Regierung will sich Zeit lassen |
24.05.2004 00:00 Uhr |
Am Montag fiel so manchem Wahlkampfmanager ein Stein vom Herzen: Der Bundeskanzler hatte im Gleichklang mit dem SPD-Chef verkündet, mit der Bürgerversicherung werde es in dieser Legislaturperiode nichts mehr.
Sukzessive war die Bürgerversicherung zum neuen Topthema der gesundheitspolitischen Reformdebatte avanciert. Zuletzt drängte sich der Eindruck auf, dass nicht nur jeder Abgeordnete, sondern auch jeder vermeintliche Gesundheitswissenschaftler und Sozialökonom mit neuen Gedankenspielen in den Wettstreit um den Job als Ulla Schmidts Lieblingsberater eingestiegen ist. Professor Dr. Karl Lauterbach füllt diese Rolle aber weiter mit Bravour aus.
Doch der Kanzler hat zwar in den Umfragen viel verloren, aber darüber nicht seine Spürnase für die eher haarigen Themen eingebüßt. Und so waren sich Gerhard Schröder und der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering am Montag schnell einig: Bei der Einführung einer Bürgerversicherung zur Finanzierung des Gesundheitswesens wollen die beiden nicht hastig vorgehen. „Ich glaube nicht, dass es in dieser Legislaturperiode schon zu einer Realisierung der Bürgerversicherung kommt“, sagte Müntefering nach einer SPD-Präsidiumssitzung am Montag in Berlin. Damit dürfte der markige SPD-Vorsitzende ohnehin Recht haben, egal, wie die partei- und koalitionsinterne Diskussion ausgeht. Denn ein Systemwechsel dieser Größenordnung funktioniert nur mit einer breiten Mehrheit in Bundestag und Bundesrat. An der Opposition und damit an der Union kommt die SPD in dieser Frage jedenfalls in den nächsten Monaten nicht mehr vorbei.
Kurz zuvor hatte der stellvertretende Regierungssprecher Dr. Thomas Steg in der Bundespressekonferenz betont: „Es gibt aktuell keinen Entscheidungsbedarf, keinen Entscheidungsdruck. Es gibt damit auch keinen festgelegten Fahrplan für gesetzgeberische Verfahren.“ In den vergangenen Tagen war das Thema auch deswegen hochgekocht, weil die Fraktionsvorsitzenden der SPD aus Bund und Ländern die Bürgerversicherung zum Wahlkampfthema für die nächste Bundestagswahl machen wollen. Die Bürgerversicherung solle als Alternative zum Kopfpauschalen-Modell der Union der Mittelpunkt für eine Richtungswahl werden, hieß es. Auf Nachfrage erklärte Steg, dass sich die Regierung diesbezüglich noch nicht festgelegt habe.“ Er widersprach dem Eindruck, es gebe darüber in den Reihen der Bundesregierung Streit. „Ein Dissens ist nicht festzustellen“, so Steg weiter. Nach einem Bericht des Nachrichtenmagazins „Spiegel“ ist Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) partout gegen die Einführung einer Bürgerversicherung. Auch innerhalb des Gesundheitsministeriums und im Bundeskanzleramt soll es dem Vernehmen nach Vorbehalte geben.
Bei der Bürgerversicherung sollen im Prinzip alle Bürger auf alle Einkünfte - also auch auf Mieten oder Kapitalerträge - Beiträge zur Krankenkasse entrichten. Die Union schlägt dagegen eine einheitliche „Gesundheitsprämie“ vor, hat sich darüber aber wegen der offenen Finanzierung noch nicht mit der CSU geeinigt. Müntefering geht davon aus, dass im Wahlkampf 2006 „zwei unterschiedliche Positionen aufeinander stoßen». Die Wähler sollten dann darüber abstimmen.
Der SPD-Chef kündigte an, „Eckpunkte“ zur Bürgerversicherung werde die SPD-interne Arbeitsgruppe im Herbst vorlegen. Was er bisher davon wisse, sei „sehr tragfähig“: Private Krankenversicherungen werde es weiter geben. Abwartender gab sich die unterdessen die Vorsitzende der Arbeitsgruppe, Andrea Nahles, die auch SPD-Präsidiumsmitglied ist. Sie wolle zunächst die Ergebnisse der Arbeitsgruppe abwarten.
Für die Grünen, die sich zuletzt vehement für den Einstieg in die Bürgerversicherung eingesetzt haben, ist die Vorlage eines Gesetzentwurfs bis zum Ende der Legislaturperiode 2006 noch nicht entschieden. Wichtig sei aber, dass in die Debatte über die neue Form der Krankenversicherung jetzt Geschwindigkeit komme, sagte Grünen-Chef Reinhard Bütikofer. Erfreulich sei, dass die Grünen dabei Rückhalt der SPD erhielten.
Der nordrhein-westfälische Wirtschafts- und Arbeitsminister Harald Schartau (SPD) hat bei der von Rot-Grün geplanten Bürgerversicherung vor übertriebener Eile gewarnt. „Es sind noch viele Fragen zu klären. Es ist wichtig, genau zu formulieren, was man mit der Bürgerversicherung will“, sagte Schartau der „Financial Times Deutschland“. Es dürfe nicht nur über mehr Geld für die Krankenkassen diskutiert werden. „Wir müssen weiter über Kostensenkungen reden.“
Steg warnte davor, die Gesundheitsreform nur von der Finanzierungsseite anzugehen. Es sei auch nötig, auf der Ausgabenseite strukturelle Reformen fortzusetzen. „Wir brauchen mehr Wettbewerb, insbesondere bei Leistungsanbietern im Bereich der Apotheken und der Ärzte.“ Der Kanzler habe wegen der solidarischen Komponente eine „Präferenz“ für die Bürgerversicherung. Es gebe aber noch „eine Reihe von praktischen und juristischen Fragen, die noch beantwortet werden müssen“. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) hat sich nach Angaben ihres Hauses bislang nicht auf einen Zeitplan festgelegt.
Für die FDP erklärte Daniel Bahr, dass die Einführung einer Bürgerversicherung die Probleme durch die Altersentwicklung in Deutschland verschärfen würde. „Mehrzahler heute führen morgen zu noch mehr Empfängern. Die Bürgerversicherung ist ein Angriff auf Generationengerechtigkeit“, so Bahr. Mit der Bürgerversicherung werde der Weg in die Staatsmedizin fortgesetzt. Die Folge würden Rationierung und Wartelisten sein. Nötig sei ein Systemwechsel in der Gesundheitspolitik und nicht eine Ausweitung des Umlageverfahrens.
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