Versandhandel über Kassen kartellrechtlich bedenklich |
06.05.2002 00:00 Uhr |
Interview
Das deutsche Gesundheitswesen steht vor einer grundsätzlichen Umstrukturierung. Alle werden betroffen sein, neben den Apotheken unter anderem auch der Pharmazeutische Großhandel.
Es ist der Wille von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, den Versandhandel mit Arzneimitteln zuzulassen. In diesem Zusammenhang wird häufig die USA als Vorbild genannt. Ob sie wirklich Vorbild sein kann, haben wir in einem Gespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden der Phoenix Pharmahandel AG & Co KG, Dr. Bernd Scheifele gefragt.
PZ: Herr Dr. Scheifele, Sie haben sich erst kürzlich in den USA über das dortige Gesundheitswesen informiert. Wie schätzen Sie die Vergleichbarkeit des deutschen mit dem amerikanischen System ein? Welche Gefahren sehen Sie bei einer Umstrukturierung auf den Großhandel zukommen, insbesondere, wenn der Versandhandel eingeführt werden würde?
Scheifele: Bevor Vergleiche mit den USA angestellt werden, sollte man den Versandhandel in Europa betrachten. In Europa gibt es drei Länder, Holland, Schweiz und in Anfängen Schweden, in denen der Versandhandel zugelassen ist. Schweden kann für die deutsche Betrachtung vernachlässigt werden. Dort gibt es eine staatliche Apothekenkette. Wenn diese zusätzlich Arzneimittel versendet, kann das für uns nicht als Modell dienen. In den Niederlanden und in der Schweiz spielt der Versandhandel in den lokalen Märkten keine Rolle. Der Versandhandel, den DocMorris von den Niederlanden aus betreibt, geht zu 90 bis 95 Prozent nach Deutschland und findet nur bei ganz wenigen Produkten, vor allem bei Antibabypillen, statt.
Nach unserer Einschätzung ersetzt der Versandhandel von DocMorris teilweise den grenzüberschreitenden Arzneimitteleinkauf, der im Grenzgebiet Deutschland/Holland bisher schon statt gefunden hat. Hier werden nur Preisunterschiede ausgenutzt. Der Versandhandel in den Niederlanden hat für das holländische System keinen Mehrwert gebracht und spielt deshalb dort auch keine Rolle.
In der Schweiz ist es etwas anders. Der Versandhandel ist auf Grund der kantonalen Organisation der Schweiz nur in einigen Kantonen zugelassen. Das wird meistens in der Diskussion übersehen. Es gibt drei Anbieter, deren Marktanteil in der Schweiz allerdings unter einem Prozent liegt. Alle drei Anbieter schreiben rote Zahlen. Es werden also keine Gewinne erwirtschaftet. Trotz Versandhandel mit günstigeren Preisen und Wegfall der Patientenzuzahlung, ist der Arzneimittelmarkt in der Schweiz deutlicher gewachsen als bei uns. Insbesondere haben die Dispensierärzte mit 18 Prozent Steigerung zu dem Wachstum beigetragen. Der Versandhandel hat also in der Schweiz weder zu Einsparungen noch zur Wachstumsdämpfung geführt. Fazit: In Europa funktioniert der Versandhandel nicht.
PZ: Wie bewerten Sie Verhältnisse in den USA bezüglich Versandhandel? Hat er dort eine größerer Bedeutung? Und können Vergleiche mit Deutschland gezogen werden?
Scheifele: In den USA ist das System grundlegend anders. Dort entstand der Versandhandel nicht, wie immer vermutet, wegen der geografischen Begebenheiten, sondern aus preislichen und systemimmanenten Gründen. Derjenige, der über Versandhandel Medikamente ordert, spart Rezeptgebühren, denn über den Versandhandel kann ein Dreimonatsbedarf bezogen werden, in den Apotheken hingegen nur ein Einmonatsbedarf. Der Patient spart so zwei Rezeptgebühren. Ferner spart der Arbeitgeber, der in den USA meistens die Krankenversicherung seiner Mitarbeiter zahlt, zwei Abrechnungsgebühren. Versandhandel in den USA hat deswegen an Bedeutung gewonnen, weil er von den Bezahlern im Gesundheitswesen, also von den Arbeitgebern, entweder selbst betrieben oder über Dritte, so genannte Pharmaceutical Benefit Manager (PBM), in Auftrag gegeben wird. Geschäftsprinzip ist eine strenge und enge Listenmedizin. Nur vom Arbeitgeber oder dem von ihm beauftragten PBM gelistete Arzneimittel können auf dem Versandweg bestellt und erstattet werden.
