Pharmazeutische Zeitung online

Frauen werden anders krank

30.12.2002  00:00 Uhr

Gender Mainstreaming

Frauen werden anders krank

von Elisabeth Thesing-Bleck, Düsseldorf

Das Wortungetüm ”Gender mainstreaming” ist neu in der politischen Diskussion. Frei übersetzt bedeutet es, dass alle politischen und juristischen Entscheidungen auf ihre unterschiedlichen Auswirkungen auf Männer und Frauen zu überprüfen sind. Gender mainstreaming gilt auch in Gesundheitsfragen. Gibt es bei der Betrachtung von Gesundheit und Krankheit Unterschiede zwischen Männern und Frauen? Welche Bedeutung haben diese in der Apothekenpraxis?

Geschlechtsspezifische Unterschiede bei Arzneimittelwirkungen wurden in der Wissenschaft bis jetzt recht wenig betrachtet und sind derzeit wohl eher ein weißer Fleck. Dennoch sind Kenntnisse in diesem Bereich für Apothekerinnen und Apotheker in der täglichen Praxis sehr wichtig.

Ein Beispiel: Geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Häufigkeit und Ausprägung von Krankheiten, zum Beispiel bei koronaren Herzkrankheiten oder Herzinfarkt, sind keine neuen Erkenntnisse. Neu ist der Gedanke, dass Frauen bei einigen Erkrankungen eventuell einer anderen Therapie oder einer anderen Dosierung bedürfen als Männer. So wirken beispielsweise Androgene einer Thrombose entgegen. Diese Wirkung wird durch die gleichzeitige Einnahme von Acetylsalicylsäure (ASS) funktionell unterstützt. Bei Frauen wirkt ASS weniger ausgeprägt, weil Estrogen ein funktioneller Antagonist von ASS ist. Dies kann einerseits auf Unterschieden in der Verstoffwechselung von Medikamenten beruhen, andererseits können Hormone die Wirkung von Arzneimitteln beeinflussen.

 

”Im Interesse der Patientinnen und Patienten werden die Leistungen und Angebote des Gesundheitssystems alters- und geschlechtsspezifischen Erfordernissen angepasst. Wir wollen eine Neuorientierung im Gesundheitswesen und der medizinischen Forschung im Hinblick auf Frauen. [...] Die gesundheitliche Versorgung muss die gesamte Lebenssituation von Frauen berücksichtigen.”

Aus dem Koalitionspapier der Bundesregierung zur Gesundheitspolitik

 

Betrachtet man Gender mainstreaming in der Pharmazie, darf auch der Arbeitsplatz Apotheke nicht außer acht gelassen werden. In diesem typischen Frauenarbeitsbereich sind die Leitungsfunktionen derzeit noch häufig den Männern vorbehalten (Tabelle 1). Mehr als drei Viertel der Pharmaziestudierenden sind derzeit weiblich, Tendenz steigend! Im Jahr 2000 bestanden 2063 Studenten eine Abschlussprüfung, davon waren 1456 Frauen und 607 Männer. Etwa 1900 Approbationen wurden erteilt, 73 Prozent davon an Frauen. Im Vergleich dazu promovierten im gleichen Jahr in der Pharmazie nur 96 Frauen, aber 125 Männer.

 

Tabelle 1: Beschäftigungszahlen von Apothekern und Apothekerinnen Ende 2001 (Quelle: ABDA)

 insgesamtMänner (in Prozent)Frauen (in Prozent) Öffentliche Apotheke (Summe)
  • davon Leiter/innen
  • davon Angestellte Apotheker/innen
45.869
  • 21.837
  • 24.032
34,9
  • 57
  • 15
65,1
  • 43
  • 85
Krankenhausapotheke 1823 48 52 Industrie, Verwaltung, Wissenschaft 5507 51 49

 

Aussagekräftige Daten über geschlechtsspezifische Unterschiede in Pharmakodynamik und -kinetik fehlten bis vor wenigen Jahren. Nach den Erfahrungen mit Thalidomid (Contergan-Katastrophe) wurden Frauen für mehr als dreißig Jahre von klinischen Studien möglichst ausgeschlossen. Für die Pharmaindustrie war das Haftungsrisiko zu hoch, falls eine Frau während der Studiendauer schwanger geworden wäre und das getestete Arzneimittel Auswirkungen auf das ungeborene Leben gehabt hätte.

