Pharmazeutische Zeitung online

Wenn Zwänge das Leben bestimmen

29.01.2001  00:00 Uhr

PSYCHIATRIE

Wenn Zwänge das Leben bestimmen

von Franz Kohl, Freiburg

Die psychiatrische Sichtweise und die Behandlung von Zwangsstörungen haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten komplett gewandelt. Bis zu den frühen siebziger Jahren galten Zwangsstörungen als selten, diagnostisch als Sonderform einer "Neurose" und therapeutisch als schwierig bis nicht beeinflussbar. Kaum ein Nervenarzt, Psychiater oder Psychotherapeut beschäftigte sich schwerpunktmäßig mit Zwangsphänomenen; viele lehnten die Behandlung zwangskranker Menschen rundweg ab. Viele Betroffene versuchten, ihre Krankheit zu verschweigen und deren Symptome zu verheimlichen. Noch heute wird von der "verborgenen Krankheit" gesprochen.

Zwangsstörungen sind um ein Vielfaches häufiger als bislang angenommen, so häufig, dass man von der viert- oder fünfthäufigsten psychiatrischen Störung überhaupt ausgeht. Diagnostisch wird die Zwangsstörung in der Regel (besonders im DSM-IV) als Unterform der Angststörungen aufgefasst. Ein Teil der Forscher hält es aber für gerechtfertigt, eine eigenständige Krankheitseinheit darin zu sehen. Mit der Verhaltenstherapie und den serotoninerg wirksamen Antidepressiva stehen zwei Therapien zur Verfügung, deren Effizienz international anerkannt ist.

Schleichender Beginn

Bis Ende der achtziger Jahre lagen die Angaben zur Häufigkeit bei etwa 0,05 bis 0,1 Prozent Jahresprävalenz (also der Manifestation innerhalb eines Studien- oder Beobachtungsjahres). Mit Hilfe neuer Erhebungsverfahren, die sich an modernen Diagnostiksystemen und ihren Kriterien orientierten und mit strukturierten Interviews arbeiteten, wurde vor etwa zehn Jahren erstmals eine wesentlich höhere Prävalenz nachgewiesen. Die Angaben für die Sechsmonatsprävalenz lagen jetzt zwischen 1,6 und 1,8 Prozent, für die Lebenszeitprävalenz bei zwei bis drei Prozent. Dies entspricht dem heutigen Kenntnisstand. Zwangsstörungen scheinen in verschiedenen Kulturen ähnlich häufig zu sein, inhaltlich gibt es aber wesentliche Unterschiede, die die aktuelle Besorgnis in der Bevölkerung - in den letzten Jahren etwa vor einer HIV- oder BSE-Infektion - widerspiegeln.

Der Krankheitsbeginn liegt zumeist im späten Jugend- und frühen Erwachsenenalter, statistisch gesehen zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr. Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen. Charakteristisch - und bei einer "heimlichen Erkrankung" nicht anders zu erwarten - ist die ungewöhnlich lange Zeit, die zwischen Beginn der Symptomatik und dem erstmaligen Antritt einer adäquaten Therapie vergeht. Im Durchschnitt dauert es etwa sieben, nach manchen Studien sogar zehn Jahre, bis eine effektive Behandlung aufgesucht wird.

Meistens beginnt eine Zwangsstörung schleichend und entwickelt sich langsam progredient oder chronisch persistierend. Es gibt aber auch recht akute Manifestationsformen, teilweise sogar nach Art einer "obsessiven Krise" (15) im Anschluss an eine traumatische Situation. Insgesamt sind episodische oder phasische Verläufe höchstwahrscheinlich selten. Die häufigsten Unterformen sind Waschzwänge und Kontaminationsängste, Kontrollzwänge und Katastrophenängste sowie Ordnungszwänge.

