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Von der Volksmedizin zum gezielten Drug design

31.12.2001  00:00 Uhr

ARZNEISTOFFENTWICKLUNG

Von der Volksmedizin zum gezielten Drug design

von Peter Nuhn, Halle

In früheren Jahrhunderten galten Infektionserkrankungen als Geißel der Menschheit. Arzneimittel, die heutigen Ansprüchen an Wirksamkeit und Sicherheit entsprechen, fehlten völlig. Erst seit dem letzten Jahrhundert hat sich die Lebensqualität unter anderem durch ein breit gefächertes Angebot an Arzneimitteln bei hohen Anforderungen an die Sicherheit wesentlich verbessert. Zeitgleich hat sich die Wirkstofffindung von der empirischen Volksmedizin zum modernen Drug Design auf molekularer Ebene verlagert. Die Ergebnisse der Genomforschung werden die Zahl der potenziellen Targetstrukturen enorm ansteigen lassen, die Pharmakogenomik wird Effizienz und Sicherheit von Arzneistoffen erhöhen. Dies bedeutet einen Paradigmenwechsel in der Arzneistoffentwicklung, aber die erhöhten Anforderungen an die Grundlagenforschung werden sich im Kostenanstieg widerspiegeln.

Der auf die Offenbarung des Johannes (6. Kapitel) zurück-gehende Holzschnittzyklus von Albrecht Dürer zeigt im Blatt "Die Apokalyptischen Reiter" symbolisch die vier Grundübel der Menschen: den Tod, im allgemeinen symbolisiert durch eine Sense, bei Dürer durch eine Gabel, den Krieg (Schwert), die Hungersnot (Waage mit leeren Waagschalen) und die Pest, versinnbildlicht mit Pfeil und Bogen. Diese Darstellung geht auf die Antike zurück, wo Apollon, der Gott der heißen Jahreszeit, die Pest sendet und mit seinen Pfeilen die Menschen dahinrafft. Der Pfeil galt daher seit der Antike als Symbol für Seuche. Unter den Seuchen war es insbesondere die Pest, die im Mittelalter als Geisel der Menschen auftrat. Der Mitte des 14. Jahrhunderts wütenden Pestepidemie fielen etwa 25 Millionen Menschen in Mitteleuropa und Nordafrika zum Opfer. In Deutschland starb jeder dritte Einwohner. Ganze Landstriche wurde entvölkert, unzählige Dörfer aufgegeben. Die Londoner Pestepidemie von 1665 ist von Daniel Defoe sehr eindrucksvoll beschrieben worden (Die Pest zu London 1722). Neben der Pest waren vor allem Darmerkrankungen, allen voran die Cholera, und Infektionen durch Mykobakterien (Tuberkulose, Lepra) Haupttodesursachen (1).

Im 19. und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielte die Tuberkulose (Schwindsucht) etwa die Rolle, die heute Krebserkrankungen einnehmen. In Wien war zwischen 1806 und 1808 fast jeder vierte Gestorbene ein Lungensüchtiger. Rudolf Virchow berichtet, dass 15 bis 18 Prozent aller Todesfälle auf Tuberkulose zurückgehen; in der Altersklasse von zwanzig bis sechzig Jahren stand die Tuberkulose sogar an der Spitze der Todesursachen.

Infektionskrankheiten wie Pocken, Typhus, Keuchhusten, Cholera, Masern, Scharlach, Ruhr oder Schwindsucht, aber auch Rachitis und Fehlernährung verursachten die hohe Kindersterblichkeit. Im 17. Jahrhundert starben 40 Prozent der Kinder in den ersten zwei Jahren. Die gefährlichste Zeit war die zwischen Geburt und Ende des ersten Monats. Im 18. Jahrhundert überlebten fast achtzig Prozent der im Hospiz für Findelkinder aufgenommenen Kinder das erste Lebensjahr nicht. Im Wien des Jahres 1788 hatten 43 Prozent der Gestorbenen das erste Lebensjahr nicht überschritten. Noch im 19. Jahrhundert starb etwa die Hälfte der Lebendgeborenen im Kleinkindalter. Auch die Müttersterblichkeit war sehr hoch. Im Preußen des 19. Jahrhunderts starben acht bis neun von 1000 entbundenen Frauen, nach 1875 ging die Zahl auf vier bis fünf zurück. Noch drastischer war die Situation in den Gebäranstalten: In Wien starben 12 von 1000 Gebärenden, vor allem an Kindbettfieber; durch das Wirken von Ignaz Philipp Semmelweis konnte die Todesrate 1864 auf 0,6 gesenkt werden.