Die Situation änderte sich erst, als Anfang der neunziger Jahre Aids-Medikamente geprüft werden sollten. Frauen hatten nur die Möglichkeit, an wirksame, lebensverlängernde Therapien zu gelangen, die zu diesem Zeitpunkt noch alle in der Erprobung waren, wenn sie an klinischen Studien teilnahmen. Durch den Druck amerikanischer Frauenrechtlerinnen wurden auch aidskranke Frauen als Testpersonen akzeptiert. Das Wissen über geschlechtsspezifische Wirkungen von Arzneistoffen hat sich seitdem erheblich vergrößert. Viele Unterschiede sind bekannt geworden, deren Auswirkungen auf die Praxis in ihrer ganzen Tragweite noch nicht zu übersehen sind.

Analgetika von klein auf

Schon in der Kindheit und im Jugendalter unterscheidet sich der Arzneimittelgebrauch von Jungen und Mädchen. In den ersten zwölf Lebensjahren erhalten Mädchen insgesamt weniger Arzneimittel als Jungen. Nach Zahlen des Arzneiverordnungsreports 2001 wurden bei den unter 20-jährigen männlichen Versicherten mehr Kosten im Bereich der Arzneimittelverordnungen aufgewandt (1, 2).

Möglicherweise kommt hier ein geschlechtsspezifischer Aspekt zum Tragen, dass Mütter sich mehr für Söhne interessieren als für Töchter. Mütter nehmen bei Jungen Krankheitssymptome früher wahr und sind eher bereit, für ihre Knaben ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen (3).

In den ersten Lebensmonaten sind Jungen infektanfälliger als Mädchen und haben eine höhere Mortalität. Ab der Pubertät nehmen Mädchen mehr Arzneimittel ein als Jungen. Wie aus den Verordnungsdaten der GEK zu entnehmen ist, wurden 2001 insgesamt knapp 80.000 Packungen Schmerz- und Rheumamittel für Kinder verordnet, rund 75 Prozent davon waren Paracetamol-Präparate (3). 15 Prozent der 13-Jährigen und 22 Prozent der 18-Jährigen beiderlei Geschlechts verwenden mehrmals wöchentlich Schmerzmittel (Tabelle 2) (4). Mädchen geben einen deutlich höheren Gebrauch an, vor allem zwischen dem 12. und 14. Lebensjahr.

 

Tabelle 2: Verbrauch von Analgetika/Antirheumatika (Tagesdosen) in verschiedenen Altersgruppen

Altersgruppe (Jahre) Arzneiverbrauch in definierten Tagesdosen (DDD) 0 bis 4 5,5 5 bis 9 3,9 10 bis 14 4,4 15 bis 19 5,7

Quelle: Arzneiverordnungsreport 2002

 

Eine Begründung für den unterschiedlichen Schmerzmittelgebrauch: Mädchen orientieren sich stärker am Vorbild ihrer Mütter, selbst dann, wenn es um die Einnahme von Analgetika geht. Wie ihre Mütter nehmen sie diese in Zusammenhang mit der Regelblutung ein, darüber hinaus aber oft auch, um in Alltagssituationen mit den Jungen gleichzuziehen. Dabei spielen zunehmender Leistungsdruck und Erfolgszwang eine immer wichtigere Rolle.

Erschreckend ist der erhebliche Anteil an Kombinationsanalgetika, die vornehmlich in der Selbstmedikation erworben werden. In der täglichen Apothekenpraxis ist zu beachten, dass in dieser Lebensphase eine Konditionierung des Arzneimittelgebrauchs erfolgt. Zu den Beratungsaufgaben in der Apotheke gehört es daher, einen allzu großzügigen Arzneimittelgebrauch zu erkennen und die jungen Kunden aktiv darauf anzusprechen. Es sollte auf weitergehende Beratungsangebote hingewiesen werden, wenn Kinder zu viele Arzneimittel einnehmen und zur Lösung von Alltagsproblemen einsetzen. Das Kinder- und Jugendtelefon oder das Elterntelefon des Kinderschutzbundes kann als Hilfe angeboten werden (siehe Kasten).

