Wenn Verhütung zum Problem wird |
12.01.2004 00:00 Uhr |
Während viele Frauen die tägliche Pilleneinnahme als lästig empfinden und sich mit Pflastern oder Vaginalringen das Leben angenehmer gestalten wollen, stellt die Verhütung für andere mitunter ein großes Problem dar. Frauen mit Epilepsie oder einer geistigen Behinderung müssen weit mehr beachten als eine regelmäßige Einnahme.
Mono- und mehrphasige orale Kontrazeptiva, Minipillen, Implantate, Depotinjektionen, Intrauterinpessare und Pflaster: Die Palette der hormonellen Kontrazeptiva ist groß. Je nach persönlichen Wünschen und Verträglichkeit sollte jede Frau den für sie idealen Empfängnisschutz finden. Den meisten gesunden, jungen Frauen gelingt dies auch. Schwieriger wird es, wenn chronische Grundkrankheiten zur dauerhaften Medikamenteneinnahme zwingen. Dass Interaktionen mit den Hormonpräparaten die Verhütung beeinträchtigen können, soll am Beispiel epilepsiekranker Frauen gezeigt werden.
Ein immer noch heikles Thema ist die sichere Kontrazeption bei Frauen mit einer geistigen Behinderung. Vor einigen Jahren noch gar nicht wahrgenommen oder verleugnet, wird der Wunsch nach Beziehung und Sexualität bei Teenagern mit Down-Syndrom heute offener angesprochen. Eltern, Betreuer und junge Frauen fragen sich, wie man mit diesen Bedürfnissen umgehen und sie in das Leben integrieren kann, ohne eine ungewollte Schwangerschaft zu riskieren. Weil es darauf keine pauschale Antwort geben kann, sprach die PZ mit Cora Halder, Mutter eines Teenagers mit Trisomie 21 und Leiterin des Deutschen Down-Syndrom Infocenters in Lauf an der Pegnitz, über ihre Erfahrungen.
Sorgfältige Wahl bei Epilepsie
"Die Wirkung von oralen Kontrazeptiva kann beeinträchtigt sein." Sowohl in Pharmakologiebüchern als auch in den Packungsbeilagen vieler Antiepileptika begegnet man diesem eher diffusen Hinweis. Ist es für junge Frauen, die an Epilepsie leiden, schon nicht einfach, ihre Krankheit anzunehmen, stehen sie beim Thema sichere Verhütung vor einem weiteren Problem. Denn die meisten antikonvulsiven Substanzen erhöhen über eine Induktion von Cytochrom-P450-Enzymen die Hydroxylierung von Sexualhormonen und beschleunigen damit den Abbau insbesondere der Estrogene (1).
Diese Interaktion zwischen Antiepileptika und hormonellen Kontrazeptiva ist bekannt, seit in den 70er-Jahren die Estradiol-Dosis in Kombinationspräparaten von 100 auf 50 µg gesenkt wurde. Patientinnen mit Epilepsie berichteten häufiger von Zwischenblutungen und ungewollten Schwangerschaften als gesunde Frauen, sodass entsprechende Untersuchungen gestartet wurden.
Inzwischen liegen zahlreiche Studien vor, die zeigen, dass die Mehrzahl der Antiepileptika, vor allem ältere Wirkstoffe wie Phenytoin und Phenobarbital, den Abbau der Hormone beschleunigt (siehe Tabelle). So konnte eine 2003 publizierte Studie mit Patientinnen, die mit einem Kombinationspräparat aus 1 mg Norethisteron und 35 µg Ethinylestradiol verhüteten, für Carbamazepin eine deutliche Interaktion nachweisen, wohingegen Topiramat keinen signifikanten Einfluss zeigte (2). Carbamazepin in einer Dosierung von 600 mg senkte die AUC (Area under the curve) des Estrogens und des Gestagens deutlich, und zwar um 58 und 42 Prozent. Die stärkere Metabolisierung ist damit zu erklären, dass das Antikonvulsivum sowohl das Cytochrom-P450-Isoenzym 3A4 als auch die Glucuronidkopplung induziert. Dagegen schwankte die AUC von Ethinylestradiol unter Topiramat in den gängigen Dosierungen von 50, 100 und 200 mg bei normalgewichtigen und 200 mg bei korpulenten Frauen nur um wenige Prozent. Auch die Blutspiegel von Norethisteron änderten sich nicht signifikant.