Besonders hervorzuheben ist das Auftreten einer Zwangsstörung in Verbindung mit anderen psychischen Erkrankungen, zum Beispiel einer Angsterkrankung, Depression oder Persönlichkeitsstörung (Komorbidität). Je nach Messsystem ergeben sich Überlappungen bis über 50 Prozent für die genannten Diagnosegruppen, seltener auch für andere Störungen wie Tic-Erkrankungen oder dem Gil-de-la-Tourette-Syndrom. Die ohnehin komplexe Behandlung einer Zwangserkrankung wird durch das gleichzeitige Vorliegen einer anderen Störung noch schwieriger (Tabelle).

 

Komorbide Störungen bei Zwangsstörungen

Depressionen

Angststörungen

Persönlichkeitsstörungen, 
insbesondere anankastische, vermeidende und dependente, 
weniger Borderline- und histrionische Störung

Schizophrenie

 

Hypothesen und Befunde zu den biologischen Grundlagen

Wie bei vielen psychiatrischen Störungsbildern hat die Forschung der letzten 15 Jahre Hinweise für eine biologische Basis der Zwangserkrankungen entdeckt. Die Befunde ermöglichen noch kein wirklich schlüssiges pathogenetisches Modell, das etwa eine neurobiologische Erklärung für die Entstehung der Störung ähnlich derjenigen für die Angsterkrankungen abgeben würde. Die wichtigsten Befunde in Kürze.

Durch die mehrfach belegte therapeutische Effektivität von Serotonin-Antagonisten bei der Behandlung von Zwangsstörungen, insbesondere von Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI), wurde die Forschung auf die mögliche pathogenetische Bedeutung des Serotonin-Systems aufmerksam. Allerdings gehört das zentralnervöse Serotonin-System zu den phylogenetisch und ontogenetisch ältesten und sehr weit verbreiteten Neuromodulatorensystemen. Dies macht es wahrscheinlich, dass serotoninerge Funktionsänderungen bei verschiedenen neuropsychiatrischen Störungen von Bedeutung sind, was den Spezifitätsnachweis erheblich erschwert. Außerdem interagieren serotoninerge Neurone mit vielen intracerebralen Strukturen und Substanzen. Zudem ist die Methode, über das Studium peripherer serotoninerger Indikatoren (etwa im Bereich der Thrombozyten) zu Analogieschlüssen auf die cerebrale Situation zu kommen, kritisch zu beurteilen, denn: Es ist zwar gesichert, dass Serotonin auch für die Thrombozytenfunktion eine wesentliche Rolle spielt, ob die hier ablaufenden biochemischen Prozesse aber den cerebralen bei der Zwangsstörung gleichen, ist noch keineswegs gesichert. Dies alles macht die methodisch überzeugende Überprüfung der zunächst so wahrscheinlich erscheinenden Serotonin-Hypothese schwierig.

Hirnelektrische Veränderungen bei zwangskranken Patienten werden als Ausdruck einer erhöhten zentralnervösen Aktivierung gedeutet. Beschrieben wurden etwa vergrößerte Amplituden der "P300"-Welle sowie verkürzte P300-Latenzen (also eine Veränderung des elektrophysiologischen Erregungs- und Ausbreitungsmusters im Gehirn nach spezifischer experimenteller Reizung). Diese Werte werden messbar, wenn man Erkrankte spezifisch stimuliert und die über dem zerebralen Cortex evozierten Potenziale "abgreift".

Bei der üblichen Standarddiagnostik des Gehirns mittels Computertomographie (CT) und Kernspintomographie (NMR) ergeben sich keine völlig konsistenten Befunde. Allerdings sprechen die Resultate der "funktionellen Bildgebung" mit der spezialisierten SPECT- oder PET-Technik für eine zumindest funktionelle Überaktivität im Bereich des frontalen, frontobasalen und frontomedialen Cortex. Dies gilt zwar nicht in jedem Einzelfall, ergibt sich aber eindeutig im gruppenstatistischen Vergleich. Unterstützt wird die Hypothese einer frontobasalen Funktionsänderung durch Befunde, wonach diese Veränderungen bei Kranken nach Exposition zunehmen und nach medikamentöser oder verhaltenstherapeutischer Behandlung abnehmen. Derzeit werden bildgebende, neurophysiologische und biochemische Methoden jedoch nicht primär zur Diagnostik, sondern eher aus wissenschaftlichem Interesse herangezogen. 