 

Hilfe bei Alltagsproblemen Kinder- und Jugendtelefone sind montags bis freitags von 15 bis 19 Uhr besetzt und aus ganz Deutschland kostenlos unter der Rufnummer 0800/111 0 333 zu erreichen. www.kinderundjugendtelefon.de

Das Elterntelefon ist ein Projekt unter dem Dach des Deutschen Kinderschutzbundes. Sprechzeiten sind Montag und Mittwoch 9 Uhr bis 11 Uhr sowie Dienstag und Donnerstag 17 Uhr bis 19 Uhr unter der Rufnummer 0800/111 0 550. www.elterntelefon.de

 

Wenn in diesem Lebensabschnitt falsche Weichen gestellt werden, besteht die große Gefahr, dass junge Schmerzmittel-abhängige Patientinnen später verstärkt Suchtstoffe wie Alkohol, Nikotin und Drogen zur Bewältigung von Alltagssituationen benutzen (5).

Bei der Abgabe von Analgetika ist es somit unverzichtbar, "den Nutzen der Arzneimittel richtig einzuschätzen, so dass Kinder nicht durch ein Übermaß einer Arzneimitteltherapie darauf konditioniert werden, Arzneimittel als Lebenshilfe einzusetzen – dies sind sie nicht, und sie werden es auch in Zukunft nie sein können” (3). Die präventive Beratung des Apothekers als Arzneimittelexperte ist hier besonders gefordert.

Methylphenidat für Jungen

Wenn Kinder nicht zu bremsen sind und sich nicht konzentrieren können, geraten sie häufig in Schule und Freizeit in soziale Isolation. Der Druck auf die Eltern betroffener Kinder wächst. Als Folge wird von den Erziehern selbst, aber auch von außenstehenden Bezugspersonen der Wunsch nach medikamentösen Behandlungen geäußert (6). Die Diagnose einer hyperkinetischen Störung sollte möglichst ein Kinder- oder Jugendpsychologe stellen. Über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten müssen mehrere Leitsymptome ununterbrochen und situationsunabhängig vorliegen (siehe Kasten).

 

Leitsymptome einer hyperkinetischen Störung (7)Hyperaktivität
  • häufiges Zappeln mit Händen und Füßen
  • unangemessener und nicht von außen beeinflussbarer Bewegungsdrang
  • Schwierigkeiten, sich ruhig zu beschäftigen

Unaufmerksamkeit

  • leicht ablenkbar
  • viele Flüchtigkeitsfehler
  • springende Tätigkeiten, kein Beenden

Impulskontrollstörungen

  • platzt mit Antworten heraus, ohne das Ende der Frage abzuwarten
  • unterbricht andere
  • redet zu viel und ohne Beeinflussung durch außen.

 

Methylphenidat wird bei Kindern und Jugendlichen zur Behandlung des Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndroms (ADHS) eingesetzt. Die Mengen, die 1999 verordnet wurden, reichten zur Behandlung von rund 41.800 Kindern. Im Jahr 2000 stieg diese Zahl auf etwa 67.700 Dauertherapien an, Tendenz steigend. Betrachtet man einen längeren Zeitraum, dann erhöhten sich die ”definierten Tagesdosen” (DDD) seit 1990 von 0,3 auf 13,5 Millionen im Jahr 2001, also um mehr als das 40-fache. Nach Angaben aus dem Bundesgesundheitsministerium sind 2 bis 10 Prozent aller Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen vom ADHS betroffen (8).

In Deutschland besteht ein erheblicher geschlechtsspezifischer Unterschied in der Verordnung dieser Substanz. Nach Daten der Gmünder Ersatzkasse (GEK) sind etwa 86 Prozent der mit Ritalin® oder Medikinet® behandelten Kinder männlich. Kinderärzte beobachten ADHS etwa bei 3 bis 4 Prozent der Grundschulkinder und bei 2 Prozent der Jugendlichen. Dabei sind Jungen drei- bis neunmal häufiger betroffen als Mädchen (9).

Eine alleinige Therapie des ADHS mit Medikamenten ist zu hinterfragen. Behandlungskonzepte sollten verhaltenstherapeutische Maßnahmen immer mit berücksichtigen. Wenn Arzneimittel zu großzügig für Kinder verordnet und bei allen Problemen des Alltags als Hilfe angeboten werden, "kann es nicht erstaunen, dass auch im späteren Leben chemisch-basierte Bewältigungsmechanismen wie Alkohol, Nikotin oder auch so genannte illegale Drogen eine Rolle spielen" (4, 10).