Tabelle: Verminderung der kontrazeptiven Sicherheit oraler
hormoneller Verhütungsmittel durch Antiepileptika
(modifiziert nach Privatdozentin Dr. Eva Bettina Schmitz,
Charité Berlin)
*) möglicherweise kein Problem bei höher dosierter Pille; **) möglicherweise kein Problem unter 200 mg Topiramat/Tag
Andere Studien zeigten für Topiramat jedoch einen bis zu 30 Prozent niedrigeren Estrogenspiegel (3). Daher wird der Wirkstoff insbesondere in einer Dosierung über 200 mg pro Tag zu den Antikonvulsiva gezählt, die die Sicherheit oraler hormoneller Verhütungsmittel vermindern können (siehe Tabelle). Frauen, die Topiramat erhalten, sollten mit einem Kombinationspräparat verhüten, das mindestens 50 µg Ethinylestradiol enthält. In der Beratung ist es sinnvoll, darauf hinzuweisen, dass Zwischenblutungen einen fehlenden Schutz anzeigen können. Dann verbessern zusätzlich angewandte, nicht hormonelle Maßnahmen wie Kondome die Sicherheit.
Vorsicht sollten auch Frauen walten lassen, die andere Leberenzym induzierende Antiepileptika einnehmen (4). Häufig wird ihnen empfohlen, Medroxyprogesteron alle zehn statt zwölf Wochen injizieren zu lassen. Sichere Methoden sind darüber hinaus die Sterilisation, ein korrekter Gebrauch von Barrieremethoden oder Kupferspiralen.
Für das Levonorgestrel-Intrauterinpessar lieferte eine Pilotstudie erste viel versprechende Ergebnisse zur sicheren Verhütung bei Frauen mit Epilepsie (5). Die Spirale, die über fünf Jahre das Gestagen im Uterus freisetzt, ruft neben der gestagenbedingten Atrophie des Endometriums, der veränderten Konsistenz des Zervixschleims und der gestörten Follikelreifung eine Fremdkörperreaktion hervor, die zur kontrazeptiven Wirkung beiträgt.
Abraten sollte man von Levonorgestrel-Implantaten, falls Frauen Antikonvulsiva einnehmen, die mit Sexualhormonen interagieren. Eine Studie mit neun Frauen konnte zeigen, dass Phenytoin den Levonorgestrel-Spiegel senkte. Zwei von ihnen wurden innerhalb der einjährigen Untersuchung schwanger (6). In einem publizierten Fall konnte das Implantat auch unter Phenobarbital-Therapie nicht sicher vor einer Schwangerschaft schützen (7).
Erhalten Frauen jedoch nicht Enzym induzierende Antikonvulsiva, können sie unter den Kontrazeptiva frei wählen, solange ihre Epilepsie nicht vom Hormonspiegel getriggert wird. So beeinflussen Benzodiazepine, Ethosuximid, Gabapentin, Lamotrigin, Levetiracetam, Valproinsäure oder Vigabatrin die hormonelle Kontrazeption vermutlich nicht (4). Um Interaktionen möglichst gering zu halten, sollten Patientinnen Antiepileptika und orale Kontrazeptiva in einem großen zeitlichen Abstand – morgens beziehungsweise abends – einnehmen. Lassen sie ein bis zwei Halbwertszeiten zwischen den Einnahmen verstreichen, sinken die jeweiligen Arzneistofflevel schon deutlich.
