachstumsfördernde Gene könnten ferner die Gefäßneubildung stimulieren (11) und damit die Genesung der Patienten nach einem Herzinfarkt deutlich beschleunigen oder einem drohenden Herzinfarkt vorbeugen.
Gentherapie gegen Krebs in Deutschland
An einer Studie der Universitätsfrauenklinik in Freiburg nehmen zur Zeit rund 200 Frauen mit der Erstdiagnose eines Ovarialkarzinoms im Stadium III (Befall der Ovarien und peritoneale Metastasen außerhalb des Beckens) teil. Etwa die Hälfte der Ovarialkarzinome werden in diesem Tumorstadium entdeckt, weitere 20 Prozent im Stadium IV mit Fernmetastasen.
An der Universitätshautklinik in Essen laufen Untersuchungen zu therapeutischen und prophylaktischen Vakzinationsstrategien beim malignen Melanom am Menschen. Erprobt wird noch die Technik des Gentransfers in die Epidermis nach intradermaler Injektion nackter DNA.
Wie gelangt das Gen in die Zielzelle?
Der alles entscheidende Vorgang ist, das gesunde Gen in die Zielzellen des Patienten einzubringen. Für diesen Gentransfer werden Vektoren oder Genfähren verwendet (Tabelle 3). Die DNA des entsprechenden Gens wird in einen DNA-Ring (Vektor) eingebaut, der zusätzliche regulierende Elemente aufweist, die zum Beispiel das Gen an- und abschalten können. Danach muss die Genfähre in vitro oder in vivo in die Zielzellen gelangen (12).
Tabelle 3: Vektoren im Vergleich (KB = Kilobasen)
Virus
Insert
Titer
Integration
Expression
Überlebensdauer
Retroviren
8 KB
107
Ja
variabel
gering
Adenoviren
8 KB
1011
Nein
transient
hoch
Liposomen
20 KB
-
Nein
transient
variabel
Ballistisch
20 KB
-
Nein
transient
Gewebe
Mikroinjektion
20 KB
-
Nein
transient
gering
Nicht-viraler Gentransfer
Ein wichtiger Faktor, der die Aufnahme der DNA in die isolierten Zellen der Patienten erschwert, ist die negative elektrische Ladung, die sie im wässrigen Milieu der Kulturschale aufweist. Da die äußere Zellmembran ebenfalls negativ geladen ist, wird die fremde DNA abgestoßen (13, 14). Man entwickelte deshalb Methoden, die DNA durch Zusatz von Chemikalien elektrisch zu neutralisieren. Bei anderen Verfahren wird die DNA mittels physischer Kraft direkt in die zu behandelnde Zelle gebracht. Diese Form des Gentransfers, die Transfektion, wird ausschließlich bei der In-vitro-Therapie angewendet. Einige Methoden, die inzwischen an menschlichen Zellen erprobt wurden und die vor allem keine Immunabwehr auf den Plan rufen, werden hier vorgestellt.
Der Nachteil all dieser Methoden ist, dass sie sehr ineffizient im Vergleich zum viralen Transfer sind. Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt: Die Integration und Expression des gewünschten Gens unterliegt dem Zufall, ist also nicht kontrollierbar. Die meisten Forscher erachten diese Transfektionsmethoden als zu ineffektiv.
Transfer mit Virushilfe
Bemühungen, Gene in menschliche Zellen in vivo einzuschleusen, stützen sich bislang auf modifizierte Viren (18). Diese sind, wenn sie "entschärft" wurden, also keine Krankheit mehr hervorrufen, besonders geeignet, da sie von Natur aus ihr Erbgut einschleusen. Das Virus dockt an die Zellwand an, löst diese mit Hilfe eines Enzyms an einer Stelle auf und injiziert seine DNA in den Zellkörper. Das virale Genom dient als Vektor für den zu transferierenden Genabschnitt. Nachdem die Zelle neue Virenpartikel gebildet hat, wird die Zellwand aufgelöst und die neuen Viren werden freigesetzt. Virale Vektoren werden zur Zeit sowohl bei der In-vitro- als auch bei der In-vivo-Gentherapie eingesetzt. Intensiv genutzt werden Adeno- und Retroviren.
Der medizinische Einsatz dieser Genfähren ist nicht unproblematisch. So bauen manche Viren ihr Genmaterial an beliebiger Stelle in die Chromosomen ein, was Schäden verursachen kann. Ferner bestehen Bedenken, dass sich die entschärften Viren im Körper unerwünscht verändern und wieder pathogen werden. Außerdem ist eine Immunreaktion gegen das Virus möglich, die dieses oder die von ihm infizierten Zellen zerstört, ehe die Therapie greifen konnte.
Als Genfähren im Einsatz: Adenoviren...