Zwangshandlungen sollen Ängste und Zwangsideen mindern

Wie der Name schon sagt, sind Zwangsstörungen und -erkrankungen hauptsächlich durch klinische Zwangsphänomene gekennzeichnet. Eine Zwangsstörung liegt dann vor, wenn die wichtigsten Elemente - Zwangsgedanken, -impulse und/ oder -handlungen - so häufig auftreten, dass sie den Betroffenen erheblich beeinträchtigen, von ihm nicht mehr unterdrückt oder beherrscht werden können und den üblichen Alltag erheblich erschweren. Dies ist eine eher pragmatische als wissenschaftlich vollständige Definition. Sie berücksichtigt, dass sowohl zwanghaft sich aufdrängende Gedanken wie auch ritualisierte Handlungen und Verhaltensweisen sehr weit verbreitet und nicht an sich als "krankhaft" zu betrachten sind. Neben dem qualitativen Kriterium ist also ein quantitatives zu fordern. Die Zwangsphänomene müssen das Leben erheblich beeinträchtigen, einen Leidenszustand oder eine Lebens- und Entwicklungshemmung hervorrufen.

Der klassisch-psychiatrische Ansatz beschreibt die "formalen Denkstörungen", das heißt dass die Betroffenen bestimmte Gedanken oder innere Bilder wiederholt unerwünscht und gegen ihren Willen erleben und diese als Ich-fremd empfinden. Parallel bestehen häufig innere Anspannung, Unruhe, Grübelneigung, depressive Symptome, motorische Verlangsamung, Selbstunsicherheit bis zur Handlungsunfähigkeit (Kasuistik 1). Typischerweise beschreiben die Betroffenen, sie müssten die als unsinnig und befremdend erlebten Gedanken und Verhaltensweisen trotz inneren Widerstandes ausführen, um sehr unangenehme Angst- und Spannungszustände abzubauen.

Kasuistik 1

Bei einem 28-jährigen Patienten bildete sich innerhalb von etwa drei Monaten ein rasch fortschreitendes Zwangssyndrom aus, das zeitweilig von erheblichen Erschöpfungs- und Depressionszuständen begleitet war. Der Patient berichtete über einen extrem eingeschränkten räumlichen Aktionsradius. Schon seit mehreren Wochen habe er die Wohnung am Studienort nicht mehr allein verlassen können. Inzwischen sei er nur noch mit zwei Begleitpersonen in der Lage, Spaziergänge in der Umgebung seines Hauses oder unter größten Mühen kleinere Ausflüge in die Stadt zu unternehmen.

Er habe ein System von Ritualen ausgebildet, das zwei Angehörige als Begleitpersonen erfordere, um sich vor den etwaigen negativen Konsequenzen unbeabsichtigter Handlungen zu schützen. Er habe nämlich die Befürchtung, kleine Kinder anzurempeln, die dann hinfallen könnten, oder unbeabsichtigt einen Radfahrer anzustoßen, der nach dem Sturz verletzt oder gar tot sein könne. Diese und ähnliche Gedanken seien in seinem Kopf ständig präsent und er könne sie nicht verdrängen. Deshalb habe er ein komplexes Ritual ausgebildet, um sich zu vergewissern, dass von ihm keinerlei Schädigung ausgehen könne oder ausgegangen sei. Zwei Schutzpersonen mussten seine Rückseite und seine Flanke, die er selbst nicht einsehen könne, "decken", während er selbst damit beschäftigt sei, nach vorne zu sehen und sämtliche möglichen Schädigungen zu vermeiden.