Hormone lenken Anfälle
Bei etwa einem Drittel der Patientinnen lösen zyklusabhängige Konzentrationsschwankungen der Sexualhormone Krampfanfälle aus, was Mediziner als katameniale Epilepsie bezeichnen (8). In Untersuchungen an Tieren und Menschen fanden Forscher eine neuroaktive Wirkung dieser Substanzen: Estradiol verstärkt die Glutamatfreisetzung und damit die Glutamat-induzierte Erregung der Nervenzellen (9), steigert im Elektroenzephalogramm sichtbar epileptische Entladungen und erhöht die Anfallsfrequenz, wirkt also prokonvulsiv.
Für Progesteron hingegen konnte nachgewiesen werden, dass es an Purkinje-Zellen im Kleinhirn die hemmende Wirkung von γ-Aminobuttersäure (GABA) verstärkt sowie den erregenden Effekt von Glutamat abschwächt (10). Dabei scheint das Gestagen über seinen Metaboliten 3α-Hydroxy-5α-dihydroprogesteron barbituratähnlich am GABA-Rezeptor zu wirken (11). Das heißt, der Chloridkanal öffnet sich häufiger, Chlorid strömt ein, löst eine Hyperpolarisation aus, und die Zellen werden weniger erregbar.
In einem normalen Menstruationszyklus steigt in der ersten, follikulären Phase die Estrogen-Konzentration stark an, während der Progesteron-Spiegel niedrig bleibt, sodass sich der prokonvulsive Effekt des Estrogens zeigt. Erst nach dem Eisprung, in der lutealen Phase, überwiegt das antikonvulsiv wirksame Progesteron, bis es kurz vor der Menstruation wieder drastisch abfällt und Estrogen dominiert. Generell kann man daher drei Arten katamenialer Anfallshäufung unterscheiden:
Dabei sollte man erst von einer katamenialen Häufung sprechen, wenn sich die Anfallsfrequenz in diesen Perioden mindestens verdoppelt (12).
Als zusätzlicher Mechanismus für eine vom Zyklus beeinflusste Epilepsie kommt die Interaktion zwischen Arzneistoffen und Hormonen an Cytochrom-P450-Enzymen infrage. In diesem Fall verändern die körpereigenen Substanzen den Serumspiegel der Arzneistoffe. Da die Sexualhormonspiegel prämenstruell abnehmen, werden Antiepileptika mit gleichem Metabolisierungsweg verstärkt abgebaut. Auch diese erniedrigten Wirkstoffkonzentrationen können einen Krampfanfall auslösen.
Progesteron zur Therapie
Nahe liegend war, Frauen mit katamenialer Epilepsie – neben weiteren Therapien – mit synthetischem oder natürlichem Progesteron zu behandeln. Dafür liegen jedoch nur kleine, nicht doppelblinde Studien vor. Nahmen die Frauen täglich zwei bis vier Tabletten à 10 mg Medroxyprogesteronacetat ein oder ließen sich intramuskulär alle drei Monate 150 mg injizieren (Dreimonatsspritze), sank die Anfallshäufigkeit im Mittel um 39 Prozent (13).
Auch die intermittierende Gabe von Progesteron-Suppositorien in einer Dosierung von 50 bis 400 mg zweimal täglich besserte die Anfallshäufigkeit. In den drei Monaten der Behandlung konnte diese um durchschnittlich 68 Prozent gesenkt werden, sechs der acht Frauen mit komplex-partialen Störungen sprachen auf die Therapie an und erlitten weniger Anfälle (14).