Frauen nehmen mehr Arzneimittel

Frauen berichten meist bereitwillig über Gesundheitsstörungen. Sie nehmen medizinische Vorsorgeleistungen häufiger in Anspruch als Männer und verbrauchen deutlich mehr Arzneimittel. Das gilt für verordnete Medikamente und im OTC-Bereich. Bei Arzneimitteln mit hohem Abhängigkeitspotenzial fällt dieser Mehrverbrauch besonders auf. So besteht beispielsweise bei Tranquilizern ein stärkeres Abhängigkeitspotenzial bei Frauen (Tabelle 3) (11).

 

Tabelle 3: Abhängigkeitspotenzial von Tranquilizern

AltersgruppeFrauen (in Prozent)Männer (in Prozent) 40 bis 49 11,2 10,0 50 bis 59 19,0 16,7 60 bis 69 27,0 20,3 >70 28,9 22,0

Quelle: (11), Seite 30

 

Medikamente, die Schmerzen, Unruhe und Ängste beeinflussen, gelten als frauenspezifische Suchtmittel, die zudem häufig im Selbstmedikationsbereich erworben werden und somit eine spezielle Beratung erfordern.

Frauen reagieren traditionell eher unauffällig auf Konflikte. Das macht sie im Gegenzug anfälliger für den Konsum psychotroper Medikamente. Depressive Verstimmungen, Nervosität und Schlafstörungen sind oft Anzeichen einer psychischen Erschöpfung. Schmerz-, Beruhigungs- und Schlafmittel können zwar in akuten Lebenskrisen helfen, aber keine Dauerlösung bei Mehrfachbelastung durch Beruf, Familie und Kinder sein. Mit pharmazeutischer Betreuung und durch den Einsatz von Kundenkarten kann der Apotheker einen Überblick über die erworbenen Mittel erhalten, Überversorgungen aufdecken und Fehlentwicklungen rechtzeitig ansprechen.

Durch die unterschiedlichen geschlechtsspezifischen Aufgaben in Beruf und Familie haben Frauen deutlich weniger Arbeitsunfälle als Männer. Berufskrankheiten und Frühverrentung sind in absoluten Zahlen deutlich geringer; berechnet man sie aber auf die Erwerbstätigenzahlen, sind sie nach Statistiken der BfA bei Frauen höher (Tabelle 4). Psychische Erkrankungen spielen für die Frühverrentung eine wichtige Rolle.

 

Tabelle 4: Gründe für Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten bei Erwerbstätigen 2001

KapitelDiagnosetextSumme BU/EU-RentenSummeMännerFrauen   Summe 68.577 25.828 42.749 II Neubildungen 10.348 3591 6757 IV Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten 1194 563 631 V Psychische und Verhaltensstörungen 23.463 7480 15.983 VI Krankheiten des Nervensystems 4884 1818 3066 IX Krankheiten des Kreislaufsystems 6357 3815 2542 X Krankheiten des Atmungssystems 1594 703 891 XI Krankheiten des Verdauungssystems 1391 519 872 XIII Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes 13.493 4767 8726 XIV Krankheiten des Urogenitalsystems 599 257 342   sonstige Kapitel 5254 2315 2939

BU: Berufsunfähigkeit; EU: Erwerbsunfähigkeit; Quelle: BfA

 

Illegale Drogen und Alkohol werden in Deutschland eher von Männern missbraucht. Männer sterben häufiger als Frauen an Lungenkrebs, Herzinfarkt oder durch tödliche Verkehrsunfälle.

Frauen haben bis zum Beginn ihres Klimakteriums nahezu kein Herzinfarktrisiko. In der Postmenopause steigt ihr persönliches Risiko allerdings erheblich an und übersteigt das gleichaltriger Männer deutlich, besonders dann, wenn weitere Risikofaktoren dazukommen. Das sind in erster Linie Übergewicht, Stoffwechselstörungen und mangelnde Bewegung. Dicke Frauen, die sich nicht bewegen, haben im vorgerückten Lebensalter ein deutlich höheres Herzinfarktrisiko als altersgleiche Männer.