Entwicklung der modernen Arzneistoffforschung

Warum dieses Horrorszenarium? Diese wenigen Beispiele zeigen deutlich, wie gravierend die Lebensqualität und -zeit früherer Generationen durch tödlich verlaufende Krankheiten eingeschränkt war. Zumindest in den Industrieländern sind Lebenserwartung und Lebensqualität durch gesicherte Ernährung, hygienische Fortschritte und nicht zuletzt auch durch Arzneimittel deutlich verbessert worden. Das sollte man in der Öffentlichkeit immer wieder deutlich machen.

Von Arzneimitteln, die annähernd unseren heutigen Anforderungen an Wirksamkeit und Sicherheit entsprechen, kann man erst ab Ende des 19. Jahrhunderts sprechen. Die Entwicklung beginnt eigentlich erst im 19. Jahrhundert mit der Isolierung des Morphins (1806), der Entdeckung der Inhalationsnarkotika (Chloroform, Ether), der ersten Desinfektionsmittel (Phenol) und Analgetika wie Acetanilid/Phenacetin und Acetylsalicylsäure. Die wesentlichen Erfolge kamen im 20. Jahrhundert, zunächst vor allem durch die Entwicklung von Antiinfektiva (Tabelle 1).

 

Tabelle1: Ersteinführung von Arzneistoffen

ZeitraumArzneistoffeEinführung vor 1900 Nitroglycerol
Phenacetin
Aminophenazon
Acetylsalicylsäure 1849
1887
1896
1899 bis 1910 Phenobarbital, Barbital
Procain 1903
1904 bis 1940 Insulin
Prontosil und Chemotherapeutika gegen bakterielle Infektionen
Sulfanilamid, Sulfonamide 1936
1935
1937 bis 1950 Methadon
H1-Antihistaminika
Streptomycin (Tuberkulostatika)
Benzylpenicillin
Chloroquin (Antimalariamittel) 1942
1940 bis 1946
1944
1945
1946 bis 1960 Oxytetracyclin
Isoniazid (INH); Meprobamat (Tranquillizer); Chlorpromazin (Neuroleptika)
Nystatin (Antimykotika)
Carbutamid (orale Antidiabetika)
Griseofulvin; Hydrochlorothiazid (Saluretika); Imipramin (Antidepressiva) 1950
1952
1954
1955
1958 bis 1970 partialsynthetische Penicilline; Chlordiazepoxid (Benzodiazepine)
Nalidixinsäure (Gyrasehemmer)
Indomethacin (COX-Hemmer); Clofibrat (Lipidsenker)
Cephalotin (parenterale Cephalosporine) 1960
1962
1963
1964 bis 1980 Miconazol (Azol-Antimykotika)
Nifedipin (Calciumantagonisten)
Cimetidin (H2-Antihistaminika)
Cyclosporin A (Immunsuppressiva) 1971
1975
1977
1978 bis 1990 Captopril (ACE-Hemmer)
Aciclovir (Virustatika gegen Herpes)
rekombinantes Humaninsulin 
Enalapril
Lovastatin (Cholesterolsynthese-Hemmer)
Omeprazol (Protonenpumpen-Hemmer) 1980
1981
1982
1984
1987
1989 bis 2000 Didanosin, Zidovudin (Hemmstoffe der Reversen Transkriptase von HIV)
Losartan (Angiotensin II-Antagonisten)
Saquinavir (HIV-1-Protease-Hemmer)
Zanamivir (Neuraminidase-Inhibitoren gegen Influenza); Fomivirsen (Antisense-Arzneimittel gegen Cytomegalievirus-Retinitis); Rosiglitazon (PPAR-Agonist, Insulinsensitizer); Eptifibatid (GPIIb/IIIa-Antagonist) 1992
1994
1995
1999

 