In einer weiteren Studie halbierte sich die Zahl komplex-fokaler oder sekundär generalisierter, tonisch-klonischer Anfälle bei 18 von 23 Patientinnen. Dabei wurde die Gestagen-Therapie im Allgemeinen gut vertragen, selten traten schwerere Nebenwirkungen wie Depression oder Asthenie auf, die durch Dosissenkung gemindert werden konnten. Auf Grund der viel versprechenden Ergebnisse schloss sich ein Drei-Jahres-Follow-up an die ursprünglich dreimonatige Studie an. Über diesen Zeitraum erhielten die 18 Frauen, die zuvor auf die Therapie angesprochen hatten, weiterhin das Gestagen zusätzlich zu ihrer Basismedikation. Die 15 unter ihnen, die ihre antikonvulsive Medikation nicht veränderten, profitierten deutlich von der Therapie: Drei Patientinnen waren anfallsfrei, bei vieren sank die Anfallshäufigkeit um 75 bis 99 Prozent. Insgesamt verringerten sich komplex-fokale Anfälle um 62 und sekundär generalisierte, tonisch-klonische Anfälle um 74 Prozent (15).
Da Hormontherapien eine katameniale Epilepsie deutlich lindern können, hat deren Diagnose eine große klinische Bedeutung. Die Patientinnen sollten daher über ihre Anfälle Buch führen und über Temperaturmessung ihren Zyklus kontrollieren (8). Sie sollten kein Kombinationspräparat zur Verhütung einnehmen, da der Estrogen-Anteil die Anfälle triggert. Die Depot-Fertigspritze mit Medroxyprogesteronacetat kann hier eine günstige Methode sein, Schwangerschaften zu vermeiden und gleichzeitig das Krampfleiden in Schach zu halten. Minipillen, die ebenfalls nur Gestagen enthalten, sind in der Regel zu niedrig dosiert, um diesen Nutzen zu erzielen.
Anfallskontrolle bei Schwangeren
Für die meisten Antiepileptika, vor allem für die älteren Präparate, sind teratogene Effekte bekannt. Das Risiko für angeborene Fehl- und Missbildungen wie Herzfehler, Neuralrohrdefekte (insbesondere bei Valproinsäure und Carbamazepin), Kiefer-Gaumen-Spalten und Skelettanomalien ist gegenüber der Gesamtbevölkerung etwa verdoppelt und beträgt 4 bis 6 Prozent (16). Dies darf jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass die Frauen zu über 90 Prozent gesunde Babys zur Welt bringen.
In der Schwangerschaft wird Patientinnen dazu geraten, weiterhin Antikonvulsiva zur Anfallsprophylaxe einzunehmen. Dabei sollten sie vorzugsweise eine niedrig dosierte, antiepileptische Monotherapie erhalten (17) – eventuell in einer Retardform, um Serumkonzentrationsspitzen zu vermeiden. Hat sich eine Therapie bewährt, wird von einem Wechsel meist abgeraten. Wichtig ist zu wissen, dass neben der Medikation auch die Anfälle der Mutter zu Missbildungen führen können. Ärzte und Apotheker müssen die Patientinnen darüber informieren, dass ein Absetzen der Medikamente aus Angst vor teratogenen Wirkungen ebenfalls risikoreich ist. Eine gute Anfallskontrolle, insbesondere hinsichtlich tonisch-klonischer Krämpfe, ist essenziell für eine gesunde Entwicklung des Kindes. Dabei muss beachtet werden, dass die Wirkstoffkonzentrationen während der Schwangerschaft häufig abnehmen, da sich der Metabolismus, die renale Clearance sowie das Körper- und damit Verteilungsvolumen der Mutter ändern.
Arzt und Apotheker sollten die Schwangere zudem darauf hinweisen, ausreichend zu schlafen, da Schlafentzug oder unregelmäßiger Schlaf die Anfallsfrequenz erhöhen können. Dies gilt für die meisten Epilepsie-Patienten, unabhängig von einer Schwangerschaft.