Relevante Unterschiede bestehen in Zahl und Kosten für Arzneimitteltherapien. Frauen erhalten teilweise doppelt so viele Verordnungen wie Männer, im Schnitt sind es fast 40 Prozent mehr. Männer erhalten in der Regel jedoch teurere Therapien. Die Kosten für eine DDD sind für Männer in allen Altersgruppen höher als für Frauen, im Einzelfall bis zu 75 Prozent. Oder anders ausgedrückt: Die Arzneimittelkosten liegen für Frauen im Mittel um 17,3 Prozent je Verordnung niedriger als bei Männern. Im Schnitt beträgt der Unterschied bei Generika rund 10 Prozent, bei Originalpräparaten 20 Prozent oder mehr (12).

Unterschiedliche Pharmakokinetik

Wie durch Experimente am isolierten Meerschweinchenherzen gezeigt werden kann, reagieren Herzen von männlichen und weiblichen Tieren unterschiedlich auf Arzneimittelgaben. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang mit der Höhe des Estrogenblutspiegels. Die myokardiale Reizleitung scheint auch beim Menschen hoch empfindlich auf geringste hormonelle Veränderungen anzusprechen; bei Frauen konnten sogar zyklusabhängige Schwankungen gezeigt werden.

Für die Apothekenpraxis ist dies bedeutsam. Viele junge Frauen nehmen orale Kontrazeptiva, viele ältere Frauen Estrogenpräparate zur Behandlung klimakterischer Beschwerden ein. Viele Arzneistoffe werden über das Cytochrom P450-Isoenzym 2D6 abgebaut; dieser Schritt im Arzneimittelmetabolismus unterliegt möglicherweise hormonellen Einflüssen.

Ein Beispiel liefert Acetylsalicylsäure. Frauen, die keine oralen Kontrazeptiva einnehmen, haben eine um etwa fünfzig Prozent längere Halbwertszeit für ASS als Männer. Dieser Unterschied beruht vor allem auf der Fähigkeit der Männer zur Glycin-Konjugation. Offenbar wird diese Metabolisierungsreaktion bei Frauen durch orale Kontrazeptiva induziert. Frauen, die die Pille einnehmen, haben ähnliche Halbwertszeiten von ASS wie Männer.

Die Einnahme oraler Kontrazeptiva kann auch den gegenteiligen Effekt auslösen. Das gilt dann, wenn der zusätzlich zur Pille eingenommene Arzneistoff überwiegend über das Cytochrom P450-Isoenzym 2C19 abgebaut wird. Frauen werden scheinbar zu ”langsamen Metabolisierern” und scheiden den Arzneistoff deutlich verzögert aus. Ein Beispiel ist Omeprazol. Substanzen, die jedoch über das Isoenzym 3A4 abgebaut werden, werden von Frauen ohne orale Kontrazeptiva häufig schneller metabolisiert. Nifedipin und Methylprednisolon sind klassische Beispiele hierfür.

Für die tägliche Praxis gilt außerdem, dass Nebenwirkungen von Arzneimitteln bei Frauen in der Zyklusmitte häufiger sind. Auch das hängt möglicherweise mit der Höhe des Estrogenblutspiegels zusammen. Weibliches Geschlecht und Polypharmakotherapie sind Risikofaktoren für unerwünschte Arzneimittelwirkungen.

Über spezielle Arzneimittelrisiken postmenopausaler Patientinnen, mit oder ohne Estrogensubstitution, ist viel zu wenig bekannt; ebenso darüber, in welchem Ausmaß der Arzneistoffmetabolismus oder Interaktionen mit Estrogenen eine Rolle spielen. Auf diesem Gebiet bleibt noch viel zu tun: Geschlechtsspezifische Aspekte müssen stärker als bisher in die Forschung und die Pharmazeutische Betreuung einfließen. Gender mainstreaming muss künftig auch bei der Entwicklung von Leitlinien für die Arzneimitteltherapie stärker beachtet werden.

Unterschiede im Alter

Physiologische Veränderungen beim älteren Menschen können die Pharmakokinetik vieler Arzneistoffe beeinflussen. Besonders eine verminderte Funktion von Herz, Niere und Leber, aber auch das veränderte Verteilungsvolumen erfordern oft eine Anpassung der Arzneimitteldosis.