 

Das in diesem Fall außergewöhnlich klar und deutlich ausgebildete Syndrom mit ubiquitären Zwangsgedanken, Kontroll- und Neutralisierungshandlungen kann als Schutz vor einem eigenen möglichen Fehler oder auch vor den Folgen eigener (unbeabsichtigter) Aggressivität oder Nachlässigkeit verstanden werden. In der Familie bestanden ein hochgradiges Harmoniebedürfnis, Rückversicherungsstrategien, Aggressionshemmung und Hypermoralität. Im allgemeinen verhielt sich der Patient sehr rücksichtsvoll und mögliche Gefahren antizipierend sehr planvoll gegenüber den Mitmenschen. Durch die Begleitpersonen, Kontroll- und Neutralisierungsrituale gelang es unter großem Aufwand, innere Unruhezustände zu mindern oder vorübergehend zu bewältigen.

Bei der klinischen Betrachtung bietet sich die Einteilung in Zwangsgedanken und Zwangshandlungen an. Dabei ergibt die Analyse zumeist, dass die Gedanken den Handlungen vorausgehen, die wiederum eine bestimmte Funktion haben. Sie sollen die mit den Zwangsgedanken einhergehenden Ängste und Befürchtungen auflösen, mindern oder neutralisieren. Dies führt häufig zu monotonen, stereotyp erlebten und äußerlich mitunter bizarren Ritualen, die sich im Laufe der Erkrankung zunehmend verselbständigen können und ihre anfänglich scheinbar gegebene Effektivität - im Sinne der Reduktion von Angst und Unruhe - mehr und mehr verlieren. Dies kann soweit gehen, dass die Betroffenen nach einigen Monaten oder Jahren gar nicht mehr angeben können, warum sie bestimmte Rituale vollziehen; diese zu unterlassen, erscheint ihnen aber subjektiv unmöglich und löst häufig - falls überhaupt versucht - katastrophale Befürchtungen und geradezu abstruse Phantasien aus (Kasuistik 2).

 

Kasuistik 2

Eine Frau Mitte 30 leidet seit einigen Jahren unter der zwanghaften Befürchtung, ihren Kindern etwas antun zu können. Diese sind bereits im Schulalter. Den Beginn der Zwangsstörung kann sie mit einem als riskant erlebten Ereignis auf der Autobahn in Verbindung bringen, als sie auf dem Weg zu ihrem Bruder beinahe in einen Unfall geriet. Inhaltliche Zusammenhänge mit der Zwangsbefürchtung, ihren Kindern etwas antun zu können, sind nicht sicher nachweisbar. Dennoch haben sich die Befürchtungen ziemlich systematisch entwickelt und beziehen sich auch auf andere mögliche Katastrophen, etwa dass ihr beim Zugfahren oder Busfahren etwas zustoßen könne, sie kollabieren oder einen Angstanfall bekommen und eine Hilfe nicht rechtzeitig erreichen könne.

Bei der Behandlungsaufnahme hatte sie sich für den häuslichen und insbesondere den Urlaubsbereich eine Reihe von Sicherungs- und Vermeidungsstrategien zurecht gelegt. Insbesondere hatte sie spitze Messer, Scheren und ähnliche potenziell gefährliche Gegenstände aus dem Alltagsbereich entfernt und in einem besonderen Versteck untergebracht. Damit wollte sie einerseits verhindern, dass ihren Kindern versehentlich etwas zustoße, vor allem  aber sich selbst davor schützen, plötzlich mit dem Anblick eines spitzen Gegenstandes konfrontiert zu sein. Sie fürchtete, dann den Impuls zu bekommen, diesen spitzen Gegenstand quasi automatisiert zu erfassen und damit eines ihrer Kinder verletzen oder gar töten zu können.