Ist die Schwangerschaft geplant – was Epileptikerinnen anzuraten ist –, sollte die Frau mindestens vier Wochen vor Empfängnis mit einer Folsäureeinnahme beginnen, um Neuralrohrdefekten und Lippen-Gaumen-Spalten vorzubeugen. Bekanntlich haben selbst viele gesunde Schwangere einen erniedrigten Fohlsäurespiegel. Antiepileptika erzeugen zusätzlich einen milden Folsäuremangel, der mit der anormalen Entwicklung des Fetus in Zusammenhang gebracht wird. Die optimale Dosierung für epileptische Frauen ist noch unbekannt. Ohne Folsäuremangel reicht möglicherweise 1 mg pro Tag aus. Liegen jedoch bereits niedrige Spiegel vor, wird zu 4 mg täglich geraten (16).
Zwei Wochen vor der Geburt sollte die Schwangere täglich 20 mg Vitamin K peroral erhalten, um das Risiko von Blutungen zu verringern, da Enzym induzierende Antiepileptika kompetitiv den Prothrombinprecursor hemmen. In der Literatur findet man jedoch auch niedrigere Dosierungsempfehlungen auf Grund des erhöhten Thromboserisikos. Da auch für die Kinder ein erhöhtes Blutungsrisiko besteht, sollten sie am Tag der Geburt, am Ende der ersten Woche und in der vierten Lebenswoche jeweils 1 bis 2 mg Vitamin K peroral, subcutan oder intramuskulär erhalten.
Antiepileptika werden in unterschiedlichem Ausmaß in die Muttermilch sezerniert. Dennoch empfehlen viele Mediziner zu stillen, da die psychosozialen und ernährungsphysiologischen Vorteile für das Neugeborene überwiegen. Erst wenn das Kind Anzeichen einer Sedierung zeigt, muss die Mutter abstillen (18).
Frauen, die zum Zeitpunkt der Konzeption Antiepileptika einnehmen, können an einer internationalen Beobachtungsstudie teilnehmen. Mit den Daten bauen Wissenschaftler ein Europäisches Register für Schwangerschaften unter Antiepileptika auf (EURAP, www.eurap.germany.de). Hier wird die Häufigkeit von kongenitalen Fehlbildungen und pränatalen Wachstumsverzögerungen erfasst, um zu möglichst sicheren Medikationen zu gelangen. In die ärztliche Therapie wird jedoch nicht eingegriffen.
Sexualität geistig Behinderter
Eine Gruppe, die beim Thema Verhütung häufig vernachlässigt wird, sind Frauen mit einer geistigen Behinderung. Vielen Menschen fällt es schwer, geistige Behinderung und Sexualität überhaupt in Verbindung zu bringen. Sie gestehen den Frauen nicht das gleiche Recht auf selbstbestimmten Verkehr und Verhütung oder Kinderwunsch zu wie gesunden Frauen. Dennoch ist es auch für die Entwicklung geistig Behinderter wichtig, ihre Sexualität normal entwickeln zu können.
Vor Einführung des Betreuungsgesetzes im Jahr 1992 war die Sterilisation von Frauen mit geistiger Behinderung häufig üblich, auch wenn – schon aus historischen Gründen – kaum jemand darüber sprach. In erster Linie bestimmte das "Wohl der Allgemeinheit", sprich die Entlastung für Eltern und Pfleger, diese Entscheidung, obgleich sie nach außen mit dem „Wohl" der durch ein Baby überforderten Mutter oder des möglicherweise behindert geborenen Kindes begründet wurde. In vielen Fällen „tarnten“ die Verantwortlichen den irreversiblen Eingriff in das Leben der Frau als Blinddarmoperation oder Bauchspiegelung, klärten die Betroffene nicht auf und schafften prophylaktisch – auch ohne absehbaren sexuellen Kontakt – eine risikolose Totalsicherheit (19).