Humane Adenoviren kommen weit verbreitet vor. Bisher wurden 47 Serotypen isoliert und 93 verschiedene Arten festgestellt. Adenoviren lösen beim Menschen verschiedene Atemwegserkrankungen aus, unter anderem einen gewöhnlichen grippalen Infekt (19, 20). Als Genfähren bieten Adenoviren deutliche Vorteile:
Andererseits erzeugen Adenoviren eine relativ heftige Immunantwort, und einige Typen können lymphoides Gewebe latent infizieren und dort über längere Zeit persistieren. Zur Zeit versuchen Wissenschaftler, virale Gene, die eine Immunantwort auslösen, gentechnisch zu verändern oder auf andere Virustypen auszuweichen, gegen die der Patient noch keine Antikörper besitzt. Ein weiterer Nachteil ist, dass die transferierte DNA nur vorübergehend exprimiert wird. Die Expression der Gene lässt mit der Zeit nach, da bei Zellteilungen die eingeführte DNA - weil sie nicht fest in das Wirtsgenom integriert - nicht mitvermehrt, sondern auf die Tochterzellen verteilt wird.
...und Retroviren
Das Erbgut von Retroviren liegt in Form von RNA vor. Der bekannteste Vertreter ist HIV. Bei der Infektion einer Zelle durch ein Retrovirus wird die RNA mit Hilfe eines speziellen Enzyms, der Reversen Transkriptase, in virale DNA umgeschrieben. Diese DNA integriert, nachdem sie einen Ring gebildet hat, unter Mitwirkung eines weiteren Enzyms, der Integrase, in das Genom des Wirts (21, 22). Auch Retroviren haben diverse Vorteile:
Dem stehen einige Nachteile gegenüber:
Injektion nackter DNA als Alternative
Seit langem sind Forscher bestrebt, ein therapeutisches Gen ohne infektiöse Agenzien in die Zellen zu bringen. Etliche Probleme des Gentransfers mittels Viren ließen sich vielleicht durch künstlich verpackte oder sogar nackte DNA - das ist DNA, die nicht in einer Genfähre (Vektor) verpackt ist - umgehen (23). Diese nicht-viralen Systeme könnten sich auch für Impfungen eignen.
Inzwischen werden Liposomen beispielsweise bei der Behandlung der Cystischen Fibrose über ein Aerosol verabreicht. Allerdings sind einfache Liposomen nicht zellspezifisch. Um die Selektivität zu erhöhen, baut man Liganden für zellspezifische Rezeptoren in die Lipiddoppelschicht der Liposomen ein. Chemiker der Universität in St. Louis haben zudem künstliche Partikel aus Polymeren entwickelt, die als neue Träger in der Gentherapie eingesetzt werden können. Ihr Vorteil gegenüber den Liposomen: Mit 10 bis 100 nm gleichen sie der Winzigkeit eines Virus.
Erste klinische Tests gibt es auch zu einer verblüffenden Entdeckung. Die simple Injektion nackter DNA in einen Muskel veranlasste die Produktion eines Proteins. Dies ist besonders im Hinblick auf neue Impfstoffe vielversprechend. Wie die DNA trotz der elektrischen Abstoßung in die Zellen gelangt ist, ist bislang unbekannt. Möglicherweise spielen dabei geringfügige Verletzungen des Gewebes oder der erhöhte Druck an der Injektionsstelle eine Rolle. Allerdings sind Integration und Expression der übertragenen Gene wieder zufällig und nicht steuerbar. Zusätzlich erwies sich diese Methode als nicht effizient genug.
Mehrere Tote nach Gentherapie
Die neuen Therapien sind nicht risikolos: Im September 1999 starb ein 18-jähriger Amerikaner bei einer Gentherapie. Die wahrscheinliche Todesursache blieb ungeklärt, die Wissenschaftler vermuten eine Reaktion auf die Infusion mit abgeschwächten und mit Genen beladenen Adenoviren. Man vermutet, dass eine Immunreaktion für seinen Tod verantwortlich war (24).
Die meisten Anwendungen der Gentherapie haben den Status klinischer Versuche. Therapien mit veränderten Viren werden zum Beispiel meist bei Patienten angewandt, deren Leiden bislang unheilbar sind. Trotz strenger Überwachung sind in den USA 1998 und 1999 insgesamt sechs Tote zu beklagen, die bei Studien am Herzen verstarben. Das hauptsächliche Gefahrenpotenzial beziehungsweise die Todesursache wird den Adenoviren zugeschrieben. Nach der Bestätigung der sechs Todesfälle wurden ein weiterer Todesfall und zwei ernsthafte Komplikationen während einer Behandlung von der amerikanischen Gesundheitsbehörde bekannt gegeben. Dies verstärkte die vorhandene Skepsis gegenüber dieser neuen medizinischen Behandlungsform.
