Blumenkohl statt Tabletten |
28.02.2000 00:00 Uhr |
Politik
NAHRUNGSERGÄNZUNGSMITTEL
Egal, ob Weizenstroh oder Apfelessig - die Phantasie der Industrie kennt keine Grenzen. Neben manchem Enfant terrible tummeln sich auch brauchbare Produkte auf dem Markt. Dabei fällt eine kritische Bewertung nicht nur Kunden, sondern auch Experten schwer. Noch immer ist der Begriff Nahrungsergänzungsmittel in Deutschland gesetzlich nicht definiert.
Erst im Oktober letzten Jahres bremste die Europäische Kommission die Pläne des Bundesgesundheitsministeriums, eine entsprechende Rechtsverordnung zu erlassen. Deutschland behindere den freien Warenverkehr, indem es Präparate mit hohen Vitamingehalten als Arzneimittel einstufe und damit Nahrungsergänzungsmittel, die in anderen EU-Mitgliedsländern vertrieben werden, vom deutschen Markt fernhalte.
Dennoch sehen nicht nur Behörden, sondern auch Hersteller, Großhandel und Apotheker dringenden Handlungsbedarf. Nur per Gesetz ließen sich die schwarzen Schafe finden, die den Ruf sinnvoller Produkte gefährden. "Dieser Wildwuchs muss aufhören, sonst lassen sich Nahrungsergänzungsmittel langfristig nicht auf dem Markt etablieren", warnte der Lebensmittelwissenschaftler Dr. Andreas Hahn von der Universität Hannover auf einem Seminar der Arbeitsgemeinschaft für Pharmazeutische Verfahrenstechnik (APV) in Würzburg.
Bislang wird der Begriff Nahrungsergänzungsmittel (NEM) nur in § 25 der Apothekenbetriebsordnung sowie § 1 der Nährwert-Kennzeichnungsverordnung genannt. Da die gesetzliche Definition fehlt, tun sich Juristen und Behörden schwer, NEM von diätetischen Lebensmitteln und Arzneimitteln abzugrenzen. Eine Vielzahl verwaltungs- und wettbewerbsrechtlicher Verfahren sind die Folge.
Eine weitere Fußangel: Mineralstoffe, Spurenelemente sowie Vitamin A und D sind laut Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz (LMBG) den Zusatzstoffen gleichgestellt und unterliegen einem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Hersteller dürfen Präparate, die diese Stoffe enthalten, nur herstellen und vertreiben, wenn das durch Gesetz, Verordnung oder Verwaltungsakt ausdrücklich zugelassen ist. Zwar ergingen für die Einfuhr aus dem europäischen Ausland zahlreiche Allgemeinverfügungen (§ 47a LMBG), für deutsche Produkte muss der Hersteller jedoch eine Einzelausnahme beantragen (§ 37 LMBG). Berechtigte Kritik deutscher Hersteller: Inländische Erzeugnisse werden in der Bundesrepublik diskriminiert.
Auf Grund der unklaren Vorschriften werde der Markt derzeit mit einer unüberschaubaren Flut von Produkten überflutet. "Wer die beste Werbung macht, verkauft am besten seine Produkte", kritisierte APV-Präsident Dr. Günther Hanke. Zudem entschieden Modeerscheinungen und die teils unkritische Berichterstattung der Presse über den Erfolg der Waren. Dem Apotheker sei anzuraten, nur Produkte seriöser Firmen anzubieten, da hier mit großer Wahrscheinlichkeit viele Rechtsanwälte bereits die Verkehrsfähigkeit überprüft hätten.
Seriöse NEM sollten nur anerkannte Nährstoffe in Dosierungen innerhalb der üblichen Zufuhrempfehlungen enthalten, forderte Professor Dr. Burckhard Viell vom Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin (BgVV). Zudem sei ein NEM nur dann empfehlenswert, wenn Personen tatsächlich eine entsprechenden Unterversorgung hätten. Die Deutschen seien bis auf Jod und Eisen allgemein gut mit Vitaminen und Spurenelementen versorgt.
"Wir wollen verhindern, dass unsere Lebensmittel in Pillen zerlegt werden, und sie statt Blumenkohl nur noch Tabletten schlucken", erklärte Viell die kritische Position seines Instituts. NEM beeinflussten das Ernährungsverhalten. Schließlich sei es bequemer, Pillen einzunehmen, statt auf eine ausgewogene Ernährung zu achten. Für frische Lebensmittel gebe es die überzeugendsten Studiendaten.
Eine wesentliche Aufgabe des BgVV sieht Viell darin, Verbraucher vor Stoffen zu schützen, über deren Wirkung bislang kaum valide Daten vorliegen. Zudem müssten gerade für Spurenelemente mit geringer therapeutischer Breite per Gesetz Obergrenzen festgesetzt werden. "67 Prozent der Präparate, deren Vertrieb das BgVV ablehnt, sind zu hoch dosiert", berichtete Viell.
Entscheidend sei nicht, was mit gesunder Ernährung erreicht werden könnte, sondern tatsächlich erreicht wird, konterte Hahn. Er sprach sich dafür aus, ernährungsbedingte Risiken lieber durch Supplemente zu verhindern, als sie gar nicht zu beachten. Er bedauerte aber, dass die Diskussion um den Sinn der NEM noch immer viel zu pauschal und unwissenschaftlich geführt werde.
In einer Abschlussdiskussion waren sich sowohl die Referenten als auch die Seminarteilnehmer darüber einig, dass der Begriff Nahrungsergänzungsmittel dringend auf eine gesetzliche Basis gestellt werden muss.
Was sind eigentlich Nahrungsergänzungsmittel?
Die Teilnehmer des Würzburger APV-Seminars haben den Begriff wie folgt eingegrenzt:
NEM zählen zu den Lebensmittel. Sie enthalten definierte ernährungsphysiologisch
wichtige Nahrungsinhaltsstoffe und dienen der gezielten Zufuhr und Ergänzung bei
unausgewogener Ernährung. An NEM sind entsprechende Anforderungen sowohl bezüglich
Qualität und Unbedenklichkeit als auch ernährungsphysiologische Sinnhaftigkeit zu
stellen. Diese drei Kriterien sollten wie bei den Medizinprodukten in einer freiwilligen
Selbstkontrolle von einem Sachverständigen bewertet und dann auf der Packung
gekennzeichnet werden. Eine Nummer soll Rückschlüsse auf diesen Sachverständigen
erlauben.
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