Die Befürchtung hatte sich in den letzten Monaten auf andere Kinder, insbesondere auf Säuglinge ausgedehnt. Da mehrere ihrer Freundinnen entbunden hatten und weitere Entbindungen anstanden, hatte sich die Symptomatik akzentuiert und die Patientin fürchtete, dass ihre Ängste bei der Konfrontation mit Neugeborenen und Säuglinge massiv ansteigen könnten und es zu einer Exazerbation ihrer Ängste käme, die dann zu einem Kontrollverlust führen könnten. Bei Vorherrschen dieser Befürchtungen kam es zu depressiven Einbrüchen, Angstanfällen, inneren Angst- und Spannungszuständen.

 

Gute Aussichten mit Pharmaka und Psychotherapie

Mit Psycho- und Pharmakotherapie kann man heute vielen zwangskranken Menschen helfen. Die Therapie mit serotoninerg wirksamen Antidepressiva, insbesondere mit selektiven SSRI, ist international anerkannt und durch Studien in ihrer Effizienz vielfach abgesichert. Die Behandlung mit serotoninergen Pharmaka ist besonders dann indiziert und effektiv, wenn Zwangsgedanken eine wesentliche Rolle spielen oder eine erhebliche depressive Teilkomponente vorliegt. Ein Nachteil der rein pharmakotherapeutischen Behandlung ist allerdings, dass die Symptome bei Absetzen oder Reduktion der Medikation nicht selten wieder auftreten.

Ähnlich erfreulich zeigen sich die Ergebnisse der modernen psychotherapeutischen, kognitiv-behavioralen Verfahren. Dabei wird versucht, über eine komplexe Vorgehensweise mit Wissensvermittlung (Psychoedukation), gedanklicher Veränderung und Verhaltensmodifikationen dem Patienten die Möglichkeit zu geben, nach und nach die pathologischen Phänomene zu erkennen, zu verstehen und zu verändern. Mit dieser Methodik lässt sich die Symptomatik in über 60 Prozent der Behandlungen deutlich bessern. Die Behandlung mit Reizkonfrontation und Reaktionsverhinderung oder -management (das so genannte ERP- und ERM-Paradigma) - Kernstück der kognitiv-behavioralen Verfahren - erfordert allerdings einen motivierten, expositionsbereiten Patienten, da sie in der Regel subjektiv als belastend und anstrengend erlebt wird. Zentraler Punkt dabei ist, dass der Patient Angst erzeugende Gedanken oder Situationen nicht umgeht (vermeidet) oder mittels Zwangsritualen "neutralisiert", sondern deren Erlebnis zulässt; er kann dann die damit verbundene Angst erleben und deren allmähliches Nachlassen an sich selbst erfahren. Bei guter therapeutischer Beziehung und Behandlungsmotivation sowie kluger Durchführung des Designs sind die Erfolgsaussichten günstig; außerdem bleiben die Ergebnisse meist weit über das eigentliche Behandlungsende hinaus bestehen.

Verhaltenstherapie auf mehreren Ebenen

Bereits Sigmund Freud hatte sich um Erklärungsansätze von Zwangsstörungen und darauf aufbauend um die Entwicklung effektiver Behandlungsweisen bemüht. Allerdings blieben die Erfolge deutlich hinter den Erwartungen zurück, so dass sich seit den 1920er Jahren nur noch wenige Psychoanalytiker intensiver mit der Therapie Zwangserkrankter befassten. Seit den fünfziger Jahren wurden die Methoden der Verhaltenstherapie allmählich auf die Behandlung von Zwangspatienten übertragen. Bereits 1958 berichtete Wolpe über die Effektivität systematischer Desensibilisierung, allerdings lagen die Resultate bei einer statistischen Auswertung deutlich unter denjenigen bei Ängsten, weshalb sich die Mehrzahl der Verhaltenstherapeuten auf diese Störungsgruppe konzentrierte.