Auch heute geht etwa ein Drittel aller Todesfälle weltweit auf Infektionserkrankungen zurück. Trotz aller Erfolge ist der Kampf gegen Seuchen nicht gewonnen. Das hängt einmal damit zusammen, dass der Kampf gegen Epidemien und Infektionserkrankungen nicht nur ein medizinisches, sondern mehr ein soziales, gesellschaftliches Problem ist. Die entsprechenden Arzneimittel müssen auch für die Entwicklungsländer bezahlbar sein. Gerade die jüngsten Diskussionen um Preis und Patentschutz der Virustatika gegen HIV-Infektionen zeigten diese Brisanz. Der Kampf gegen die Keime und die Entwicklung neuer Antiinfektiva werden aber auch deshalb immer weitergehen müssen, weil bekannte Infektionserreger Resistenzen ausbilden und neue auftreten. Das hängt mit der biologischen Evolution zusammen, mit der Anpassung an die Umwelt, zu der auch die Auseinandersetzung mit schädigenden Agenzien gehört. Die Genomforschung eröffnet größere Chancen, Gene in Viren und Bakterien zu erkennen, für die es im Menschen kein Analogon gibt und die damit die Entwicklung neuer Chemotherapeutika erlauben.

Die Breite des Arzneimittelangebots darf nicht darüber hinweg täuschen, dass es große therapeutische Lücken gibt und die meisten Erkrankungen nicht kausal therapiert werden können. Zu den Lücken gehören zum Beispiel Degenerationserscheinungen des ZNS, viele Tumorerkrankungen, chronisch-entzündliche Erkrankungen sowie relativ selten vorkommende Krankheiten. Als "Orphan disease" gelten in den USA definitionsgemäß Erkrankungen, die bei weniger als 200.000 Amerikanern auftreten; in der EU zählen dazu Krankheiten, die bei weniger als fünf von 10.000 Personen auftreten. Auf Grund der begrenzten Anzahl potenzieller Patienten rechnet sich die Entwicklung spezifisch wirkender Arzneistoffe für Orphan diseases ökonomisch gar nicht; Orphan drugs werden daher vom Gesetzgeber bevorzugt behandelt (2, 3). In den letzten Jahren kamen beispielsweise Anagrelid zur Behandlung der essenziellen Thrombozytämie, Cladribin gegen Haarzell-Leukämie, Alglucerase für Morbus Gaucher-Patienten oder Sacrosidase für Patienten mit Sucrase-Isomaltase-Defizit auf den Markt.

Auch bei der Arzneimittelsicherheit hat es gewaltige Fortschritte gegeben. Was wurde früher nicht alles als Arzneimittel eingeführt, was unter heutigen Gesichtspunkten als unverantwortlich zu bezeichnen ist. Hier seien nur Acetanilid, Heroin oder LSD genannt. Der Mensch diente als Versuchskaninchen. Die Zäsur markierte die Contergan-Affäre. Standen bis dahin die Wirkungen im Mittelpunkt, waren es danach die Nebenwirkungen. Dabei sollte immer wieder klar gesagt werden, dass eine absolute Sicherheit nicht zu erreichen ist. Deshalb spricht das deutsche Arzneimittelgesetz auch von unbedenklich und nicht von sicher. Eine absolute Sicherheit ist nur von Präparaten zu erwarten, die gar keine Wirkung entfalten, von denen es leider noch genügend gibt. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass zahlreiche neuartige Arzneistoffe durch die Beobachtung von Nebenwirkungen länger bekannter Wirkstoffe entwickelt werden konnten (Tabelle 2).

 

Tabelle 2: Neuartige Arzneistoffe durch Beobachtung von Nebenwirkungen

Ursprüngliche Arzneistoffe mit IndikationNebenwirkungWeiterentwickelte Arzneistoffe Antibakterielle Sulfonamide Blutzuckersenkung

Diurese Sulfonylharnstoffe als orale Antidiabetika

Acetazolamid, Hydrochlorothiazid als Diuretika Isoniazid (Iproniazid) als Tuberkulostatikum zentrale Erregung MAO-Hemmer als Antidepressiva, Parkinsonmittel Imipramin als Antidepressivum anticholinerge Wirkung Pirenzepin als Ulkusmittel Glutethimid, (Aminoglutethimid) als Hypnotikum Störungen der Hormonregulation Aminogluthetimid als Aromatase-Hemmer Amrinon, (Sildenafil) als Inotropikum Erektionen Sildenafil, Vardenafil bei Erektionsstörungen

 

Molekularisierung als Grundtendenz

Die Entwicklung der Arzneistoffforschung ist in den letzten Jahrzehnten durch eine fortschreitende Molekularisierung gekennzeichnet; dies gilt für die molekulare Biologie, Pharmakologie und Medizin. Dabei hat sich herausgestellt, dass es sich bei den Targetstrukturen fast ausschließlich um Proteine handelt, die als Enzyme, Rezeptoren, Kanäle oder Transkriptionsfaktoren (4) wirken. Während Kanäle und Neurotransmitter-Rezeptoren membranständige Proteine sind, sind die Transkriptionsfaktoren, die die Genexpression regulieren, in der Zelle lokalisiert (Tabelle 3).