Interaktionen sind bei alten Menschen häufig Auslöser unerwünschter Arzneimittelwirkungen. Alte Patientinnen und Patienten sind in der Regel multimorbid. Durch die Vielzahl der verordneten Medikamente sind arzneimittelbezogene Probleme, unerwünschte Arzneimittelwirkungen oder Interaktionen wahrscheinlich. Hier gilt es zu bedenken, dass in Deutschland 15 bis 20 Prozent aller Bürger älter als sechzig Jahre sind, aber 50 Prozent aller Arzneimittel einnehmen. Im Apothekenalltag muss daher dem Erkennen von Neben- und Wechselwirkungen deutlich mehr Bedeutung beigemessen werden.

Ab dem 65. Lebensjahr sind die Nettoarzneimittelausgaben für Männer erheblich höher als für Frauen. Bei den 65- bis 70-jährigen Männern betrugen sie im Jahr 2001 rund 1720 DM, für Frauen dagegen nur circa 1470 DM. Noch klarer werden die Zahlen bei zehn Jahre älteren Menschen: rund 1910 DM im Vergleich zu etwa 1280 DM (12). Eine medizinisch relevante Erklärung für diese Differenzen fällt schwer, denn sie sind nicht allein auf unterschiedlich hohe geschlechtsspezifische Dosierungen zurückzuführen.

Dennoch belegen diese Strukturdaten, dass subjektive Wahrnehmung und nicht-medizinische Faktoren ärztliches Handeln viel stärker beeinflussen als allgemein angenommen. Evidenzbasierte Leitlinien können hier für eine Verbesserung oder zumindest Gleichbehandlung von Frauen in der Arzneitherapie sorgen.

”Frauenkrankheit” Osteoporose

In einer Telefonumfrage des Landesinstitutes für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (LÖGD) in Bielefeld im Auftrag des Gesundheitsamtes Münster 1998 gaben die befragten Frauen Rückenschmerzen als häufigste Gesundheitsstörung an (11). Zahlreiche ältere Menschen leiden unter chronischen oder rezidivierenden Schmerzen wie Osteoporose-, Gelenk- oder Muskelschmerzen. Der menopausale Abfall des Estrogenspiegels gilt als Ursache dafür, dass achtzig Prozent der von Osteoporose betroffenen Menschen weiblich sind. Unbehandelt verläuft die Erkrankung progredient; die Schmerzen verstärken sich im Lauf der Zeit.

Frauen haben ein höheres Knochenbruchrisiko als Männer, von Oberschenkelhalsfrakturen erholen sie sich nicht so gut. Dies zeigen Daten, die im Rahmen einer bundesweiten Forschungs- und Informationstour des Kuratoriums für Knochengesundheit vorgestellt wurden. Demnach leiden rund fünf Millionen Menschen in Deutschland an Osteoporose. 130.000 Oberschenkelhalsfrakturen treten jährlich auf; an deren Folgen sterben etwa 30.000 Osteoporosepatienten jedes Jahr und weitere 20 Prozent werden versorgungspflichtig invalide. Nur 60 Prozent der Patienten mit Hüftfrakturen werden geheilt aus dem Krankenhaus nach Hause entlassen.

Bekanntlich verlängert sich mit zunehmendem Alter die Halbwertszeit von Benzodiazepinen. Bei nicht angepasster Dosierung kann es bei nächtlichem oder morgendlichem Aufstehen zu einer medikamentenverursachten Benommenheit kommen, die das Sturzrisiko deutlich erhöht. Auf Grund ihrer Osteoporose-geschwächten Oberschenkelhalsknochen tragen Frauen auch hier ein höheres Risiko als Männer.

Manchmal macht's der Name

Welchen Einfluss hat der Medikamentenname auf die Anwendung bei Männern und Frauen? Aus den Fachinformationen für den ACE-Hemmer Moexipril mit dem Handelsnamen Fempress® lässt sich nicht entnehmen, dass der Inhaltsstoff bei Männern und Frauen unterschiedliche Wirkungen hat. Dennoch wird das Mittel bevorzugt für Frauen verordnet.

Die Analyse der Daten der IKK-Versicherten des Jahres 2001 zeigt, dass 85 Prozent der Verschreibungen bei 60 bis 70-Jährigen für Frauen ausgestellt wurden (12). Dies ist ein Beispiel dafür, dass auch der Name eines Medikaments einen geschlechtsspezifischen Einfluss haben kann.