In den sechziger und insbesondere den siebziger Jahren wurde der Methodenkanon wesentlich erweitert um Verfahren wie das "Habituationstraining", "Flooding in der Vorstellung" sowie die "In-vivo-Aversionstherapie". Das zentrale gemeinsame Element dieser Einzeltechniken ist die Konfrontation mit Angst auslösenden Stimuli, entweder in der Vorstellung oder in der Realität. Besonders effektiv war die Kombination von Reizexposition und Reaktionsverhinderung. Im Unterschied zur Behandlung von Ängsten zeigte sich, dass die stufenweise oder graduelle Exposition in vivo ebenso wirksam ist wie die massive Exposition (Flooding). Dabei kann es ähnlich effektiv sein, wenn sich der Patient nach vorheriger Instruktion den gefürchteten Situationen selbst kontrolliert aussetzt oder wenn er dies in therapeutischer Begleitung tut.

Ergänzend zu diesen vorwiegend verhaltensorientierten Verfahren werden seit den 1980er Jahren auch kognitive Verfahren wie die "Exposition in vivo" eingesetzt. Der Patient wird angehalten, sich diejenige Situation, die ihm Angst und Katastrophenphantasien bereitet, vorzustellen und diese Vorstellung so lange auszuhalten, bis die Beunruhigung nachlässt und Angst, Anspannung und Stressgefühl sich weitgehend normalisieren (habituieren). Seitdem gewinnt die Behandlung von Zwangsgedanken - ein Symptom, das fast alle Patienten aufweisen - eine zunehmend größere Bedeutung.

Pharmakotherapie mit Antidepressiva

Die Pharmakotherapie stellt heute erwiesenermaßen eine wichtige Grundlage bei der Behandlung dar. Sie kann die Symptomatik bei etwa 50 bis 70 Prozent der Patienten deutlich bessern. Bereits Ende der 1960er Jahre beobachtete man, dass das trizyklische Antidepressivum Clomipramin bei Zwangskranken günstig wirken kann (Beispiel: Anafranil®, Hydiphen®). Später konnte die therapeutische Wirksamkeit auf die relativ selektive Wiederaufnahmehemmung für den Neurotransmitter Serotonin zurückgeführt werden. Daraus resultierte die für die weitere Forschung sehr bedeutsame Serotonin-Hypothese als ätiopathogenetischer Faktor bei Zwangsstörungen. Die neueren serotoninergen Substanzen, besonders die Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Fluvoxamin, Fluoxetin und Paroxetin, untermauerten diese Hypothese (Beispiele: Fluvoxamin: Fevarin®; Fluoxetin: Fluctin®; Paroxetin: Seroxat®, Tagonis®).

Durch zahlreiche Studien ist inzwischen belegt, dass selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) annähernd eine gleiche klinische Wirksamkeit wie Clomipramin aufweisen. Wichtige Nebenwirkungen der Clomipramin-Behandlung sind die typischen anticholinergen Begleiteffekte wie Mundtrockenheit, Obstipation, Übelkeit, Müdigkeit und gelegentlich Ängstlichkeit. Bei den SSRI stehen Übelkeit, Durchfall und andere gastrointestinale Beschwerden im Vordergrund; es kann auch zu funktionellen Sexualstörungen kommen. Insgesamt erscheint das Nebenwirkungsspektrum der SSRI pharmakologisch und klinisch günstiger, so dass die Vertreter dieser Substanzklasse inzwischen zu Standardpräparaten avanciert sind. Die klinische Erfahrung - inzwischen gestützt durch mehrere Verlaufsstudien - zeigt, dass bei obsessiver Indikation eine höhere Dosis und eine längere Gabe nötig ist, als dies bei rein depressiven Patienten üblich und durch Studien gesichert ist.

Im Regelfall werden Pharmakotherapie und Verhaltenstherapie bei der Behandlung von Zwangsstörungen kombiniert. In mehreren Studien erwies sich die Kombination von Clomipramin und Verhaltenstherapie wirksamer als die Kombination der Verhaltenstherapie mit einem Placebo (14). Ähnliches ist für Fluvoxamin nachgewiesen.