 

Tabelle 3: Arzneistoffe, die an nuklearen Rezeptoren (Transkriptionsfaktoren) angreifen

Nuklearer RezeptorArzneistoffTherapeutischer Einsatz Estrogen-Rezeptor EstrogenexxAntiestrogene, SERMs Menopausen-Symptome, "Pille" Brustkrebs, Osteoporose Thyroid-Rezeptor Schilddrüsenhormone Erkrankungen der Schilddrüse, Arrhythmien Androgen-Rezeptor Androgene, Anabolika

Antiandrogene Substitutionstherapie

Prostatakrebs Progesteron-Rezeptor Progestine

Antigestagene Menopausen-Symptome, Endometriose

Schwangerschaftsabbruch Glucocorticoid-Rezeptor Glucocorticoide Antiphlogistika, Immunsuppressiva Vitamin-D-Rezeptor Calcitriol und Derivate Osteoporose, Psoriasis Retinoid-Rezeptor Retinoide Psoriasis, Leukämie PPAR-a Fibrate Lipidsenker PPAR-g Thiazolidindione Antidiabetika

SERM: selektive Estrogen-Rezeptor-Modulatoren
PPAR: Peroxisomen-Proliferator-aktivierender Rezeptor

 

Zahlreiche Arzneistoffgruppen werden heute nach ihren biochemischen Angriffspunkten, also nach ihrer Targetstruktur bezeichnet: ACE-Hemmer, HMG-CoA-Reduktase-Hemmer, COX-Hemmer, Calciumantagonisten, Protonenpumpen-Hemmer, H2-Antagonisten, Angiotensinrezeptor-Antagonisten und andere. Dabei gelang es in vielen Fällen, durch gezielte Auswahl der Targetstrukturen, zum Beispiel Virus-kodierte Enzyme für die Entwicklung neuartiger Virustatika, oder durch Differenzierung der Targetstrukturen nach Lokalisation und biochemischem Wirkungsmechanismus (Isoenzyme, Rezeptor-Subtypen) die Selektivität der Wirkung wesentlich zu erhöhen.

So dienen die viralen Enzyme Reverse Transkriptase und Protease bereits als Zielsysteme in der Therapie der HIV-Infektion. An Integrase-Hemmstoffen wird geforscht. Als virus-spezifische Targets bieten sich ferner die DNA-abhängige DNA-Polymerase von Herpes-simplex-Viren und die Neuraminidase (Sialidase) von Influenzaviren an.

Ein aktuelles Beispiel für die Differenzierung von Isoenzymen anhand von mehr oder weniger selektiv angreifenden Wirkstoffen bieten die Phosphodiesterasen (PDE) (5). PDE katalysieren die hydrolytische Spaltung der 3´,5´-Cyclonucleotide (cAMP, cGMP), die als wichtige Regulationsstoffe in der Zelle fungieren. Die Entwicklung von PDE-Hemmern setzte in den siebziger Jahren ein mit dem Ziel, Inotropika zu entwickeln, die die herzwirksamen Glykoside ersetzen sollten. Aus diesen Bemühungen resultierten die Arzneistoffe Amrinon und Milrinon, die zwar noch zugelassen sind, aber den hohen Erwartungen nicht entsprachen. Aus der Fülle der weltweit synthetisierten PDE-Hemmer hat sich dann auf Grund beobachteter Nebenwirkungen der Erektionshelfer Sildenafil herauskristallisiert. Die Stimulierung der Erektion konnte auf die Hemmung eines PDE-Isoenzyms (PDE-5) zurückgeführt werden. Inzwischen wurden die PDE weiter differenziert. Gegenwärtig unterscheidet man mindestens zehn verschiedene Subfamilien der Säugetier-PDE. Neben weiteren PDE-5-Hemmern (Vardenafil in Phase III) sind vor allem Hemmstoffe der PDE-4 interessant. Auf Grund der Lokalisation dieses Isoenzyms werden die Stoffe als Antiallergika und Antiasthmatika entwickelt. Inzwischen sind bereits wieder zwei PDE-4-Isoformen bekannt.