Durch die enge Beschränkung der erstattungsfähigen Arzneimittel können die PBM den Marktanteil gelisteter Produkte gezielt steigern und erwirtschaften sehr hohe Naturalrabatte von der Pharmaindustrie. Klar, dass bei einem solchen System der PBM ein hohes Interesse an steigenden Versandhandelsumsätzen hat. Je höher der Umsatz, desto höher sein Naturalrabatt und der Gewinn. Auch dies ist ein Grund für die stark steigenden Arzneimittelumsätze in den USA.
Als dritter Punkt ist zu nennen, dass der Versandhandel die ärztliche Therapiefreiheit stark tangiert. Liegt das Rezept dem Versandhandel vor, wird regelmäßig über eigene Callcenter der Arzt angesprochen, mit dem Ziel, das Präparat auf ein gelistetes mit hohem Naturalrabatt zu switchen.
PZ: Würde dieses amerikanische System nach Deutschland übertragen, wird sicher die Existenz des Pharmazeutischen Großhandels massiv bedroht?
Scheifele: Nein, soweit würde ich nicht gehen. Pharmazeutische Großhändler werden immer existieren. Sie können sich gut anpassen, auch wenn dieser Umsatz an ihnen vorbeigeht. Übrigens betreibt kein amerikanischer Pharmagroßhändler selbst Versandhandel, genauso wie in der Schweiz. Teilweise beliefern sie aber die Versandhändler.
PZ: Eine Einführung des Versandhandels in Deutschland wird doch zu einer immanenten Systemveränderung führen, oder sehen Sie das anders?
Scheifele: Versandhandel bedeutet sicher eine massive Systemveränderung. Ich glaube allerdings auch, dass die Krankenkassen nach der Bundestagswahl diese Systemveränderung wollen. Es geht aus meiner Sicht vor allem um mehr Macht. Die Krankenkassen plädieren für den Versandhandel, um vom Payer zum Player zu werden. Sie wollen also nicht mehr nur die Bezahlfunktion übernehmen, sondern auch Leistungsanbieter werden. Der Versandhandel dient dabei als klassisches Einstiegsinstrument, weil er relativ leicht entweder selbst oder über dritte zu organisieren ist, im Gegensatz zum Aufbau eigener Arztpraxen oder Kliniken. Ich glaube, dass die Krankenkassen den Versandhandel fördern, um in Deutschland diese Systemveränderung herbeizuführen.
PZ: Welche Konsequenz hat eine solche Systemveränderung für Sie als Großhändler?
Scheifele: Die Großhändler würden sicher die Konsequenzen, ähnlich wie die öffentlichen Apotheken, deutlich spüren, wenn die Arzneimittel über den Versandhandel - aus welchen Gründen auch immer - preisgünstiger angeboten werden. würde der Wettbewerb aller Vertriebskanäle jedoch mit gleichlangen Spießen ausgetragen, hätte aus meiner Sicht der Versandhandel in Deutschland keine Chance. Holland und die Schweiz beweisen das. Nach wie vor ist die Abgabe der Arzneimittel über die Apotheke der effizienteste und sicherste Weg für den Patienten. Versandhandel hat nur dann eine Chance, wenn die Preisbildung politisch subventioniert wird. Wer glaubt, dass Versandhandel sich nur auf grund von Convenience durchsetzt, vertritt eine abwegige These.
PZ: Nach Ansicht der Gesundheitsministerin soll der Versandhandel qualitätsgesichert, schnell und bequem sein. Die ABDA hat mit ihrem Konzept einer elektronischen Vorbestellung, Pick up in der Apotheke oder eines Zustellservice durch pharmazeutisches Personal ein gleichwertiges System dagegen gestellt, das unter Beibehaltung der bisherigen Strukturen alle Bedingungen der Ministerin erfüllt. Glauben Sie, dass damit der Versandhandel politisch verhindert werden kann?