Das Verfahren muss verbessert werden
Bei einer Umfrage in Deutschland vor etwa zwei Jahren waren rund 70 Prozent der Bevölkerung für die somatische Gentherapie. Bislang besteht jedoch eine große Diskrepanz zwischen den hohen Erwartungen und den geringen Erfolgen, die diese bisher gebracht hat. Von den klinischen Studien erreichten in den USA bislang nur zwei die Phase III. Von einer Standardtherapie ist man noch weit entfernt.
Ihr Hauptaugenmerk richten die Forscher derzeit auf zuverlässigere und spezifischere Vektoren (Tabelle 4). In Versuchen werden den zu übertragenden Genen beispielsweise gewebespezifische Steuerelemente (Promotoren) eingebaut, so dass Gene nur in speziellen Geweben exprimiert werden. In Zukunft sollen auch Viren erzeugt werden, die nur Krebszellen infizieren. Auch die Stabilität der Genexpression muss verbessert werden. Ziel ist es, kleine synthetische Chromosomen (mammalian artificial chromosomes, MACs) zu schaffen, die von ihrer Wirtszelle genau wie natürliche Chromosomen mitvermehrt werden und auch auf Tochterzellen übergehen (25). Außerdem kann ein auf Dauerheilung ausgerichteter Prozess nur funktionieren, wenn die zu verändernden Zellen sich selbst regenerieren statt nach einiger Zeit abzusterben.
Tabelle 4: Ansprüche an ein ideales Gentransfer-System
Parameter
Gewünschte Eigenschaft
Insertgröße
ein oder mehr Gene (>20 KB)
Target
spezifisch für Zielzellen
Immunantwort
möglichst keine
Stabilität
hohe Stabilität, keine Mutagenese
Expression
reproduzierbar, leicht
Titer
hohe Konzentration stabiler Endprodukte
Regulierbarkeit
Gen an- oder ausschaltbar
Ein weiterer großer Fortschritt wäre das wirkliche Ersetzen defekter Gene durch die homologe Rekombination. Bei diesem natürlichen Vorgang tauschen sich gleiche (homologe) DNA-Abschnitte aus. Dadurch wäre die Gefahr der Mutagenese durch falsche Insertion gebannt. Bei mit herkömmlichen Methoden rekombinierten Zellen kann nur bei einer Zelle von einer Million mit einer homologen Integration gerechnet werden.
Situation in Deutschland
70 Prozent der Gentherapiestudien laufen in den USA. In Europa gibt es etwa 100 Studien. Eine genaue Angabe ist kaum möglich, da weder in Europa noch in Deutschland Therapiestudien zentral dokumentiert werden. Die klinischen Studien werden zum größten Teil durch akademische Einrichtungen und Kliniken initiiert und auch betreut; die restlichen durch pharmazeutische Unternehmen. In Deutschland hatte nur ein Teil der Kliniken, die sich grundsätzlich mit klinischer Gentherapie befassen, bis 1998 überhaupt mit der Aufnahme von Krebskranken in ihre Studien begonnen.
Seit dem Jahr 2000 sind die Deutschen im europäischen Vergleich absolute Spitze, zumindest was die Zahl der klinischen Prüfungen angeht. Die beiden zuständigen Bundesoberbehörden, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und das Paul-Ehrlich-Institut, registrierten eine Zunahme an Anträgen. Das könnte daran liegen, dass man in Deutschland gut und zügig in klinische Prüfungen hineinkommt. Es gibt hier - im Vergleich zu europäischen Nachbarn - keine Zulassungspflicht für klinische Prüfungen.
Unterstützung durch die Nanotechnologie
Diese neue Technik wird in Wissenschaft und Politik als die Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts gehandelt. Nanometer bezeichnet einen Größenbereich, der 103-mal kleiner ist als die heute gängigen Mikrotechniken, Mikrostrukturen und Mikromaterialien. Der Übergang von "Mikro" zu "Nano" (griechisch: Zwerg) bedeutet aber weit mehr als nur eine weitere Miniaturisierung. Es treten vielmehr völlig neue Effekte auf. Irgendwann werden Nanocomputer und Nanomanipulatoren in Zellen eingeschleust werden können, ohne deren Funktion zu beeinträchtigen. Erkenntnisse aus der Nanotechnologie können ein Planen und Gestalten auf atomarer und molekularer Ebene ermöglichen.