Moderner Drug Discovery Prozess

Im modernen Drug Discovery Prozess (7, 8) werden hundert Tausende von Substanzen einer Substanzbibliothek in sehr effektiven und automatisierbaren Bindungs- oder Enzymassays getestet. Die Synthese der Substanzbibliotheken erfolgt mittels automatisierbarer Festphasensynthese (Merrifield-Synthese als Prototyp, Polymer-gebundene Reagentien) unter Nutzung der Kombinatorischen Chemie (9). Die Erfahrungen der letzten Zeit haben dazu geführt, dass die Anzahl der Verbindungen pro Substanzbibliothek wieder rückläufig ist. Mit dem Hochdurchsatz-Screening (High Throughput Screening, HTS) können bis 100.000 Verbindungen pro Target und Tag getestet werden.

Ziel ist es, Leitsubstanzen (Leads) für das weitere Computer-unterstützte Drug Design zu finden. Beim Übergang zum Tierversuch scheitert allerdings etwa ein Drittel der Leitsubstanzen an ihrer ungeeigneten Pharmakokinetik. Auch hier kann man heute bereits virtuell vorab auswählen, zum Beispiel durch Voraussage der oralen Bioverfügbarkeit. So ist eine orale Wirksamkeit wahrscheinlich, wenn das Molekül weniger als fünf Wasserstoffbrückendonatoren, weniger als zehn Wasserstoffbrückenakzeptoren, ein relatives Molekulargewicht unter 500 und eine Lipophilie (logP) unter 5 aufweist (9). Ähnliche Voraussagen lassen sich auch für die Penetration der Blut-Hirn-Schranke machen.

Erfolgreicher Einzug der Gentechnik

Ab Mitte der siebziger Jahre hat die Gentechnik (6) in der Arzneistoffforschung ihren Siegeszug angetreten. Heute sind etwa 60 gentechnisch hergestellte Wirkstoffe zugelassen. Natürlich können nur Proteine gentechnisch hergestellt werden und damit nur Arzneistoffe, die parenteral appliziert werden müssen. Der erste gentechnisch hergestellte Arzneistoff war das Humaninsulin, das 1986 in Deutschland zugelassen wurde. Dem Insulin folgten Blutgerinnungsfaktoren, Enzyme (Glucocerebrosidase zur Substitution bei der Gaucher-Krankheit), Interferone (Behandlung von Multipler Sklerose), monoklonale Antikörper (Krebsbehandlung, Verhinderung von Organabstoßung) und Impfstoffe (Hepatitis B, Keuchhusten, Pneumokokken-Infektionen) (Tabelle 4). Gerade bei den Blutgerinnungsfaktoren lassen sich die Vorteile gentechnisch erzeugter Präparate gegenüber den aus Blutplasma isolierten nachweisen, da Erstere frei von möglichen Infektionserregern wie HIV oder Hepatitis-Viren sind.

 

Tabelle 4: Beispiele für gentechnisch hergestellte Arzneistoffe

StoffgruppeBeispiele Insuline Humaninsulin, Insulin aspart, Insulin lispro, Insulin glargin Blutgerinnungsfaktoren Faktor VII, Faktor IX Fibrinolytika Alteplase, Reteplase Wachstumshormone und -faktoren Somatotropin, Becaplermin, Tasonermin (TNF-1a) Zytokine Interferon alpha-2b, IFN beta-1a, IFN beta-1b, IFN gamma-1b Enzyme Imiglucerase, Dornase alpha Antikörper Infliximab, Etanercept

 

Der Fortschritt der Arzneistoffentwicklung wird wesentlich bestimmt werden durch 

  • den Einsatz von Computern,
  • die Auswirkungen (Nutzung) der Aufklärung des Humangenoms und
  • die Kosten.

Computer in der Arzneistoffentwicklung

Die enorme Verbesserung der Leistungsfähigkeit der Computer lässt die Frage aufkommen, inwieweit die Arzneistoffentwicklung rein virtuell erfolgen kann. Die Beantwortung führt uns folgerichtig zum Problem der Komplexität der Organismen, die uns Grenzen der rationalen Entwicklung zeigt.