Scheifele: Es ist in Deutschland zurzeit schwierig abzuschätzen, welchen Weg man in der Gesundheitspolitik einschlagen will. Von Seiten der Großhändler wird das ABDA-Konzept unterstützt. Ich halte es für die konsequente Weiterentwicklung unseres Systems und auch die richtige Antwort auf die Forderung, dem Verbraucher mehr Convenience anzubieten. Sollte es allerdings der politische Wille sein, den Kassen über Versandhandel die Möglichkeit einzuräumen, einen Teil der Arzneimittelverteilung selbst in die Hand zu nehmen, dann stößt das ABDA-Konzept schnell an seine Grenzen. Die entscheidende Frage ist also, was will die Politik? Und ich bezweifele, dass es politisch gewollt ist, dem Patienten mehr Bequemlichkeit anzubieten, sondern, vielmehr die Macht der Kassen auszubauen.
PZ: Versandhandel bedeutet aus meiner Sicht auch Änderung der Arzneimittelpreisverordnung und Wegfall des Fremd- und Mehrbesitzes. Sehen Sie das genauso?
Scheifele: Der Versandhandel wird eine Änderung der Arzneimittelpreisverordnung zur Folge haben, und auch ein Einstieg in Fremd- und Mehrbesitz sein. Pharmagroßhandel und Apothekerschaft werden Machtverschiebungen im Arzneimittelvertrieb, die aus der Übernahme von Distributionsfunktionen durch die Krankenkassen resultieren, entschlossen begegnen, auch mit juristischen Mitteln. Der GKV, einem gesetzlich bedingten Nachfragemonopol, sollte es nicht ermöglicht werden, das System soweit ausnutzen zu können, dass sie gleichzeitig zur Leistungsanbieterin werden kann. Das ist aus meiner Sicht kartellrechtlich in Europa ausgesprochen problematisch. In den USA hingegen gibt es kein gesetzlich geregeltes Nachfragemonopol. Der Markt ist dort ausschließlich privat organisiert.
PZ: In der Diskussion ist auch die Freigabe der Preise von Selbstmedikationsarzneimitteln. Wie bewerten Sie diesen Vorschlag?
Scheifele: Für mich ist die OTC-Liberalisierung ein Modeargument im Rahmen der Neoliberalisierung in allen Lebensbereichen. Ob solche Bestrebungen unserer Gesellschaft generell Nutzen bringen, bezweifle ich. Privatisierungen im kommunalen Bereich von Verkehrsbetrieben bis hin zu Schlachthöfen, haben uns keine besseren Leistungen gebracht, sondern nur mehr Kosten und teuere Geschäftsführerposten für ausrangierte Politiker.
Die OTC-Preisliberalisierung ist mit dem Gedanken der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland nur schwer vereinbar. Preisliberalisierung bedeutet nicht nur, dass Preise sinken, sondern auch steigen können, und zwar lokal unterschiedlich. In den USA variiert der Preis eines Präparats sehr stark, was sicher nicht sozial gerecht ist. Der Preis eines Medikaments hängt davon ab, ob die Apotheke ein örtliches Quasimonopol hat oder einem harten Wettbewerb unterworfen ist. Das hat übrigens dazu geführt, dass in einigen US-Staaten der einheitliche Arzneimittelabgabepreis politisch gefordert wird.
PZ: Wie sehen Sie in einem solchen veränderten Markt die Rolle des Großhandels in der Zukunft?
Scheifele: Das Thema sollte emotionsfrei diskutiert werden. Der Pharmagroßhandel muss Gewinne erzielen. Das heißt, er wird sich einer liberaleren Marktstruktur anpassen. Das könnte ähnlich aussehen wie in England oder Holland, mit Abstrichen auch wie in den USA. Die liberaleren Vertriebssysteme werden zu einer neuen Kundenstruktur im Pharmagroßhandel führen. Wenn er bisher ausschließlich Apotheken als Kunden hatte, wird sich das ändern. Die volkswirtschaftliche unabdingbare Verteilungsfunktion im Rahmen der Arzneimittelversorgung, die der Pharmagroßhandel ausübt, bleibt die gleiche. Die Frage ist nur, was für diese Leistung künftig bezahlt wird. Die Branche Pharmagroßhandel als solche wird sicher nicht in Frage gestellt.