Der Begriff der Nanotechnologie, der synonym zum Begriff Molekulartechnologie verwendet wird, wurde von K. Eric Drexler geprägt, der aufbauend auf den Arbeiten des Physikers Feynmann die Möglichkeit der Erzeugung molekularer Maschinen beschrieb. Feynmann hatte vorausgesagt, dass es möglich sein werde, einzelne Atome trotz der Unschärferelation von Heisenberg zu beeinflussen und zu bewegen. Während Zellen normalerweise in Mikrometern angegeben werden, sind DNA-Strukturen nur in Nanometern zu messen. Es gibt bereits Billionen von Nanomaschinen, die ihre Leistungsfähigkeit täglich unter Beweis stellen: Viren und Bakterien.
Diese Technologie könnte einen Fortschritt für die Biomedizin und die Gentherapie bedeuten (26). Mit einem Rastersondenmikroskop konnten Wissenschaftler bereits einzelne Basen der DNA sichtbar machen. Damit wäre es möglich, gezielt einzelne "kranke" Basenpaare gegen "gesunde" auszutauschen. Die Wissenschaftler rechnen damit, dass in zehn bis zwanzig Jahren Gendefekte auf diese Weise behoben werden können.
Gefahr neuer Eugenik?
Beim Abwägen von Chancen und Risiken der Gentherapie dürfen ethische Erwägungen nicht vergessen werden. Diese Technologie ermöglicht es, Schwerstkranke am Leben zu halten. Sie trägt aber auch das Potenzial für menschenfeindliche Anwendungen in sich. So besteht die Gefahr, dass die Eugenik durch die Gentherapie eine unverhoffte Renaissance erleben könnte. Brisant sind vor allem Eingriffe in die Keimbahn, da diese weitervererbt werden - mit unabsehbaren Folgen für die Menschheit. Wenn man im Erbgut des Menschen schon bald wie in einem Buch lesen kann, könnte der eine oder andere versucht sein, ein paar Verbesserungen einzufügen.
Neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der Gentherapie oder der Biotechnologie, wie die Dechiffrierung der drei Milliarden Basenpaare des Menschen (Titelbeitrag in PZ 28/00), könnten zum Segen oder zum Fluch werden. Einige Wissenschaftler und Ethiker raten daher zu extremer Vorsicht. Die Autoren Jeff Lyon und Peter Gortner meinen dazu im Vorwort des Buches "Altered Fates: Gene Therapy And The Retooling of Human": "Es gibt bereits verstörende Anzeichen dafür, dass die Bio-Zauberei der Gentherapie Missbrauch und Enteignung die Tür öffnet, möglicherweise sogar im katastrophischen Ausmaß, wenn die Interessen der Konzerne, der Politik und anderer Institutionen dominieren. Denn diese Interessen müssen nicht mit dem Wohl der Gesamtgesellschaft korrespondieren."
Breite Diskussion erwünscht
Die Entwicklung der Gentherapie wird stark von der weiteren finanziellen Förderung, besonders der Grundlagenforschung, abhängen. Denn nur mit Hilfe von Grundlagenwissen über Krankheiten und deren kausale Ursachen können sich neue Behandlungsmöglichkeiten ergeben. Ein weiterer Faktor, der die Chancen der Gentherapie schmälern könnte, sind die enormen Kosten einer Behandlung (27).
Durch die fast vollständige Entschlüsselung des menschlichen Erbguts sind die Gentechnik und ihre Folgen erneut in den Fokus gerückt. Bundeskanzler Gerhard Schröder forderte zu einer breiten öffentlichen Diskussion auf. Ein wünschenswertes Vorhaben. Doch nur wenn Wissenschaftler ihre Labor-Schneckenhäuser verlassen, Öffentlichkeitsarbeit leisten und sich den Fragen und Befürchtungen der Bevölkerung stellen, kann der von Schröder geforderte Meinungsaustausch stattfinden. Das "Jahr der Lebenswissenschaften", zu dem 2001 erklärt wurde, kann dafür breiten Raum bieten.
Glossar
Literatur
Die Autorin
Britta Urmoneit studierte Biologie an der Freien Universität Berlin (1986 bis 1991) und fertigte ihre Diplomarbeit am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik an. Anschließend arbeitete sie bei der Schering AG, Abteilung ZNS-Forschung, an ihrer Promotion über die Molekularbiologie der Alzheimer-Krankheit. 1996 begann Dr. Urmoneit als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem DFG-Teilprojekt "Molekulare Entstehungsmechanismen neurodegenerativer Erkrankungen" mit dem Schwerpunkt "Kongophile Angiopathie der Alzheimer-Krankheit" an der Neurologischen Klinik der Universität Düsseldorf. Seit Frühjahr 2000 ist sie als Dozentin an einem höheren Berufskolleg für technische Berufe in Köln tätig und dort für den Bereich Gentechnik und Molekularbiologie zuständig. Als freie Wissenschaftsjournalistin arbeitet sie seit 1997 für Zeitungen, Zeitschriften und Verlage.
Anschrift der Verfasserin:
Dr. Britta Urmoneit
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