Sterilisation erschwert
Um die Sterilisation stärker gesetzlich einzugrenzen, enthält das Betreuungsgesetz, das Entmündigung, Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige beendete, einige Hürden. Nur wenn ein geistig behinderter Mensch dauernd einwilligungsunfähig ist, kann ein besonderer Betreuer, der keine sonstigen Betreuungsaufgaben gegenüber dem Betroffenen haben darf, in die Sterilisation einwilligen (§ 1905 BGB) – allerdings nur, "wenn
Eine Sterilisation darf erst zwei Wochen nach Wirksamwerden der Genehmigung erfolgen, wobei stets die Methode vorzuziehen ist, die eine Refertilisierung zulässt. Bei Minderjährigen ist die Sterilisation ausnahmslos verboten. Der Eingriff soll somit ausschließlich im Interesse des einwilligungsunfähigen Menschen geschehen. Eine Sterilisation im Interesse der Allgemeinheit, von Verwandten oder des ungezeugten Kindes schließt das Gesetz aus.
Seit 1992 sind durchschnittlich 100 Sterilisationen pro Jahr bei geistig behinderten Menschen genehmigt worden, informiert das Bundesjustizministerium, das zur möglichen Dunkelziffer keine Angaben macht. Unberücksichtigt bleiben die Fälle, in denen Angehörige, Ärzte oder Pfleger die Behinderte überreden, einer Sterilisation zuzustimmen, ohne dass diese die Tragweite ihrer Entscheidung erkennt. Hier entfällt die gerichtliche Überprüfung des Vormundschaftsgerichts.
Interview: Aufklärung steht am Anfang Da das Thema Verhütung je nach Art und Schwere der Behinderung differenziert zu behandeln ist, kann man keine allgemein gültigen Ratschläge erwarten. In einem Interview mit Cora Halder, Leiterin des Down-Syndrom Infocenter, rücken Fragen zur Sexualität und Verhütung bei Frauen mit Down-Syndrom in den Mittelpunkt.
PZ: Sexualität von geistig behinderten Menschen ist für viele Menschen ein Tabu. Wie stehen Sie dazu?
Halder: Für mich kann es kein Tabuthema sein, denn meine Tochter ist genau in dem Alter, in dem solche Fragen aufkommen. Es sollte aber auch generell kein Tabu sein.
PZ: Die Gesellschaft sieht Menschen mit geistiger Behinderung als " große Kinder" und gesteht ihnen häufig kein Recht auf Sexualität zu. Haben Behinderte wirklich keine sexuellen Bedürfnisse?
Halder: Das denken andere und leider auch viele, die mit Menschen mit geistiger Behinderung zusammenarbeiten, oder gar die Eltern. Ich weiß, dass es nicht stimmt. Geistig Behinderte haben sehr wohl ein Bedürfnis nach Freundschaft, Zärtlichkeit und Sex, vielleicht nicht alle oder nicht so ausgeprägt, aber man kann ihnen dies nicht generell absprechen.
PZ: Wenn dieser Wunsch unterdrückt wird, können die Menschen laut Pro Familia durch häufige Aggressionen und Verstimmungen auffallen. Kennen Sie das?
Halder: Menschen mit Down-Syndrom leiden häufig an Depressionen, gerade junge Erwachsene. Das hat man früher nicht erkannt oder gedacht, es gehöre zum Syndrom dazu. Heute wissen wir, dass Depressionen vorkommen. Ein Grund dafür kann die Unzufriedenheit mit dem Leben sein. Dazu gehört eben auch, dass behinderte Menschen meist keinen Partner haben und so leben müssen, wie es andere für sie organisiert haben. Sie sehen, dass Geschwister oder andere junge Menschen aus dem Haus gehen, einen Freund oder eine Freundin haben, zusammenleben, Familien gründen. Das alles kommt für sie oft nicht infrage.
PZ: Ist körperliche Zuwendung also heilsam?
Halder: Ja sicher. Auch das Zusammenleben in einer kleineren Wohngemeinschaft statt in großen Gruppen, was noch immer üblich ist, tut vielen gut. In großen Gemeinschaften hat der Einzelne häufig keine Möglichkeit zum Rückzug.