Nach vorsichtigen Schätzungen interagiert ein Protein mit etwa fünf bis fünfzig unterschiedlichen Partnern. Schon bei einer Hefezelle mit etwa 6000 Proteinen ergeben sich daraus 30.000 bis 300.000 Protein-Protein-Interaktionen, die nicht einmal gleichbleibend sind, sondern vom Entwicklungstand der Zelle und von äußeren Einflüssen abhängen. Im menschlichen Genom sollen neben vielen anderen funktionell bekannten und unbekannten Proteinen 1850 Transkriptionsfaktoren, 1543 Rezeptoren, 868 Kinasen, 406 Ionenkanäle und 577 Zelladhäsionsproteine kodiert sein, um nur die Proteine zu erwähnen, die für die Arzneistoffentwicklung von unmittelbarer Bedeutung sind. Noch komplexer ist die Situation im ZNS. Die rund 109 Neuronen sind mit durchschnittlich 1000 Synapsen pro Neuron miteinander verbunden, die sich auch noch in ihrer Transmitterspezifität unterscheiden. Daraus ergeben sich nahezu unendlich viele kombinatorische Möglichkeiten.

Schon diese einfachen Überlegungen lassen erkennen, dass auch bei detaillierter Kenntnis der molekularen Bestandteile der Zellen und ihrer binären Wechselwirkungen ein wirkliches Verständnis des gesamten biologischen Systems nicht zu erlangen ist. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. An dieser Situation kann auch der Computer nichts ändern. Für ihn sind detaillierte Voraussagen über die Reaktion eines biologischen Systems genauso unmöglich wie die Vorausberechnung des internationalen Börsenkurses oder des lokalen Wetters. Die Komplexität ist einfach zu groß.

Mit der Einführung der Computertechnik hoffte man, Arzneistoffe nur am Computer entwickeln zu können, wenn die genaue dreidimensionale Struktur des Zielmoleküls (dabei handelt es sich fast ausschließlich um Proteine!) bekannt ist. Die Synthetiker sollten überflüssig werden. Diese Fortschrittsgläubigkeit hat sich inzwischen gelegt. Trotzdem spielen Computer-unterstützte Methoden bei der Arzneistoffentwicklung eine wesentliche Rolle, insbesondere bei der Strukturoptimierung. Weniger erfolgreich ist dagegen das In-silico-Screening (10) als kostengünstige Alternative oder zumindest Ergänzung zum High Throughput Screening. Voraussetzung ist die Kenntnis der dreidimensionalen Struktur des Targetmoleküls, was bei membrangebundenen Targets nur näherungsweise der Fall ist. Erfolge bei einem Computer-unterstützten Drug Design wurden dennoch bei der Entwicklung von HIV-Protease-Hemmern zur AIDS-Behandlung, von Neuraminidase-Hemmern zur Grippe-Behandlung oder mit dem vor kurzem eingeführten Krebsmittel Imatinib erzielt (11).

Was bringt die Aufklärung des Humangenoms?

Die Aufklärung des menschlichen Genoms wird die Arzneimittelentwicklung wesentlich beeinflussen. Trotz der 3,2 Milliarden Basen enthält das menschliche Genom nur 30.000 bis 40.000 Gene. Die Genprodukte, also die Gesamtzahl der von der Zelle zu einem konkreten Zeitpunkt exprimierten Proteine, kurz das Proteom, sind es aber, die die Forscher interessieren. Das menschliche Proteom soll trotz der relativ wenigen Gene durch alternatives Spleißen aus etwa 250.000 Proteinen bestehen.

Das Geschäft der kommerziellen Genomerkunder, allen voran der Genom-Company Celera, beruht auf dem Verkauf der Lizenzen für die Gendaten. Damit wollen die großen Pharmakonzerne an neue Targetstrukturen herankommen, für die dann in umfangreichen Substanzbibliotheken spezifische Liganden gesucht werden; einige davon könnten als Arzneistoffe weiterentwickelt werden. Die Anzahl der Targetstrukturen wird von derzeit etwa 500 auf 3000 bis 10.000 ansteigen, die unterschiedlichen funktionellen Gruppen angehören. Die potenziellen Targetstrukturen werden durch Validierung weiter eingeengt.

Diese Vorgaben haben einen Paradigmenwechsel in der Arzneistoffentwicklung eingeläutet, die von der empirischen Volksmedizin über die zufällige Entdeckung der Wirkung durch immer effektivere Screening-Systeme zum Drug Design an vorher bekannten Targetstrukturen führt. Bisher war zunächst der Wirkstoff bekannt; über dessen Wirkung im Organismus wurde die Targetstruktur entdeckt. Künftig geht die Entwicklung von der über das Genom ermittelten Targetstruktur aus, über die man durch effizientes Screening zu einer Leitstruktur und weiter zum Arzneistoff kommen wird - in der Anfangsphase oft ohne Kenntnis, welche pharmakologischen Wirkungen zu erwarten sind. Unter Umständen muss man dann nach einer geeigneten Krankheit für den therapeutischen Einsatz des Wirkstoffs suchen.