PZ: Wir sprachen schon über die Arzneimittelpreisverordnung. Wie sieht Ihr Wunsch nach einer Weiterentwicklung der Arzneimittelpreisverordnung aus?
Scheifele: Ich halte den Vorschlag von ABDA und Phagro mit einer Drehung für folgerichtig und sinnvoll. Ich würde es begrüßen, wenn er umgesetzt würde. Ich befürchte allerdings, dass er nicht umsetzbar ist, wenn die politische Unterstützung fehlt. Mit Sorge sehe ich, dass sich die Polarisierung innerhalb der Pharmazeutischen Industrie deutlich verschärft. Dies macht einen Kompromiss in der Spannendiskussion sehr schwierig. Die Arzneimittelpreisverordnung ist eine klassische deutsche Kompromisslösung, die große wie kleine Marktteilnehmer sowie den Mittelstand in ein Boot geholt hat. Wenn jeder jedoch nur isoliert seinen eigenen Profit sieht, macht das die Findung einer Spannenregelung, die alle befriedigt, sehr schwierig.
PZ: Die ABDA ist mit der "Initiative Pro Apotheke" in die Offensive gegangen. Alle Betroffenen sind aufgefordert, sich an dieser Initiative zu beteiligen. Werden Sie diese Initiative unterstützen?
Scheifele: Wir unterstützen jede Aktion, die das Thema Versandhandel neutraler darstellt und deutlich macht, was die Konsequenzen des Versandhandels sind. Bei der "Initiative Pro Apotheke" wäre es schön gewesen, wenn die Partner, die am Vertriebsweg beteiligt sind, früher einbezogen worden wären. Das hat zwar zu Irritationen geführt, die Initiative ist aber richtig. Der Phagro setzt zum Thema Versandhandel im Frühsommer, also vor der Bundestagswahl, zusätzlich noch einmal eigene Akzente. Der Großhandel wird seine Position deutlich machen und auf die Gefahren und Risiken für das Gesamtsystem, insbesondere aus volkswirtschaftlicher Sicht, hinweisen.
PZ: Wie bewerten Sie die augenblickliche Gesundheitspolitik. Führt sie nicht in die falsche Richtung?
Scheifele: Ich glaube, dass auf die Frage, was im Gesundheitswesen ansteht, klare Antworten gefunden werden können. Alle Experten sind sich darin weitgehend einig. Aber ist man mutig genug, vor der Wahl auf die Bevölkerung zuzugehen und es dann nach der Wahl umzusetzen? Wir brauchen mehr Transparenz im Gesundheitssystem, denn Transparenz erzeugt Kostendruck.
Wir brauchen ein System, wo der Patient nach jedem Arzt- und Krankenhausbesuch persönlich eine Rechnung erhält, aus der Behandlung und Kosten ersichtlich werden. Denn nur wenn der Versicherte weiß, was es kostet, kann man von ihm auch Kostenbewusstsein erwarten. Die Selbstbeteiligung befindet sich in Deutschland im internationalen und europäischen Vergleich auf sehr niedrigem Niveau. Sie muss in Deutschland bei Arzneimitteln, beim Arzt- und Klinikbesuch spürbar erhöht werden. Das führt zur Kostendisziplin beim Versicherten.
In den USA ist das Copayment deutlich höher als in Deutschland. Eine höhere Selbstbeteiligung übernimmt nicht nur Finanzierungsfunktion sondern auch Steuerungsfunktion. Auch sollte das Thema Krankenhaus weiterhin diskutiert werden. Bettendichte und Belegzeiten haben sich zwar deutlich verbessert, doch dieser Weg muss jetzt konsequent weiter gegangen werden.
Der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen muss zunehmen, damit die Kassen auch Anreize haben, Geld einzusparen und niedere Tarife anzubieten oder sich auf gewisse Bereiche zu spezialisieren. Vollservice auf staatlichen Tarif kann es nicht geben. Das ist nicht mehr finanzierbar. Der Leistungskatalog muss in allen Bereichen ausgedünnt werden. Was medizinisch notwendig ist, wird bezahlt; was dem Bereich Wellness zuzuordnen ist, ist privat zu bezahlen oder zu versichern. Nur so kann das Gesundheitswesen auch in der Zukunft finanziert werden.
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