PZ: Können Frauen und Männer mit Down-Syndrom zusammenleben?
Halder: In den kleineren, modernen Wohnheimen werden die Gruppen meist gemischt. Und wenn eine Gruppe fortschrittlich ist, dürfen auch Paare in einem gemeinsamen Zimmer wohnen. Das ist allmählich möglich.
PZ: Bevor Frauen mit Down-Syndrom sexuell aktiv werden, stellt sich auch für sie die Frage der Verhütung. Was muss man hier besonders beachten?
Halder: Gängige Praxis war die Sterilisation. Wir haben daher noch wenig Erfahrung mit anderen Methoden. Viele Eltern oder Betreuer bezweifeln aber, ob eine Pille zuverlässig eingenommen wird. Ich selbst sehe das nicht so problematisch. Denn wenn Menschen mit Down-Syndrom etwas in ihr Tagesschema aufgenommen haben, vergessen sie es eigentlich nie. Ein Beispiel: Viele nehmen täglich Iod gegen eine Unterfunktion der Schilddrüse ein, und das oft schon als Kind. Ich weiß von vielen Kindern und Jugendlichen, dass sie diese Tablette nie und nimmer vergessen würden. Die Gefahr ist nicht so groß, wie man vielleicht zunächst denkt.
PZ: Können Sie sich vorstellen, dass die Frauen neue Methoden wie den Vaginalring oder ein Verhütungspflaster akzeptieren?
Halder: Es gibt sicher viele, die einen Ring oder die Spirale nicht mögen. Ein Pflaster kann die Frau natürlich irgendwann abziehen. Doch das ist alles noch am Anfang, denn die meisten Erwachsenen, die wir kennen, wurden noch sterilisiert. Und ich hörte kürzlich, dass noch immer darauf gedrängt wird, dass eine Frau, die in ein Wohnheim zieht, sterilisiert ist. Darüber bin ich sehr erschrocken. Es kann ja nicht angehen, dass die Betreuer Eltern unter Druck setzen, nur weil sie kein Risiko eingehen wollen.
PZ: Wenn es um Sterilisation geht, fällt immer der Begriff "einwilligungsfähig". Viele Frauen können die Tragweite des Eingriffs jedoch gar nicht verstehen. Wie können sie einwilligen, wenn sie diese nicht erklärt bekommen?
Halder: Das muss man lange vorher besprechen, auch mit einem Arzt, der das vielleicht aufzeichnet. Wir versuchen die Kinder dahingehend zu erziehen, zu erkennen, dass es auch andere Formen des Zusammenlebens gibt als eine Familie mit Kindern. Ich glaube, meine Tochter wäre damit überfordert, es würde ihr Leben unheimlich belasten.
PZ: Also sollte man zur Verhütung erziehen? Versuchen zu überzeugen?
Halder: Ja, und nicht einfach sagen: "Jetzt kriegst du eine Spritze und dann haben wir ein Jahr lang Ruhe ..." Die Eltern müssen ganz bewusst mitarbeiten, sodass die junge Frau eine Wahlmöglichkeit hat.
PZ: Sie informieren Ihre Tochter. Ist dies generell üblich?
Halder: Meine Tochter hat sich sehr gut entwickelt. Sie war in einer Regelschule und hat dort Aufklärungsunterricht gehabt. Ich kann mit ihr über Sexualität und Verhütung reden. Ich kenne jedoch auch Mädchen, die nicht in der Lage sind, solchen Gesprächen zu folgen oder selbst Informationen zu sammeln.
Viele Eltern sind sehr zögerlich mit der Aufklärung. Sie sprechen Sexualität nicht an, weil es ein schwieriges Thema ist und sie keinen Rat wissen. Sie hoffen, dass die Jugendlichen nicht selber darauf kommen und dass es solche Bedürfnisse nicht gibt. Häufig haben Menschen mit Down-Syndrom eher das Bedürfnis nach Schmusen oder Nähe. Dennoch darf man das sexuelle Verlangen nicht von vornherein ausschließen.
