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Auf tönernen Füßen

28.07.2003  00:00 Uhr
Reformkonsens

Auf tönernen Füßen

von Thomas Bellartz, Berlin

Mehr als nur Sommertheater: Keine zwei Wochen nach der Präsentation des Eckpunktepapiers zur Gesundheitsreform droht dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Tintenkiller. CSU-Verhandlungsführer Horst Seehofer isoliert sich innerhalb der Union selbst, während Ulla Schmidts Genossen ebenso beharrlich am Konsens kritteln.

Auf dem schnell niedergekritzelten Konsenspapier ist von vielem die Rede. Nur nicht von der Bürgerversicherung. Oder von Kopfpauschalen. Aber genau die bestimmen die gesundheitspolitische Diskussion, die dem Konsens folgte. Alle anderen Reformpunkte finden nur noch am Rande statt. Die Themen, die Apotheken betreffen, sind - einmal mehr - hintenüber gefallen.

Da fällt nur noch auf, dass das Nachrichtenmagazin Der Spiegel die Verhandlungsführer auf Seiten der Union dafür lobt, wie gut sie beispielsweise die Interessen der Apothekerlobby vertreten hätten. Während Apothekerinnen und Apotheker, ABDA, Kammern und Verbände den Untergang des deutschen Apothekenwesens befürchten, wird das Szenario außen ganz anders gedeutet.

Der Dissens um die Person Seehofer nimmt in der Union erheblich an Fahrt auf. Mit der ständigen Befürwortung der Bürgerversicherung entpuppt sich der CSU-Vize aus Bayern als trojanisches Pferd in den eigenen Reihen. Der stellvertretende Unions-Fraktionsvorsitzende stellt sowohl CSU als auch die CDU nach dem melodramatischen Zahnersatz-Schauspiel vor wenigen Wochen vor eine neuerliche Zerreißprobe: Weite Teile der Union sind gegen eine Bürgerversicherung. Seehofer weiß das. Und sympathisiert trotzdem mit den Positionen des politischen Gegners.

Immer deutlicher wird damit aber auch, auf welch tönernen Füßen der Kompromiss steht, von dem nun noch so herzlich wenige reden. Ob der sich aus dem Papier ergebende Gesetzentwurf den Bundesrat passiert, ist mittlerweile zweifelhaft. Denn nicht nur unionsgeführte Länder sehen in dem Konsenspapier zu viele Ecken, Kanten und Untiefen für die eigene Klientel. Auch SPD-geführte Länder wie Mecklenburg-Vorpommern kündigen bereits ihr Nein in der Länderkammer an.

Doch die aktuelle Situation für die Apotheken bleibt davon unberührt. Denn es gibt faktisch keine Unterstützung für die Offizinapotheke. Im Gegenteil: Änderungen am Reformpapier zu Gunsten von Apothekerinnen und Apothekern werden, wenn überhaupt, minimal sein. Ein hartes Stück Arbeit also für diejenigen, die mit den Beamten im Ministerium um die Detailformulierungen feilschen dürfen.

Stochern im Nebel

Bemerkenswert ist, dass auch Tage nach der Präsentation des überparteilichen Produkts die finanziellen Auswirkungen der strukturellen Änderungen im Apothekenwesen nicht ausgemacht werden können. Der Gegenwind, der aus vielen unterschiedlichen Richtungen der Konsensrunde ins Gesicht bläst, macht die Angelegenheit nicht einfacher. Und so wird immer klarer, dass das Papier tatsächlich nur zusammengeschustert wurde, um der Öffentlichkeit einen Konsens präsentieren zu können. Die Folgen für die Kanzlerpartei sind niederschmetternd: Die Kritik aus dem Gewerkschaftslager und dem linken Flügel der SPD wird auch aus den Ländern unterstützt.

Das könnte zwei Folgen haben. Zum einen wird an dem Konsens auf Druck aus der SPD erheblich nachgebessert - und zwar zu Gunsten von Patientinnen und Patienten. Zum anderen könnten sich die Parteilinken auch mit ihrer Forderung nach einer stärkeren Belastung der Leistungserbringer zunehmend Gehör verschaffen. Und das träfe sicherlich nicht nur die Pharmaindustrie oder die Ärzte, sondern vielleicht in einem noch größeren Maße die Apothekerschaft.

Dann aber müsste sich die Union aus dem Konsens verabschieden - Seehofer hin oder her. Ansonsten ginge auch der allerletzte Rest politischer Glaubwürdigkeit verloren. Im Bundesrat hat die Union die Mehrheit. Das hätte eine komplett neue Situation zur Folge. Dann würde die Koalition ihr „altes“ Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz (GMG) wiederbeleben und auch die Positivliste auf den Weg bringen. Die Union hatte im Vorfeld der Verhandlungen zugesagt, auf Verfahrenseinreden für einen derartigen Fall zu verzichten. Das GMG würden SPD und Grüne zerstückeln und möglichst viel am Bundesrat vorbeileiten wollen.

Notbremse Bundesrat?

Das für die Apothekerschaft geringere Übel ist nur schwer abzuschätzen. Denn das GMG sieht bekanntlich in seiner alten Fassung sowohl den Versandhandel als auch die Einführung des Mehrbesitzes ohne Limit vor. Das Preismodell stellt in der alten GMG-Fassung die Apothekerschaft deutlich schlechter. Die Annahme, diese und weitere Punkte seien zustimmungspflichtig durch den Bundesrat, mag richtig sein. Allerdings würde Rot-Grün nichts unversucht lassen, die Gesetze an den Ländern und damit an der Union vorbeizubringen - drohende Klagen hin oder her.

Das Beitragssatzsicherungsgesetz (BSSichG) hat deutlich gemacht, dass mit der Gesundheitsministerin nicht zu spaßen ist. Und die Position der Grünen gegenüber Apothekerinnen und Apothekern hat sich wenn überhaupt, dann zum Negativen geändert.

Das Szenario ist und bleibt aus dem Blickwinkel der Apotheke dramatisch - und leider auch schlecht über- und durchschaubar. Kein wirklicher Trost ist es, dass es anderen Lobbygruppen nicht besser ergeht.

Wenige Tage nach dem angeblichen Konsens löst sich derselbe in Wohlgefallen auf. Und das mitten in der parlamentarischen Sommerpause und in Sichtweite des bayerischen Landtagswahlkampfes. Nach den in aller Freundschaft inszenierten Showveranstaltungen von Seehofer und Schmidt ist unklarer denn je, ob die erste Lesung des Reformgesetzes tatsächlich am 11. September stattfinden wird. So oder so: Der Tag ist alles andere als ein gutes Omen. Top

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