 

 

Glossar

Anankastische Persönlichkeitsstörung: Akzentuierung des Persönlichkeitsbildes in Richtung Ordentlichkeit, Pedanterie, Perfektionismus und übertriebener Sorgfalt

Gil-de-la-Tourette-Syndrom: selteneres Krankheitsbild mit komplexer Symptomatik, unter anderem Zwangs- und Tic-Phänomenen, Aggressivität, Denken und Sagen "unanständiger" Ausdrücke

Histrionische Persönlichkeitsstörung: Persönlichkeitsbild mit starker Äußerung von Emotionen, Kontaktfreudigkeit, zum Teil Gefallen- und Im-Mittelpunkt-stehen-wollen

ERP- und ERM-Paradigma: spezielles Verfahren der Verhaltenstherapie mit Reizkonfrontation gegenüber den Angst oder Zwang auslösenden Reizen und Situationen sowie schrittweisem Erlernen von deren Bewältigung

Tic-Erkrankung: Störung mit Manifestationsschwerpunkt im Jugendalter, die sich vorwiegend mit motorischen, also Bewegungsstörungen, und mit zwangsähnlichen Gedanken äußert

 

Literatur

  1. Baer, L., Alles unter Kontrolle. Zwangsgedanken und Zwangshandlungen überwinden. Verlag Hans Huber, Bern, Göttingen 1993.
  2. Bossert-Zaudig, S., Zaudig, M., Aktuelle empirische Befunde zur Effektivität der Verhaltenstherapie von Zwangsstörungen. In: Zaudig, Hauke, Hegel (Hrsg.), Die Zwangsstörung. Diagnostik und Therapie. Schattauer Verlagsges. Stuttgart 1998.
  3. Conradi, M., Diagnostik von Zwangsstörungen. Psycho 24 (Sonderausg.) (1998) 15 - 18.
  4. Dilling, H., et al. (Hrsg.), Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V, (F) Forschungskriterien. Hans Huber Verlag Bern 1994.
  5. Foa, E. B., Franklin, M. E., Kozak, M. J., Psychosocial Treatments for Obsessive-Compulsive Disorder: Literature Review. In: (25), S. 258 - 276.
  6. Fritze, J., Schneider, B., Weber, B., Pharmakotherapie der Zwangsstörung. Psycho 24 (1998) 677 - 690.
  7. Gross, R., et al., Biological Models of Obsessive-Compulsive Disorder: The Serotonin Hypothesis. In: (25), S. 141 - 153.
  8. Hand, I., Verhaltenstherapie der Zwangsstörung. In: Hand, I., et al., Zwangsstörungen: Neue Forschungsergebnisse. Springer Berlin 1992.
  9. Hand, I., Expositions-Reaktionsmanagement (ERM) in der strategisch-systematischen Verhaltenstherapie. Verhaltenstherapie 3 (1993) 61 - 65.
  10. Hand, I., Ambulante Therapie bei Zwangsstörungen. Psycho 24 (Sonderausg.) (1998) 23 - 29.
  11. Hauke, W., Die Effektivität von multimodaler Verhaltenstherapie bei Zwangsneurosen. Prax. Klin. Verhaltensmed. Rehabil. 26 (1994) 82 - 88.
  12. Hauke, W., Praxis des Reizkonfrontationstrainings bei Zwangsstörungen. In: Zaudig, Hauke, Hegel (Hrsg.), Die Zwangsstörung. Diagnostik und Therapie. Schattauer Verlagsges. Stuttgart 1998.
  13. Hoffmann, N., Kognitive Verhaltenstherapie bei Zwangsstörungen. In: Hautzinger, M. (Hrsg.), Kognitive Verhaltenstherapie bei psychischen Erkrankungen. Quintessenz Verlag Berlin, München 1994, S. 99 - 116.
  14. Hohagen, F., Neurobiologische Grundlagen der Zwangsstörung. In: Hand, I., Goodman, W. K., Evers, U. (Hrsg.), Zwangsstörungen. Neue Forschungsergebnisse. Bd. 5, Springer Verlag Berlin 1992, S. 57 - 71.