„Sprechen wir hier über eine Arzneimitteltherapie für Männer oder für Frauen?“ Solche Fragen werden in der Apotheke künftig häufiger gestellt werden. Apothekerinnen und Apotheker müssen sich darauf einstellen, auch hierzu kompetente und zuverlässige Antworten geben zu können.

 

Literatur

  1. Nink, K., Schröder, H., Arzneimittelverordnungen nach Alter und Geschlecht. In: Schwabe, U., Paffrath, D. (Hrsg.), Arzneiverordnungsreport 2002, Springer Berlin, S. 894 – 906.
  2. Glaeske, G., Ein Indianer kennt keinen Schmerz – Arzneimittelkonsum bei Kindern und Jugendlichen. Mabuse 22, Nr. 1/2 (1999) 28.
  3. Glaeske, G., Vortrag im Rahmen einer Fortbildungsveranstaltung der Apothekerkammer Nordrhein am 1. September 2002 in Aachen zum Thema: Sind Frauen anders krank als Männer? Geschlechtsspezifische Unterschiede der Arzneitherapie in Abhängigkeit vom Lebensalter.
  4. Glaeske, G., Arzneimittelkonsum bei Kindern und Jugendlichen: Hinweise auf den Gebrauch und Missbrauch, auch unter Aspekten der sozialen Schicht. In: Altgeld, T., Hofrichter, P. (Hrsg.), Reiches Land – kranke Kinder? Gesundheitliche Folgen von Armut bei Kindern und Jugendlichen. Mabuse Frankfurt 2000, S. 65 - 73.
  5. Bührs, R., Medikamente im Kindes- und Jugendalter – Wegbereiter zur Sucht? Vortrag anlässlich der V. Niedersächsischen Suchtkonferenz, Hannover 1993; zit. nach (4).
  6. Voß, R., Wirtz, R., Keine Pillen für den Zappelphilipp. rororo Reinbek, 2000. Vorwort zur erweiterten Neuauflage; online veröffentlicht in: http://www.uni-koblenz.de/~didaktik/voss/Zappelphilipp.htm.
  7. Meissner, T., Zappelphilipp und Co: Nur frühe Therapie schützt vor Ausgrenzung. ÄW 15 (2001) Nr. 16.
  8. Position der Drogenbeauftragten der Bundesregierung und des Bundesministeriums für Gesundheit zur Anwendung von Methylphenidat bei der Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) vom 29. April 2002. www.bmgesundheit.de
  9. Blanz, B., Hyperkinetische Störung, ADHD, Hyperaktivität. Kinderärztliche Praxis 72 Sonderheft (2001) 5 – 8.
  10. Hurrelmann, K., Medikamentenkonsum bei Kindern und Jugendlichen - Sind Arzneimittel die Einstiegsdroge für Suchtkarrieren? Bielefeld. http://www.archido.de/volltext-publikationen/hurrelmann_medikamentenkonsum.htm
  11. Gesundheitsberichtserstattung des Gesundheitsamtes der Stadt Münster. Band 9: Frauen und Medikamente, Gebrauch oder Missbrauch? Münster 1999.
  12. Kiewel, A., Thürmann, P. A., Geschlechterspezifischer Arzneimittelgebrauch – Ergebnisse einer Verordnungsanalyse der IKK-Versicherten. Die Krankenversicherung 54 (2002) 177 – 181.

 

Die Autorin

Elisabeth Thesing-Bleck arbeitete nach ihrem Pharmaziestudium in Kiel als Offizinapothekerin in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Zusätzlich zu ihrer beruflichen Weiterbildung Gesundheitsberatung und Gesundheitserziehung qualifizierte sie sich zur ehrenamtlichen Telefonberaterin für das Kinder- und Jungendtelefon des Deutschen Kinderschutzbundes und führte für die “Nummer gegen Kummer” Beratungsgespräche mit Kindern in Not. Auf der Weltausstellung EXPO 2000 in Hannover arbeitete sie als Teamleader in der PharmaXie. Zusätzlich zu ihrer Offizintätigkeit in einer öffentlichen Apotheke referiert sie derzeit in der Kollegenfortbildung und engagiert sich als Vizepräsidentin der Apothekerkammer Nordrhein.

 

Anschrift der Verfasserin:
Elisabeth Thesing-Bleck
Vizepräsidentin der Apothekerkammer Nordrhein
Poststraße 4
40213 Düsseldorf
e.thesing-bleck@apothekerkammer-nr.de
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