PZ: Kann der Wunsch nach einem eigenen Kind nicht auch entstehen, um damit als erwachsen und "normal" zu gelten?
Halder: Einige glauben, dass sie als Mutter mehr wahrgenommen und stärker akzeptiert werden. Wir versuchen, die Vorteile kinderloser Erwachsener aufzuzeigen, wie schicke Kleidung und mehr Zeit für Hobbys.
PZ: Oder auch die Sorgen und Belastungen, die mit einem Kind verbunden sein können?
Halder: Dazu gibt es sogar extra Puppen, die immerzu gefüttert und gewickelt werden müssen, damit sie nicht weinen. Die weinen wirklich erbärmlich! Angeblich werden sie in einigen Ländern mit sehr viel Erfolg für Therapiezwecke genutzt. Und meiner Tochter geht es zum Beispiel furchtbar auf die Nerven, wenn ein Kind in der Bahn weint. In solchen Situationen kann man dann zeigen, wie schwierig es ist, Kinder aufzuziehen. Ich denke, das Wichtigste ist die richtige Erziehung.
Keine allgemeinen Empfehlungen
Da die Behinderung und der gesundheitliche Zustand bei Frauen mit Down-Syndrom verschieden ausgeprägt sind, kann keine Standardempfehlung zur Verhütung gegeben werden – es ist stets eine individuelle Entscheidung. Mechanische und chemische Methoden wie Portiokappe und Scheidenpessar oder die vaginale Applikation von Tabletten, Zäpfchen, Hormonring, Cremes und Sprays sind jedoch oft ungeeignet (20). In der Regel wird neben der Pille bei Mädchen bis zu 20 Jahren zur längerfristigen Verhütung die Dreimonatsspritze, bei Frauen zwischen 20 und 40 Jahren auch ein Intrauterinpessar empfohlen. Implantate sind auf Grund der hohen Zahl von Dauerblutungen und erheblichen Kosten weniger zu empfehlen, erklärt Dr. Klaus König, hessischer Landesvorsitzender des Berufsverbands der Frauenärzte e. V., im Gespräch mit der PZ.
Das Deutsche Down-Syndrom Infocenter bietet Informationsmaterial wie Bücher, Broschüren, Videos, Poster oder Postkarten an. Das Hauptprojekt, die alle vier Monate erscheinende Fachzeitschrift "Leben mit Down-Syndrom", feiert jetzt sein 15-jähriges Bestehen. Zudem arbeitet das Infocenter, das ein Selbsthilfeverband ist, als Beratungsstelle für Betroffene und deren Eltern.
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Wichtig zu wissen: Man nimmt an, dass Frauen mit Down-Syndrom mit fast 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit ebenfalls Kinder mit einem veränderten Chromosomensatz bekommen. In einer Literaturrecherche fand man bei 26 Frauen zehn Kinder, die mit der gleichen Behinderung geboren wurden, und 18 Kinder mit normalem Chromosomensatz (21). Dies ist sicher wichtig für Überlegungen zur Verhütung, sollte und darf aber nicht ausschlaggebend für eine Sterilisation sein.
Literatur
Die Autorin
Conny Becker studierte Pharmazie an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Nach dem praktischen Jahr in einer öffentlichen Apotheke und der Approbation im Jahr 2001 arbeitete sie als freie Journalistin in Madrid. Von November 2002 bis Ende 2003 absolvierte sie ein Volontariat bei der Pharmazeutischen Zeitung und wird ab Februar als Redakteurin in der Hauptstadtredaktion der PZ arbeiten.
Anschrift der Verfasserin:
Conny Becker
Redaktion Pharmazeutische Zeitung
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