Auf der Basis der Genomforschung wird es auch möglich sein, die Therapie an die individuelle genetische Konstellation des Patienten anzupassen (Pharmakogenomik). Auch in Bezug auf die Pharmakokinetik (Responder/Non-Responder, genetischer Polymorphismus) rückt eine individualisierte Therapie in greifbare Nähe.

Die Kosten steigen

Die erreichte hohe Qualität der Arzneitherapie, die erhöhten Anforderungen an Sicherheit und der Mehraufwand für die Grundlagenforschung, ohne die heute kein Medikament mehr entwickelt werden kann, haben die Kosten für die Entwicklung eines neuen Medikaments drastisch ansteigen lassen: von 500 Millionen Dollar in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf gegenwärtig etwa 900 Millionen Dollar. Ein weiterer Anstieg erscheint unvermeidlich. Ökonomische Probleme entstehen zudem dadurch, dass zu wenige Innovationen auf den Markt kommen und enorme Kosten durch unvermeidbare Fehlentwicklungen auftreten (Beispiele: Prostaglandine, PDE-Hemmer als Inotropika, Renin-Inhibitoren als Antihypertonika).

Durch die enorme Zunahme neuer Targetstrukturen rollt eine Kostenwelle auf die Pharmaindustrie zu. Experten rechnen mit Entwicklungskosten eines neuen Pharmakons von 1,6 Milliarden Dollar in den nächsten Jahren. Das wird sich natürlich in den Arzneimittelpreisen widerspiegeln. Im Jahr 2000 entfielen etwa 14,5 Prozent der Kosten der Gesetzlichen Krankenversicherung auf Arzneimittel, für das nächste Jahrzehnt wird eine Steigerung bis auf circa 30 Prozent prognostiziert. Dies wird nur über eine Kostenumverteilung zu regeln sein. Arzneimittel, deren Wirkung nicht eindeutig belegt ist, und so genannte Life-Style-Pharmaka werden kaum noch über die GKV bezahlbar sein. Den Life-style-Pharmaka könnten im weitesten Sinn Arzneimittel zur Schwangerschaftsunterbrechung (Gestagen-Antagonisten wie Mifepriston), als Erektionshilfen (PDE-5-Hemmer: Sildenafil), zur Entfettung (Lipase-Hemmer: Orlistat), zur Förderung des Haarwuchses (Finasterid) sowie in vielen Fällen psychoaktive Wirkstoffe, zum Beispiel Appetitzügler, zugeordnet werden.

Dagegen können innovative Arzneimittel die Krankheitskosten reduzieren. So kann Diabetes mellitus durch gentechnisch hergestellte Insuline mit unterschiedlichen Verzögerungseffekten und moderne orale Antidiabetika effektiver behandelt werden; damit gehen diabetogene Spätschäden wie Erblindungen, Herzinfarkte, Amputation von Gliedmaßen und Schlaganfälle zurück, die heute sehr aufwendig behandelt werden. Enorme Fortschritte wurden bei der - allerdings sehr kostenintensiven - Chemotherapie onkologischer Erkrankungen erzielt, die heute dank geringerer Nebenwirkungen zunehmend ambulant erfolgen kann.

Welche Rolle heute schon die Kostenfrage spielt, kann man zum Beispiel an der Versorgung schizophrener Patienten erkennen. So erhält in Deutschland nur etwa ein Viertel der Patienten die nebenwirkungsarmen, aber teureren atypischen Neuroleptika; in den USA sind es dagegen 40 bis 70 Prozent.

Einen wesentlichen Einfluss wird auch die veränderte Altersstruktur der Bevölkerung haben. Das Sortiment muss zunehmend an das höhere Durchschnittsalter angepasst werden. Wir brauchen mehr Arzneimittel zur Behandlung von Alterserkrankungen, wobei die Prophylaxe im Vordergrund stehen sollte. Denn wenn beispielsweise das cholinerge System im ZNS einmal defekt ist (degenerative ZNS-Erkrankungen), ist keine kausale Therapie mehr möglich.