    Hohagen, F., Kombination von Psychotherapie und Pharmakotherapie bei der Zwangsstörung. In: Ambühl, H. (Hrsg.), Psychotherapie der Zwangsstörungen. Thieme Stuttgart 1998.
    Hohagen, F., Zwangsstörungen. In: Berger, M. (Hrsg.), Psychiatrie und Psychotherapie. Urban & Schwarzenberg München, Wien, Baltimore 1999, S. 619 - 640.
  15. Kohl, F., Die "obsessive Krise" als rapide Verlaufsvariante einer Zwangsstörung. Nervenheilkunde 17 (1998) 468 - 471.
  16. Kohl, F., Das "Training sensorischer Evidenz" als fakultativer Therapiebaustein bei Zwangsstörungen. In: Verhaltenstherapie. W. Karger Verlag, Freiburg 1999, S. 96-101.
  17. Lakatos, A., Kognitiv-behaviorale Therapie für Zwangsstörungen. Eine Therapievergleichsstudie. S. Roderer Verlag Regensburg 1997.
  18. Niedermeier, N., Bossert-Zaudig, S., Psychologische Modelle zur Erklärung der Entstehung von Zwangsstörungen. In: Zaudig, Hauke, Hegel (Hrsg.), Die Zwangsstörung. Diagnostik und Therapie. Schattauer Verlagsges. Stuttgart 1998.
  19. Pato, M. T., Pato, C. N., Gunn, S. A., Biological Treatments of Obsessive-Compulsive Disorder. Clinical Applications. In: (25), S. 327 - 348.
  20. Reimer, M., Ambulante Verhaltenstherapie der Zwangsstörung in der kassenärztlichen Versorgung: Wichtige Therapieschwerpunkte aus der Erfahrung in der Praxis. Verhaltenstherapie 4 (1994) 266 - 274.
  21. Reinecker, H., Zwänge: Diagnose, Therapie und Behandlung. Berlin Huber 1991.
  22. Salkovskis, P., Principles and practice of cognitive-behavioral treatment of obsessional problems. Prax. Klin. Verhaltensmed. Rehabil. 26 (1994) 113 - 120.
  23. Saß, H., Wittchen, H. U., Zaudig, M., Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-IV. Hogrefe Verlag, Göttingen 1996.
  24. Süllwold, L., Herrlich, J., Volk, S., Zwangskrankheiten. Psychobiologie, Verhaltenstherapie, Pharmakotherapie. Verlag W. Kohlhammer Stuttgart 1994.
  25. Swinson, R. P., et al., Obsessive-Compulsive Disorder. Theory, Research and Treatment. The Guilford Press New York, London 1998.
  26. van Balcom, A. J. L. M., van Dyck, R., A meta-analysis on the treatment of obsessive compulsive disorder. Clin. Psychol. Review 14 (1994) 359 - 381.
  27. van Oppen, P., et al., Cognitive therapy for obsessive compulsive disorder. Behaviour Research Therapy 32 (1994) 79 - 87.
  28. van Balcom, A. J. L. M., van Dyck, R., Combination Treatments for Obsessive- Compulsive Disorder. In: (25), S. 349 - 366.

 

 

Der Autor

Franz Kohl studierte Medizin in Marburg und erhielt 1980 die Approbation als Arzt. Neben seiner Ausbildung in Neurologie und Psychiatrie beschäftigte er sich mit medizinhistorischen Fragestellungen. 1985 wurde er mit einer Arbeit zu einem medizinhistorischen Thema promoviert. Seit 1987 widmet sich Dr. Kohl, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie sowie Neurologie und Rehabilitationswesen, besonders der Geschichte der Neuro- und der Verhaltenswissenschaften sowie den Grundlagen der naturwissenschaftlichen Medizin.

 

Anschrift des Verfassers:
Dr. Franz Kohl
Schillerstraße 18
79102 Freiburg

Top

© 2001 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de

Mehr von Avoxa