Obwohl Arzneimittel die Lebensqualität im letzten Jahrhundert entscheidend verbessert und die durchschnittliche Lebenserwartung signifikant erhöht haben, muss man immer wieder betonen, dass sie keine Wunder vollbringen und alle gesundheitlichen Sünden des bisherigen Lebens (Völlerei, Nikotin-, Alkoholabusus) durch womöglich einmalige Einnahme rückgängig machen können. Arzneimittel können den Menschen nicht unsterblich machen. Die 100-prozentige Mortalität wird uns erhalten bleiben, so ungern wir dies auch zur Kenntnis nehmen mögen.

Steigende Anforderungen an den Apotheker

Die zunehmenden biochemischen Kenntnisse, die für das Verständnis von Arzneistoffwirkung und -nebenwirkung und damit für einen optimalen Einsatz der Arzneimittel erforderlich sind, und die dramatisch steigenden Probleme bezüglich der Kosten der Arzneimittel werden bei den Ärzten das Interesse an der Zusammenarbeit mit einem Arzneimittelfachmann verstärken. Dieser Fachmann sollte der Apotheker sein. Das setzt aber voraus, dass er einer derartigen Aufgabe auch gewachsen ist und nicht zum Lagerverwalter verkommt. Ohne ständige berufsbegleitende Weiterbildung (obligatorisch, mit Zertifikat) wird der Apotheker diesem Anspruch, ein Arzneimittelfachmann zu sein, nicht gerecht werden können.

 

Literatur

  1. Ruffié, J., Sournia, J.-C., Die Seuchen in der Geschichte der Menschheit. Klett-Cotta, Stuttgart 2000.
  2. Orphan Drugs. Vorschlag für eine Verordnung (EG) des Europäischen Parlaments und des Rates über Arzneimittel für seltene Erkrankungen (Orphan Drugs) von 1998. Dt. Apoth. Ztg.138 (1998) 3428-3433.
  3. Walluf-Blume, D., Verordnung über Arzneimittel für seltene Krankheiten in Sicht. Pharm. Ztg. 144 (1999) 4114-4116.
  4. Emery, J. G., Ohlstein, E. H., Jaye, M., Therapeutic modulation of transcription factor activity. Trends Pharmacol. Sci. 22 (2001) 233-240.
  5. Rotella, D. P., Phosphodiesterase type 5 inhibitors: discovery and therapeutic utility. Drugs of the Future 26 (2001) 153-162.
  6. Dingermann, T., Gentechnik - Biotechnik. Wissenschaftl. Verlagsges. Stuttgart 1999.
  7. Pindur, U., Die Instrumentarien der aktuellen Wirkstoffentwicklung. Pharm. Ztg. 143 (1998) 1611-1619.
  8. Haese, A., Kombinatorische Chemie: Wirkstoffe aus dem Molekülbaukasten. Pharm. Ztg. 143 (1998) 465-470.
  9. Wünsch, B., Wirkstoffgewinnung im Turbotempo. Pharm. Ztg. 145, Nr. 46 (2000) 3883 - 3888. Link, A., Wirkstoffentwicklung: Maßgeschneiderte Nadeln aus dem kombinatorischen Heuhaufen. Pharm. Ztg. 146, Nr. 43 (2001) 3760-3767.
  10. Terstappen, G. C., Reggiani, A., In silico research in drug discovery. Trends Pharmacol. Sci. 22 (2001) 23-26.
  11. Hellwig, B., Imatinib - neues Wirkprinzip gegen Krebs. Dt. Apoth. Ztg. 141 (2001) 3179-3181. Wagner, U., Imatinib: Maßgeschneidert gegen Leukämie. Pharm. Ztg. 146, Nr. 42 (2001) 3688-3690.

 

Der Autor

Peter Nuhn schloss sein Studium 1960 mit dem pharmazeutischen Staatsexamen und 1964 mit der Promotion in Leipzig ab. 1970 habilitierte er sich und erhielt 1975 die Dozentur für Naturstoffchemie an der Sektion Biowissenschaften der Universität Leipzig. Seit 1980 hat er die Professur für Pharmazeutische Chemie an der Universität Halle inne. Seine Forschungsgebiete umfassen die Entwicklung von Hemmstoffen von Enzymen des Phospholipid- und des Arachidonsäure-Metabolismus sowie die Synthese und biophysikalische Charakterisierung von Phospho- und Glykolipiden.

 

Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. Peter Nuhn
Institut für Pharmazeutische Chemie
Martin-Luther-Universität
06099 Halle/Saale

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